K. blieb mit etwas erstauntem Gesicht
zurück, Olga lachte über ihn, zog ihn zur Ofenbank, sie schien wirklich glücklich zu
sein darüber, dass sie jetzt mit ihm allein hier sitzen konnte, aber es war ein
friedliches Glück, von Eifersucht war es gewiss nicht getrübt. Und gerade dieses
Fernsein von Eifersucht und daher auch von jeglicher Strenge tat K. wohl; gern sah er in
diese blauen, nicht lockenden, nicht herrischen, sondern schüchtern ruhenden, schüchtern
standhaltenden Augen. Es war, als hätten ihn für alles dieses hier die Warnungen Friedas
und der Wirtin nicht empfänglicher, aber aufmerksamer und findiger gemacht. Und er lachte
mit Olga, als diese sich wunderte, warum er gerade Amalia gutmütig genannt habe, Amalia
sei mancherlei, nur gutmütig sei sie eigentlich nicht. Worauf K. erklärte, das Lob habe
natürlich ihr, Olga, gegolten, aber Amalia sei so herrisch, dass sie sich nicht nur alles
aneigne, was in ihrer Gegenwart gesprochen werde, sondern dass man ihr auch freiwillig
alles zuteile. »Das ist wahr«, sagte Olga, ernster werdend, »wahrer, als du glaubst.
Amalia ist jünger als ich, jünger auch als Barnabas, aber sie ist es, die in der Familie
entscheidet, im Guten und im Bösen; freilich, sie trägt es auch mehr als alle, das Gute
wie das Böse.« K. hielt das für übertrieben, eben hatte doch Amalia gesagt, dass sie
sich zum Beispiel um des Bruders Angelegenheiten nicht kümmere, Olga dagegen alles
darüber wisse. »Wie soll ich es erklären?« sagte Olga. »Amalia kümmert sich weder um
Barnabas noch um mich; sie kümmert sich eigentlich um niemanden außer um die Eltern, sie
pflegt sie bei Tag und Nacht, jetzt hat sie wieder nach ihren Wünschen gefragt und ist in
die Küche für sie kochen gegangen, hat sich ihretwegen überwunden aufzustehen, denn sie
ist schon seit Mittag krank und lag hier auf der Bank. Aber obwohl sie sich nicht um uns
kümmert, sind wir von ihr abhängig, so, wie wenn sie die Älteste wäre, und wenn sie
uns in unseren Dingen riete, würden wir ihr gewiss folgen, aber sie tut es nicht, wir
sind ihr fremd. du hast doch viel Menschenerfahrung, du kommst aus der Fremde; scheint sie
dir nicht auch besonders klug?« »Besonders unglücklich scheint sie mir«, sagte
K., »aber wie stimmt es mit eurem Respekt vor ihr überein, dass zum Beispiel Barnabas
diese Botendienste tut, die Amalia missbilligt, vielleicht sogar missachtet?«
»Wenn er wüsste, was er sonst tun sollte, er würde den Botendienst, der ihn gar nicht
befriedigt, so fort verlassen.« »Ist er denn nicht ausgelernter Schuster?«
fragte K. »Gewiss«, sagte Olga, »er arbeitet ja auch nebenbei für Brunswick und
hätte, wenn er wollte, Tag und Nacht Arbeit und reichlichen Verdienst.« »Nun
also«, sagte K., »dann hätte er doch einen Ersatz für den Botendienst.« »Für
den Botendienst?« fragte Olga erstaunt. »Hat er ihn denn des Verdienstes halber
übernommen?« »Mag sein«, sagte K., »aber du erwähntest doch, dass er ihn
nicht befriedigt.« »Er befriedigt ihn nicht, und aus verschiedenen Gründen«,
sagte Olga, »aber es ist doch Schlossdienst, immerhin eine Art Schlossdienst, so sollte
man wenigstens glauben.« »Wie«, sagte K., »sogar darin seid ihr im Zweifel?«
»Nun«, sagte Olga, »eigentlich nicht; Barnabas geht in die Kanzleien, verkehrt
mit den Dienern wie ihresgleichen, sieht von der Ferne auch einzelne Beamte, bekommt
verhältnismäßig wichtige Briefe, ja sogar mündlich auszurichtende Botschaften
anvertraut, das ist doch Recht viel, und wir können stolz darauf sein, wie viel er in so
jungen Jahren schon erreicht hat.« K. nickte, an die Heimkehr dachte er jetzt nicht. »Er
hat auch eine eigene Livree?« fragte er. »du meinst die Jacke?« sagte Olga. »Nein, die
hat ihm Amalia gemacht, noch ehe er Bote war. Aber du näherst dich dem wunden Punkt. Er
hätte schon längst nicht eine Livree, die es im Schloss nicht gibt, aber einen Anzug vom
Amt bekommen sollen, es ist ihm auch zugesichert worden, aber in dieser Hinsicht ist man
im Schloss sehr langsam, und das Schlimme ist, dass man niemals weiß, was diese
Langsamkeit bedeutet; sie kann bedeuten, dass die Sache im Amtsgang ist, sie kann aber
auch bedeuten, dass der Amtsgang noch gar nicht begonnen hat, dass man also zum Beispiel
Barnabas immer noch erst erproben will, sie kann aber schließlich auch bedeuten, dass der
Amtsgang schon beendet ist, man aus irgendwelchen Gründen die Zusicherung zurückgezogen
hat und Barnabas den Anzug niemals bekommt. Genaueres kann man darüber nicht erfahren
oder erst nach langer Zeit. Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche
Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen.« »Das ist eine gute Beobachtung«,
sagte K., er nahm es noch ernster als Olga, »eine gute Beobachtung, die Entscheidungen
mögen noch andere Eigenschaften mit Mädchen gemeinsam haben.« »Vielleicht«,
sagte Olga. »Ich weiß freilich nicht, wie du es meinst. Vielleicht meinst du es gar
lobend. Aber was das Amtskleid betrifft, so ist dies eben eine der Sorgen des Barnabas,
und da wir die Sorgen gemeinsam haben, auch meine. Warum bekommt er kein Amtskleid, fragen
wir uns vergebens. Nun ist aber diese ganze Sache nicht so einfach. Die Beamten zum
Beispiel scheinen überhaupt kein Amtskleid zu haben; soviel wir hier wissen und soviel
Barnabas erzählt, gehen die Beamten in gewöhnlichen, allerdings schönen Kleidern herum.
