Da sah K., wie er ziellos umherblickte,
weit in der Ferne an einer Wendung des Ganges Frieda; sie tat, als erkenne sie ihn nicht,
blickte nur starr auf ihn, in der Hand trug sie eine Tasse mit leerem Geschirr. Er sagte
dem Diener, der aber gar nicht auf ihn achtete je mehr man zu dem Diener sprach, desto
geistesabwesender schien er zu werden , er werde gleich zurückkommen, und lief zu
Frieda. Bei ihr angekommen, fasste er sie bei den Schultern, so, als ergreife er wieder
von ihr Besitz, stellte einige belanglose Fragen und suchte dabei prüfend in ihren Augen.
Aber ihre starre Haltung löste sich kaum, zerstreut versuchte sie einige Umstellungen des
Geschirrs auf der Tasse und sagte: »Was willst du denn von mir? Geh doch zu den
nun, du weißt ja, wie sie heißen. du kommst ja gerade von ihnen, ich kann es dir
ansehen.« K. lenkte schnell ab; die Aussprache sollte nicht so plötzlich kommen und bei
dem Bösesten, bei dem für ihn Ungünstigsten anfangen. »Ich dachte, du wärest im
Ausschank« sagte er. Frieda sah ihn erstaunt an und fuhr ihm dann sanft mit der einen
Hand, die sie frei hatte, über Stirn und Wange. Es war, als habe sie sein Aussehen
vergessen und wollte es sich so wieder ins Bewusstsein zurückrufen, auch ihre Augen
hatten den verschleierten Ausdruck des mühsam Sich-Er-innerns. »Ich bin für den
Ausschank wieder aufgenommen«, sagte sie dann langsam, als sei es unwichtig, was sie
sage, aber unter den Worten führte sie noch ein Gespräch mit K., und dies sei das
wichtigere. »Diese Arbeit taugt nicht für mich, die kann auch eine jede andere besorgen;
jede, die aufbetten und ein freundliches Gesicht machen kann und die Belästigung durch
die Gäste nicht scheut, sondern sie sogar noch hervorruft, eine jede solche kann
Stubenmädchen sein. Aber im Ausschank, da ist es etwas anderes. Ich bin auch gleich
wieder für den Ausschank aufgenommen worden, obwohl ich ihn damals nicht sehr ehrenvoll
verlassen habe; freilich hatte ich jetzt Protektion. Aber der Wirt war glücklich, dass
ich Protektion hatte und es ihm deshalb leicht möglich war, mich wieder aufzunehmen. Es
war sogar so, dass man mich drängen musste, den Posten anzunehmen; wenn du bedenkst,
woran mich der Ausschank erinnert, wirst du es begreifen. Schließlich habe ich den Posten
angenommen. Hier bin ich nur aushilfsweise. Pepi hat gebeten, ihr nicht die Schande
anzutun, sofort den Ausschank verlassen zu müssen, wir haben ihr deshalb, weil sie doch
fleißig gewesen ist und alles so besorgt hat, wie es nur ihre Fähigkeiten erlaubt haben,
eine vierundzwanzigstündige Frist gegeben.« »Das ist alles sehr gut
eingerichtet«, sagte K., »nur hast du einmal meinetwegen den Ausschank verlassen; und
nun, da wir kurz vor der Hochzeit sind, kehrst du wieder in ihn zurück?« »Es
wird keine Hochzeit geben«, sagte Frieda. »Weil ich untreu war?« fragte K.; Frieda
nickte. »Nun sieh, Frieda«, sagte K., »über diese angebliche Untreue haben wir schon
öfters gesprochen, und immer hast du schließlich einsehen müssen, dass es ein
ungerechter Verdacht war. Seitdem aber hat sich auf meiner Seite nichts geändert, alles
ist unschuldig geblieben, wie es war und wie es nicht anders werden kann. Also muss sich
etwas auf deiner Seite geändert haben, durch fremde Einflüsterungen oder etwas anderes.