Übrigens hast du ja Klamm gesehen. Nun, ein Beamter, auch ein Beamter niedrigster
Kategorie, ist natürlich Barnabas nicht und versteigt sich nicht dazu, es sein zu wollen.
Aber auch höhere Diener, die man hier im Dorf freilich überhaupt nicht zu sehen bekommt,
haben nach des Barnabas Bericht keine Amtsanzüge; das ist ein gewisser Trost, könnte man
von vornherein meinen, aber er ist trügerisch, denn ist Barnabas ein höherer Diener?
Nein, wenn man ihm noch so sehr geneigt ist, das kann man nicht sagen, ein höherer Diener
ist er nicht, schon dass er ins Dorf kommt, ja sogar hier wohnt, ist ein Gegenbeweis, die
höheren Diener sind noch zurückhaltender als die Beamten, vielleicht mit Recht,
vielleicht sind sie sogar höher als manche Beamte; einiges spricht dafür: sie arbeiten
weniger, und es soll nach Barnabas ein wunderbarer Anblick sein, diese auserlesen großen,
starken Männer langsam durch die Korridore gehen zu sehen, Barnabas schleicht an ihnen
immer herum. Kurz, es kann keine Rede davon sein, dass Barnabas ein höherer Diener ist.
Also könnte er einer der niedrigen Dienerschaft sein, aber diese haben eben Amtsanzüge,
wenigstens soweit sie ins Dorf hinunterkommen, es ist keine eigentliche Livree, es gibt
auch viele Verschiedenheiten, aber immerhin erkennt man sofort an den Kleidern den Diener
aus dem Schloss, du hast ja solche Leute im Herrenhof gesehen. Das auffallendste an den
Kleidern ist, dass sie meistens eng anliegen, ein Bauer oder ein Handwerker könnte ein
solches Kleid nicht gebrauchen. Nun, dieses Kleid hat also Barnabas nicht; das ist nicht
nur etwa beschämend oder entwürdigend, das könnte man ertragen, aber es lässt,
besonders in trüben Stunden und manchmal, nicht zu selten, haben wir solche,
Barnabas und ich an allem zweifeln. Ist es überhaupt Schlossdienst, was Barnabas
tut, fragen wir dann; gewiss, er geht in die Kanzleien, aber sind die Kanzleien das
eigentliche Schloss? Und selbst wenn Kanzleien zum Schloss gehören, sind es die
Kanzleien, welche Barnabas betreten darf? Er kommt in Kanzleien; aber es ist doch nur ein
Teil aller, dann sind Barrieren, und hinter ihnen sind noch andere Kanzleien. Man
verbietet ihm nicht gerade weiterzugehen, aber er kann doch nicht weitergehen, wenn er
seine Vorgesetzten schon gefunden hat, sie ihn abgefertigt haben und wegschicken. Man ist
dort überdies immer beobachtet, wenigstens glaubt man es. Und selbst wenn er weiterginge,
was würde es helfen, wenn er dort keine amtliche Arbeit hat und ein Eindringling wäre?
Diese Barrieren darfst du dir auch nicht als eine bestimmte Grenze vorstellen, darauf
macht mich auch Barnabas immer wieder aufmerksam. Barrieren sind auch in den Kanzleien, in
die er geht; es gibt also auch Barrieren, die er passiert, und sie sehen nicht anders aus
als die, über die er noch nicht hinweggekommen ist, und es ist auch deshalb nicht von
vornherein anzunehmen, dass sich hinter diesen letzteren Barrieren wesentlich andere
Kanzleien befinden als jene, in denen Barnabas schon war. Nur eben in jenen trüben
Stunden glaubt man das. Und dann geht der Zweifel weiter, man kann sich gar nicht wehren.
Barnabas spricht mit Beamten, Barnabas bekommt Botschaften. Aber was für Beamte, was für
Botschaften sind es? Jetzt ist er, wie er sagt, Klamm zugeteilt und bekommt von ihm
persönlich die Aufträge. Nun, das wäre doch sehr viel, selbst höhere Diener gelangen
nicht so weit, es wäre fast zu viel, das ist das Beängstigende. Denk nur, unmittelbar
Klamm zugeteilt sein, mit ihm von Mund zu Mund sprechen. Aber es ist doch so? Nun ja, es
ist so, aber warum zweifelt denn Barnabas daran, dass der Beamte, der dort als Klamm
bezeichnet wird, wirklich Klamm ist?« »Olga«, sagte K., »du willst doch nicht
scherzen, wie kann über Klamms Aussehen ein Zweifel bestehen, es ist doch bekannt, wie er
aussieht, ich selbst habe ihn gesehen.« »Gewiss nicht, K.«, sagte Olga.
»Scherze sind es nicht, sondern meine allerernstesten Sorgen. Doch erzähle ich es dir
nicht, um mein Herz zu erleichtern und deines etwa zu beschweren, sondern weil du nach
Barnabas fragtest, Amalia mir den Auftrag gab, zu erzählen, und weil ich glaube, dass es
auch für dich nützlich ist, Genaueres zu wissen. Auch wegen Barnabas tue ich es, damit
du nicht allzu große Hoffnungen auf ihn setzt, er dich enttäuscht und dann selbst unter
deiner Enttäuschung leidet. Er ist sehr empfindlich; er hat zum Beispiel heute Nacht
nicht geschlafen, weil du gestern Abend mit ihm unzufrieden warst; du sollst gesagt haben,
dass es sehr schlimm für dich ist, dass du nur einen solchen Boten wie Barnabas hast. Die
Worte haben ihn um den Schlaf gebracht. Du selbst wirst wohl von seinen Aufregungen nicht
viel gemerkt haben, Schlossboten müssen sich sehr beherrschen. Aber er hat es nicht
leicht, selbst mit dir nicht. Du verlangst ja in deinem Sinn gewiss nicht zu viel von ihm,
du hast bestimmte Vorstellungen vom Botendienst mitgebracht, und nach ihnen bemisst du
deine Anforderungen. Aber im Schloss hat man andere Vorstellungen vom Botendienst, sie
lassen sich mit deinen nicht vereinen, selbst wenn sich Barnabas gänzlich dem Dienst
opferte, wozu er leider manchmal bereit scheint. Man müsste sich ja fügen, dürfte
nichts dagegen sagen, wäre nur nicht die Frage, ob es wirklich Botendienst ist, was er
tut. Dir gegenüber darf er natürlich keinen Zweifel darüber aussprechen; es hieße für
ihn, seine eigene Existenz untergraben, wenn er das täte, Gesetze grob verletzen, unter
denen er ja noch zu stehen glaubt, und selbst mir gegenüber spricht er nicht frei,
abschmeicheln, abküssen muss ich ihm seine Zweifel, und selbst dann wehrt er sich noch
zuzugeben, dass die Zweifel Zweifel sind. Er hat etwas von Amalia im Blut. Und alles sagt
er mir gewiss nicht, obwohl ich seine einzige Vertraute bin. Aber über Klamm sprechen wir
manchmal, ich habe Klamm noch nicht gesehen du weißt, Frieda liebt mich wenig und
hätte mir den Anblick nie gegönnt , aber natürlich ist sein Aussehen im Dorf
bekannt, Einzelne haben ihn gesehen, alle von ihm gehört, und es hat sich aus dem
Augenschein, aus Gerüchten und auch manchen fälschlichen Nebenabsichten ein Bild Klamms
ausgebildet, das wohl in den Grundzügen stimmt. Aber nur in den Grundzügen. Sonst ist es
veränderlich und vielleicht nicht einmal so veränderlich wie Klamms wirkliches Aussehen.
Er soll ganz anders aussehen, wenn er ins Dorf kommt, und anders, wenn er es verlässt,
anders, ehe er Bier getrunken hat, anders nachher, anders im Wachen, anders im Schlafen,
anders allein, anders im Gespräch und, was hiernach verständlich ist, fast
grundverschieden oben im Schloss. Und es sind schon selbst innerhalb des Dorfes ziemlich
große Unterschiede, die berichtet werden, Unterschiede der Größe, der Haltung, der
Dicke, des Bartes, nur hinsichtlich des Kleides sind die Berichte glücklicherweise
einheitlich: Er trägt immer das gleiche Kleid, ein schwarzes Jackettkleid mit langen
Schößen. Nun gehen natürlich alle diese Unterschiede auf keine Zauberei zurück,
sondern sind sehr begreiflich, entstehen durch die augenblickliche Stimmung, den Grad der
Aufregung, die unzähligen Abstufungen der Hoffnung oder Verzweiflung, in welcher sich der
Zuschauer, der überdies meist nur augenblickweise Klamm sehen darf, befindet. Ich
erzähle dir das alles wieder, so wie es mir Barnabas oft erklärt hat, und man kann sich
im allgemeinen, wenn man nicht persönlich unmittelbar an der Sache beteiligt ist, damit
beruhigen. Wir können es nicht, für Barnabas ist es eine Lebensfrage, ob er wirklich mit
Klamm spricht oder nicht.« »Für mich nicht minder«, sagte K., und sie rückten
noch näher zusammen auf der Ofenbank.
Durch alle die ungünstigen Neuigkeiten Olgas war K. zwar betroffen, doch sah er einen
Ausgleich zum großen Teile darin, dass er hier Menschen fand, denen es, wenigstens
äußerlich, sehr ähnlich ging wie ihm selbst, denen er sich also anschließen konnte,
mit denen er sich in vielem verständigen konnte, nicht nur in manchem, wie mit Frieda.
Zwar verlor er allmählich die Hoffnung auf einen Erfolg der Barnabasschen Botschaft, aber
je schlechter es Barnabas ging, desto näher kam er ihm hier unten, niemals hätte K.
gedacht, dass aus dem Dorf selbst ein derart unglückliches Bestreben hervorgehen konnte,
wie es das des Barnabas und seiner Schwester war. Es war freilich noch bei weitem nicht
genug erklärt und konnte sich schließlich noch ins Gegenteil wenden; man musste durch
das gewisse unschuldige Wesen Olgas sich nicht gleich verführen lassen, auch an die
Aufrichtigkeit des Barnabas zu glauben. »Die Berichte über Klamms Aussehen«, fuhr Olga
fort, »kennt Barnabas sehr gut, hat viele gesammelt und verglichen, vielleicht zu viele,
hat einmal selbst Klamm im Dorf durch ein Wagenfenster gesehen oder zu sehen geglaubt, war
also genügend vorbereitet, ihn zu erkennen, und hat doch wie erklärst du es dir?
, als er im Schloss in eine Kanzlei kam und man ihm unter mehreren Beamten einen
zeigte und sagte, dass dieser Klamm sei, ihn nicht erkannt und auch nachher noch lange
sich nicht daran gewöhnen können, dass es Klamm sein sollte. Fragst du nun aber
Barnabas, worin sich jener Mann von der üblichen Vorstellung, die man von Klamm hat,
unterscheidet, kann er nicht antworten, vielmehr er antwortet und beschreibt den Beamten
im Schloss, aber die Beschreibung deckt sich genau mit der Beschreibung Klamms, wie wir
sie kennen. Nun also, Barnabas, sage ich, warum zweifelst du, warum
quälst du dich? Worauf er dann, in sichtlicher Bedrängnis, Besonderheiten des
Beamten im Schloss aufzuzählen beginnt, die er aber mehr zu erfinden als zu berichten
scheint, die aber außerdem so geringfügig sind sie betreffen zum Beispiel ein
besonderes Nicken des Kopfes oder auch nur die aufgeknöpfte Weste , dass man sie
unmöglich ernst nehmen kann. Noch wichtiger scheint mir die Art, wie Klamm mit Barnabas
verkehrt. Barnabas hat es mir oft beschrieben, sogar gezeichnet. Gewöhnlich wird Barnabas
in ein großes Kanzleizimmer geführt, aber es ist nicht Klamms Kanzlei, überhaupt nicht
die Kanzlei eines einzelnen. Der Länge nach ist dieses Zimmer durch ein einziges, von
Seitenwand zu Seitenwand reichendes Stehpult in zwei Teile geteilt, einen schmalen, wo
einander zwei Personen nur knapp ausweichen können, das ist der Raum der Beamten, und
einen breiten, das ist der Raum der Parteien, der Zuschauer, der Diener, der Boten. Auf
dem Pult liegen aufgeschlagen große Bücher, eines neben dem anderen, und bei den meisten
stehen Beamte und lesen darin. Doch bleiben sie nicht immer beim gleichen Buch, tauschen
aber nicht die Bücher, sondern die Plätze, am erstaunlichsten ist es Barnabas, wie sie
sich bei solchem Plätzewechsel aneinander vorbeidrücken müssen, eben wegen der Enge des
Raumes. Vorn, eng am Stehpult, sind niedrige Tischchen, an denen Schreiber sitzen, welche,
wenn die Beamten es wünschen, nach ihrem Diktat schreiben. Immer wundert sich Barnabas,
wie das geschieht. Es erfolgt kein ausdrücklicher Befehl des Beamten, auch wird nicht
laut diktiert, man merkt kaum, dass diktiert wird, vielmehr scheint der Beamte zu lesen
wie früher, nur dass er dabei auch noch flüstert, und der Schreiber hört's. Oft
diktiert der Beamte so leise, dass der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann
muss er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es
aufschreiben, dann wieder aufspringen und so fort. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast
unverständlich. Barnabas freilich hat genug Zeit, das alles zu beobachten, denn dort in
dem Zuschauerraum steht er stunden- und manchmal tagelang, ehe Klamms Blick auf ihn
fällt. Und auch wenn ihn Klamm schon gesehen hat und Barnabas sich in Habachtstellung
aufrichtet, ist noch nichts entschieden, denn Klamm kann sich wieder von ihm dem Buch
zuwenden und ihn vergessen; so geschieht es oft. Was ist es aber für ein Botendienst, der
so unwichtig ist? Mir wird wehmütig, wenn Barnabas früh sagt, dass er ins Schloss geht.
Dieser wahrscheinlich ganz unnütze Weg, dieser wahrscheinlich verlorene Tag, diese
wahrscheinlich vergebliche Hoffnung. Was soll das alles? Und hier ist Schusterarbeit
aufgehäuft, die niemand macht und auf deren Ausführung Brunswick drängt.« »Nun gut«,
sagte K. »Barnabas muss lange warten, ehe er einen Auftrag bekommt. Das ist
verständlich, es scheint ja hier ein Übermaß von Angestellten zu sein, nicht jeder kann
jeden Tag einen Auftrag bekommen, darüber müsst ihr nicht klagen, das trifft wohl jeden.
Schließlich aber bekommt doch wohl auch Barnabas Aufträge, mir selbst hat er schon zwei
Briefe gebracht.« »Es ist ja möglich«, sagte Olga, »dass wir Unrecht haben zu klagen,
besonders ich, die alles nur vom Hörensagen kennt und es als Mädchen auch nicht so gut
verstehen kann wie Barnabas, der ja auch noch manches zurückhält. Aber nun höre, wie es
sich mit den Briefen verhält, mit den Briefen an dich zum Beispiel. Diese Briefe bekommt
er nicht unmittelbar von Klamm, sondern vom Schreiber. An einem beliebigen Tage, zu
beliebiger Stunde deshalb ist auch der Dienst, so leicht er scheint, sehr
ermüdend, denn Barnabas muss immerfort aufpassen erinnert sich der Schreiber an
ihn und winkt ihm. Klamm scheint das gar nicht veranlasst zu haben, er liest ruhig in
seinem Buch; manchmal allerdings, aber das tut er auch sonst öfters, putzt er gerade den
Zwicker, wenn Barnabas kommt, und sieht ihn dabei vielleicht an; vorausgesetzt, dass er
ohne Zwicker überhaupt sieht, Barnabas bezweifelt es, Klamm hat dann die Augen fast
geschlossen, er scheint zu schlafen und nur im Traum den Zwicker zu putzen. Inzwischen
sucht der Schreiber aus den vielen Akten und Briefschaften, die er unter dem Tisch hat,
einen Brief für dich heraus, es ist also kein Brief, den er gerade geschrieben hat,
vielmehr ist es, dem Aussehen des Umschlages nach, ein sehr alter Brief, der schon lange
dort liegt. Wenn es aber ein alter Brief ist, warum hat man Barnabas so lange warten
lassen? Und wohl auch dich? Und schließlich auch den Brief, denn er ist ja jetzt wohl
schon veraltet. Und Barnabas bringt man dadurch in den Ruf, ein schlechter, langsamer Bote
zu sein. Der Schreiber allerdings macht es sich leicht, gibt Barnabas den Brief, sagt:
Von Klamm für K., und damit ist Barnabas entlassen. Nun, und dann kommt
Barnabas nach Hause, atemlos, den endlich ergatterten Brief unter dem Hemd am bloßen
Leib, und wir setzen uns dann hierher auf die Bank wie jetzt, und er erzählt, und wir
untersuchen dann alles einzeln und schätzen ab, was er erreicht hat, und finden
schließlich, dass es sehr wenig ist und das wenige fragwürdig, und Barnabas legt
den Brief weg und hat keine Lust, ihn zu bestellen, hat aber auch keine Lust, schlafen zu
gehen, nimmt die Schusterarbeit vor und versitzt dort auf dem Schemel die Nacht. So ist
es, K., und das sind meine Geheimnisse, und nun wunderst du dich wohl nicht mehr, dass
Amalia auf sie verzichtet.« »Und der Brief?« fragte K. »Der Brief?« sagte
Olga. »Nun; nach einiger Zeit, wenn ich Barnabas genug gedrängt habe, es können Tage
und Wochen inzwischen vergangen sein, nimmt er doch den Brief und geht, ihn zuzustellen.
In solchen Äußerlichkeiten ist er doch sehr abhängig von mir. Ich kann mich nämlich,
wenn ich den ersten Eindruck seiner Erzählung überwunden habe, dann auch wieder fassen,
wozu er wahrscheinlich, weil er eben mehr weiß, nicht im Stande ist. Und so kann ich ihm
dann immer wieder etwa sagen: Was willst du denn eigentlich, Barnabas? Von welcher
Laufbahn, welchem Ziele träumst du? Willst du vielleicht so weit kommen, dass du uns,
dass du mich gänzlich verlassen musst? Ist das etwa dein Ziel? Muss ich das nicht
glauben, da es ja sonst unverständlich wäre, warum du mit dem schon Erreichten so
entsetzlich unzufrieden bist? Sieh dich doch um, ob jemand unter unseren Nachbarn schon so
weit gekommen ist? Freilich, ihre Lage ist anders als die unsrige, und sie haben keinen
Grund, über ihre Wirtschaft hinauszustreben, aber auch ohne zu vergleichen muss man doch
einsehen, dass bei dir alles in bestem Gange ist. Hindernisse sind da, Fragwürdigkeiten,
Enttäuschungen, aber das bedeutet doch nur, was wir schon vorher gewusst haben, dass dir
nichts geschenkt wird, dass du dir vielmehr jede einzelne Kleinigkeit selbst erkämpfen
musst; ein Grund mehr, um stolz, nicht um niedergeschlagen zu sein. Und dann kämpfst du
doch auch für uns? Bedeutet dir das gar nichts? Gibt dir das keine neue Kraft? Und dass
ich glücklich und fast hochmütig bin, einen solchen Bruder zu haben, gibt dir das keine
Sicherheit? Wahrhaftig, nicht in dem, was du im Schloss erreicht hast, aber in dem, was
ich bei dir erreicht habe, enttäuschst du mich. du darfst ins Schloss, bist ein
ständiger Besucher der Kanzleien, verbringst ganze Tage im gleichen Raum mit Klamm, bist
öffentlich anerkannter Bote, hast ein Amtskleid zu beanspruchen, bekommst wichtige
Briefschaften auszutragen; das alles bist du, das alles darfst du und kommst herunter, und
statt dass wir uns weinend vor Glück in den Armen liegen, scheint dich bei meinem Anblick
aller Mut zu verlassen; an allem zweifelst du, nur der Schusterleisten lockt dich, und den
Brief, diese Bürgschaft unserer Zukunft, lässt du liegen. So rede ich zu ihm, und
nachdem ich das tagelang wiederholt habe, nimmt er einmal seufzend den Brief und geht.
Aber es ist wahrscheinlich gar nicht die Wirkung meiner Worte, sondern es treibt ihn nur
wieder ins Schloss, und ohne den Auftrag ausgerichtet zu haben, würde er es nicht wagen
hinzugehen.« »Aber du hast doch auch mit allem recht, was du ihm sagst«, sagte
K. »Bewunderungswürdig richtig hast du alles zusammengefasst. Wie erstaunlich klar du
denkst!« »Nein«, sagte Olga, »es täuscht dich, und so täusche ich vielleicht auch
ihn. Was hat er denn erreicht? In eine Kanzlei darf er eintreten, aber es scheint nicht
einmal eine Kanzlei, eher ein Vorzimmer der Kanzleien, vielleicht nicht einmal das,
vielleicht ein Zimmer, wo alle zurückgehalten werden sollen, die nicht in die wirklichen
Kanzleien dürfen. Mit Klamm spricht er, aber ist es Klamm? Ist es nicht eher jemand, der
Klamm ein wenig ähnlich ist? Ein Sekretär vielleicht, wenn's hoch geht, der Klamm ein
wenig ähnlich ist und sich anstrengt, ihm noch ähnlicher zu werden, und sich dann
wichtig macht, in Klamms verschlafener, träumerischer Art. Dieser Teil seines Wesens ist
am leichtesten nachzuahmen, daran versuchen sich manche, von seinem sonstigen Wesen
freilich lassen sie wohlweislich die Finger. Und ein so oft ersehnter und so selten
erreichter Mann, wie es Klamm ist, nimmt in der Vorstellung der Menschen leicht
verschiedene Gestalten an. Klamm hat zum Beispiel hier einen Dorfsekretär namens Momus.
So? Du kennst ihn? Auch er hält sich sehr zurück, aber ich habe ihn doch schon einige
Male gesehen. Ein junger, starker Herr, nicht? Und sieht also wahrscheinlich Klamm gar
nicht ähnlich. Und doch kannst du im Dorf Leute finden, die beschwören würden, dass
Momus Klamm ist und kein anderer. So arbeiten die Leute an ihrer eigenen Verwirrung. Und
muss es im Schloss anders sein? Jemand hat Barnabas gesagt, dass jener Beamte Klamm ist,
und tatsächlich besteht eine Ähnlichkeit zwischen beiden, aber eine von Barnabas
immerfort angezweifelte Ähnlichkeit. Und alles spricht für seine Zweifel. Klamm sollte
hier in einem allgemeinen Raum, zwischen anderen Beamten, den Bleistift hinter dem Ohr,
sich drängen müssen? Das ist doch höchst unwahrscheinlich. Barnabas pflegt, ein wenig
kindlich, manchmal dies ist aber schon eine zuversichtliche Laune zu sagen:
Der Beamte sieht ja Klamm sehr ähnlich; würde er in einer eigenen Kanzlei sitzen, am
eigenen Schreibtisch, und wäre an der Tür sein Name ich hätte keine Zweifel
mehr. Das ist kindlich, aber doch auch verständig. Noch viel verständiger allerdings
wäre es, wenn Barnabas sich, wenn er oben ist, gleich bei mehreren Leuten erkundigte, wie
sich die Dinge wirklich verhalten; es stehen doch seiner Angabe nach genug Leute in dem
Zimmer herum. Und wären auch ihre Angaben nicht viel verlässlicher als die Angabe jenes,
der ungefragt ihm Klamm gezeigt hat, es müssten sich doch zumindest aus ihrer
Mannigfaltigkeit irgendwelche Anhaltspunkte, Vergleichspunkte ergeben. Es ist das nicht
mein Einfall, sondern der Einfall des Barnabas, aber er wagt nicht, ihn auszuführen; aus
Furcht, er könnte durch irgendwelche ungewollte Verletzung unbekannter Vorschriften seine
Stelle verlieren, wagt er niemanden anzusprechen, so unsicher fühlt er sich; diese doch
eigentlich jämmerliche Unsicherheit beleuchtet mir seine Stellung schärfer als alle
Beschreibungen. Wie zweifelhaft und drohend muss ihm dort alles erscheinen, wenn er nicht
einmal zu einer unschuldigen Frage den Mund aufzutun wagt. Wenn ich das überlege, klage
ich mich an, dass ich ihn allein in jenen unbekannten Räumen lasse, wo es derart zugeht,
dass sogar er, der eher waghalsig als feig ist, dort vor Furcht wahrscheinlich zittert.«
»Hier, glaube ich, kommst du zu dem Entscheidenden«, sagte K.
»Das ist es. Nach allem, was du erzählt hast, glaube ich, jetzt klar zu sehen.
Barnabas ist zu jung für diese Aufgabe. Nichts von dem, was er erzählt, kann man ohne
weiteres ernst nehmen. Da er oben vor Furcht vergeht, kann er dort nicht beobachten, und
zwingt man ihn, hier dennoch zu berichten, erhält man verwirrte Märchen. Ich wundere
mich nicht darüber. Die Ehrfurcht vor der Behörde ist euch hier eingeboren, wird euch
weiter während des ganzen Lebens auf die verschiedensten Arten und von allen Seiten
eingeflößt, und ihr selbst helft dabei mit, wie ihr nur könnt. Doch sage ich im Grunde
nichts dagegen; wenn eine Behörde gut ist, warum sollte man vor ihr nicht Ehrfurcht
haben. Nur darf man dann nicht einen unbelehrten Jüngling wie Barnabas, der über den
Umkreis des Dorfes nicht hinausgekommen ist, plötzlich ins Schloss schicken und dann
wahrheitsgetreue Berichte von ihm verlangen wollen und jedes seiner Worte wie ein
Offenbarungswort untersuchen und von der Deutung das eigene Lebensglück abhängig machen.
Nichts kann verfehlter sein. Freilich habe auch ich, nicht anders als du, mich von ihm
beirren lassen und sowohl Hoffnungen auf ihn gesetzt, als Enttäuschungen durch ihn
erlitten, die beide nur auf seinen Worten, also fast gar nicht, begründet waren.« Olga
schwieg. »Es wird mir nicht leicht«, sagte K., »dich in dem Vertrauen zu deinem Bruder
zu beirren, da ich doch sehe, wie du ihn liebst und was du von ihm erwartest. Es muss aber
geschehen, und nicht zum wenigsten deiner Liebe und deiner Erwartungen wegen. Denn sieh,
immer wieder hindert dich etwas ich weiß nicht, was es ist , voll zu
erkennen, was Barnabas nicht etwa erreicht hat, aber was ihm geschenkt worden ist. Er darf
in die Kanzleien oder, wenn du es so willst, in einen Vorraum; nun, dann ist's also ein
Vorraum, aber es sind Türen da, die weiterführen, Barrieren, die man durchschreiten
kann, wenn man das Geschick dazu hat. Mir zum Beispiel ist dieser Vorraum, wenigstens
vorläufig, völlig unzugänglich. Mit wem Barnabas dort spricht, weiß ich nicht,
vielleicht ist jener Schreiber der niedrigste Diener, aber auch wenn er der niedrigste
ist, kann er zu dem nächsthöheren führen, und wenn er nicht zu ihm führen kann, so
kann er ihn doch wenigstens nennen, und wenn er ihn nicht nennen kann, so kann er doch auf
jemanden verweisen, der ihn wird nennen können. Der angebliche Klamm mag mit dem
wirklichen nicht das Geringste gemeinsam haben, die Ähnlichkeit mag nur für die vor
Aufregung blinden Augen des Barnabas bestehen, er mag der niedrigste der Beamten, er mag
noch nicht einmal Beamter sein, aber irgendeine Aufgabe hat er doch bei jenem Pult,
irgendetwas liest er in seinem großen Buch, irgendetwas flüstert er dem Schreiber zu,
irgendetwas denkt er, wenn einmal in langer Zeit sein Blick auf Barnabas fällt, und
selbst wenn das alles nicht wahr ist und er und seine Handlungen gar nichts bedeuten, so
hat ihn doch jemand dort hingestellt und hat dies mit irgendeiner Absicht getan. Mit dem
allem will ich sagen, dass irgendetwas da ist, irgendetwas dem Barnabas angeboten wird,
wenigstens irgendetwas, und dass es nur die Schuld des Barnabas ist, wenn er damit nichts
anderes erreichen kann als Zweifel, Angst und Hoffnungslosigkeit. Und dabei bin ich ja
immer noch von dem ungünstigsten Fall ausgegangen, der sogar sehr unwahrscheinlich ist.
Denn wir haben ja die Briefe in der Hand, denen ich zwar nicht viel traue, aber viel mehr
als des Barnabas Worten. Mögen es auch alte, wertlose Briefe sein, die wahllos aus einem
Haufen genauso wertloser Briefe hervorgezogen wurden, wahllos und mit nicht mehr Verstand,
als die Kanarienvögel auf den Jahrmärkten aufwenden, um das Lebenslos eines Beliebigen
aus einem Haufen herauszupicken, und mag das so sein, so haben diese Briefe doch
wenigstens irgendeinen Bezug auf meine Arbeit; sichtlich sind sie für mich, wenn auch
vielleicht nicht für meinen Nutzen bestimmt; sind, wie der Gemeindevorsteher und seine
Frau bezeugt haben, von Klamm eigenhändig gefertigt und haben, wiederum nach dem
Gemeindevorsteher, zwar nur eine private und wenig durchsichtige, aber doch eine große
Bedeutung.« »Sagte das der Gemeindevorsteher?« fragte Olga. »Ja, das sagte
er«, antwortete K. »Ich werde es Barnabas erzählen«, sagte Olga schnell, »das wird
ihn sehr aufmuntern.« »Er braucht aber nicht Aufmunterung«, sagte K., »ihn
aufmuntern bedeutet, ihm zu sagen, dass er recht hat, dass er nur in seiner bisherigen Art
fortfahren soll, aber eben auf diese Art wird er niemals etwas erreichen. Du kannst
jemanden, der die Augen verbunden hat, noch so sehr aufmuntern, durch das Tuch zu starren,
er wird doch niemals etwas sehen; erst wenn man ihm das Tuch abnimmt, kann er sehen. Hilfe
braucht Barnabas, nicht Aufmunterung. Bedenke doch nur: dort oben ist die Behörde in
ihrer unentwirrbaren Größe ich glaubte, annähernde Vorstellungen von ihr zu
haben, ehe ich hierher kam, wie kindlich war das alles , dort also ist die Behörde
und ihr tritt Barnabas entgegen, niemand sonst, nur er, erbarmungswürdig allein, zu viel
Ehre noch für ihn, wenn er nicht sein ganzes Leben lang verschollen in einen dunklen
Winkel der Kanzleien geduckt bleibt.« »Glaube nicht, K.«, sagte Olga, »dass wir
die Schwere der Aufgabe, die Barnabas übernommen hat, unterschätzen. An Ehrfurcht vor
der Behörde fehlt es uns ja nicht, das hast du selbst gesagt.« »Aber es ist
irregeleitete Ehrfurcht«, sagte K. »Ehrfurcht am unrechten Ort, solche Ehrfurcht
entwürdigt ihren Gegenstand. Ist es noch Ehrfurcht zu nennen, wenn Barnabas das Geschenk
des Eintritts in jenen Raum dazu missbraucht, um untätig dort die Tage zu verbringen,
oder wenn er herabkommt und diejenigen, vor denen er eben gezittert hat, verdächtigt und
verkleinert oder wenn er aus Verzweiflung oder Müdigkeit Briefe nicht gleich austrägt
und ihm anvertraute Botschaften nicht gleich ausrichtet? Das ist doch wohl keine Ehrfurcht
mehr. Aber der Vorwurf geht noch weiter, geht auch gegen dich, Olga; ich kann dir ihn
nicht ersparen. du hast Barnabas, obwohl du Ehrfurcht vor der Behörde zu haben glaubst,
in aller seiner Jugend und Schwäche und Verlassenheit ins Schloss geschickt oder
wenigstens nicht zurückgehalten.«
»Den Vorwurf, den du mir machst«, sagte Olga, »mache ich mir auch, seit jeher schon.
Allerdings nicht, dass ich Barnabas ins Schloss geschickt habe, ist mir vorzuwerfen, ich
habe ihn nicht geschickt, er ist selbst gegangen, aber ich hätte ihn wohl mit allen
Mitteln, mit Gewalt, mit List, mit Überredung, zurückhalten sollen. Ich hätte ihn
zurückhalten sollen, aber wenn heute jener Tag, jener Entscheidungstag wäre und ich die
Not des Barnabas, die Not unserer Familie so fühlte wie damals und heute und wenn
Barnabas wieder, aller Verantwortung und Gefahr deutlich sich bewusst, lächelnd und sanft
sich von mir losmachte, um zu gehen, ich würde ihn auch heute nicht zurückhalten, trotz
allen Erfahrungen der Zwischenzeit und, ich glaube, auch du an meiner Stelle könntest
nicht anders. Du kennst nicht unsere Not, deshalb tust du uns, vor allem aber Barnabas,
Unrecht. Wir hatten damals mehr Hoffnung als heute, aber groß war unsere Hoffnung auch
damals nicht, groß war nur unsere Not und ist es geblieben. Hat dir denn Frieda nichts
über uns erzählt?« »Nur Andeutungen«, sagte K., »nichts Bestimmtes; aber
schon euer Name erregt sie.« »Und auch die Wirtin hat nichts erzählt?«
»Nein, nichts.« »Und auch sonst niemand?« »Niemand.«
»Natürlich, wie könnte jemand etwas erzählen. Jeder weiß etwas über uns, entweder
die Wahrheit, soweit sie den Leuten zugänglich ist, oder wenigstens irgendein
übernommenes oder meist selbst erfundenes Gerücht, und jeder denkt an uns mehr, als
nötig ist, aber geradezu erzählen wird es niemand, diese Dinge in den Mund zu nehmen,
scheuen sie sich. Und sie haben recht darin. Es ist schwer, es hervorzubringen, selbst dir
gegenüber, K., und ist es denn nicht auch möglich, dass du, wenn du es angehört hast,
weggehst und nichts mehr von uns wirst wissen wollen, so wenig es dich auch zu betreffen
scheint. Dann haben wir dich verloren, der du mir jetzt, ich gestehe es, fast mehr
bedeutest als der bisherige Schlossdienst des Barnabas. Und doch dieser Widerspruch
quält mich schon den ganzen Abend musst du es erfahren, denn sonst bekommst du
keinen Überblick über unsere Lage, bliebest, was mich besonders schmerzen würde,
ungerecht zu Barnabas; die notwendige völlige Einigkeit würde uns fehlen, und du
könntest weder uns helfen noch unsere Hilfe, die außerordentliche, annehmen. Aber es
bleibt noch eine Frage: Willst du es denn überhaupt wissen?« »Warum fragst du
das?« sagte K. »Wenn es notwendig ist, will ich es wissen; aber warum fragst du so?«
»Aus Aberglauben«, sagte Olga. »du wirst hineingezogen sein in unsere Dinge,
unschuldig, nicht viel schuldiger als Barnabas.« »Erzähle schnell«, sagte K.,
»ich fürchte mich nicht. du machst es auch durch Weiberängstlichkeit schlimmer, als es
ist.«
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