Unrecht tust du mir auf jeden Fall; denn sieh, wie verhält es sich mit diesen zwei
Mädchen? Die eine, die dunkle ich schäme mich fast, mich so im Einzelnen
verteidigen zu müssen, aber du forderst es heraus , die dunkle also ist mir
wahrscheinlich nicht weniger peinlich als dir; wenn ich mich nur irgendwie von ihr
fernhalten kann, tue ich es, und sie erleichtert das ja auch, man kann nicht
zurückhaltender sein, als sie es ist.« »Ja«, rief Frieda aus, die Worte kamen
ihr wie gegen ihren Willen hervor, K. war froh, sie so abgelenkt zu sehen; sie war anders,
als sie sein wollte, »die magst du für zurückhaltend ansehen, die Schamloseste von
allen nennst du zurückhaltend, und du meinst es, so unglaubwürdig es ist, ehrlich, du
verstellst dich nicht, das weiß ich. Die Brückenhofwirtin sagt von dir: Leiden
kann ich ihn nicht, aber verlassen kann ich ihn auch nicht, man kann doch auch beim
Anblick eines kleinen Kindes, das noch nicht gut gehen kann und sich weit vorwagt,
unmöglich sich beherrschen; man muss eingreifen.« »Nimm diesmal ihre Lehre
an«, sagte K. lächelnd, »aber jenes Mädchen ob es zurückhaltend oder schamlos
ist, können wir beiseite lassen , ich will von ihm nichts wissen.« »Aber
warum nennst du sie zurückhaltend?« fragte Frieda unnachgiebig. K. hielt diese Teilnahme
für ein ihm günstiges Zeichen. »Hast du es erprobt oder willst du andere dadurch
herabsetzen?« »Weder das eine noch das andere«, sagte K., »ich nenne sie so aus
Dankbarkeit, weil sie es mir leicht macht, sie zu übersehen, und weil ich, selbst wenn
sie mich nur öfters anspräche, es nicht über mich bringen könnte, wieder hinzugehen,
was doch ein großer Verlust für mich wäre, denn ich muss hingehen wegen unserer
gemeinsamen Zukunft, wie du weißt. Und deshalb muss ich auch mit dem anderen Mädchen
sprechen, das ich zwar wegen seiner Tüchtigkeit, Umsicht und Selbstlosigkeit schätze,
von dem aber doch niemand behaupten kann, dass es verführerisch ist.« »Die
Knechte sind anderer Meinung«, sagte Frieda. »In dieser wie auch wohl in vieler anderer
Hinsicht«, sagte K. »Aus den Gelüsten der Knechte willst du auf meine Untreue
schließen?« Frieda schwieg und duldete es, dass K. ihr die Tasse aus der Hand nahm, auf
den Boden stellte, seinen Arm unter den ihren schob und im kleinen Raum langsam mit ihr
hin und her zu gehen begann. »Du weißt nicht, was Treue ist,«, sagte sie, sich ein
wenig wehrend gegen seine Nähe. »Wie du dich auch zu den Mädchen verhalten magst, ist
ja nicht das Wichtigste; dass du in diese Familie überhaupt gehst und zurückkommst, den
Geruch ihrer Stube in den Kleidern, ist schon eine unerträgliche Schande für mich. Und
du läufst aus der Schule fort, ohne etwas zu sagen, und bleibst gar bei ihnen die halbe
Nacht. Und lässt, wenn man nach dir fragt, dich von den Mädchen verleugnen,
leidenschaftlich verleugnen, besonders von der unvergleichlich Zurückhaltenden.
Schleichst dich auf einem geheimen Weg aus dem Haus, vielleicht gar, um den Ruf der
Mädchen zu schonen, den Rufjener Mädchen! Nein, sprechen wir nicht mehr davon!«
»Von diesem nicht«, sagte K., »aber von etwas anderem, Frieda. Von diesem ist ja auch
nichts zu sagen. Warum ich hingehen muss, weißt du. Es wird mir nicht leicht, aber ich
überwinde mich. Du solltest es mir nicht schwerer machen, als es ist. Heute dachte ich,
nur für einen Augenblick hinzugehen und nachzufragen, ob Barnabas, der eine wichtige
Botschaft schon längst hätte bringen sollen, endlich gekommen ist. Er war nicht
gekommen, aber er musste, wie man mir versicherte und wie es auch glaubwürdig war, sehr
bald kommen. Ihn mir in die Schule nachkommen lassen, wollte ich nicht, um dich durch
seine Gegenwart nicht zu belästigen. Die Stunden vergingen, und er kam leider nicht. Wohl
aber kam ein anderer, der mir verhasst ist. Von ihm mich ausspionieren zu lassen, hatte
ich keine Lust und ging also durch den Nachbargarten, aber auch vor ihm verbergen wollte
ich mich nicht, sondern ging dann auf der Straße frei auf ihn zu, mit einer sehr
biegsamen Weidenrute, wie ich gestehe. Das ist alles, darüber ist also weiter nichts zu
sagen; wohl aber über etwas anderes. Wie verhält es sich denn mit den Gehilfen, die zu
erwähnen mir fast so widerlich ist wie dir die Erwähnung jener Familie? Vergleiche dein
Verhältnis zu ihnen damit, wie ich mich zu der Familie verhalte. Ich verstehe deinen
Widerwillen gegenüber der Familie und kann ihn teilen. Nur um der Sache willen gehe ich
zu ihnen, fast scheint es mir manchmal, dass ich ihnen Unrecht tue, sie ausnütze. Du und
die Gehilfen dagegen! Du hast gar nicht in Abrede gestellt, dass sie dich verfolgen, und
hast eingestanden, dass es dich zu ihnen zieht. Ich war dir nicht böse deshalb, habe
eingesehen, dass hier Kräfte im Spiel sind, denen du nicht gewachsen bist, war schon
glücklich darüber, dass du dich wenigstens wehrst, habe geholfen, dich zu verteidigen,
und nur weil ich ein paar Stunden darin nachgelassen habe im Vertrauen auf deine Treue,
allerdings auch in der Hoffnung, dass das Haus unweigerlich verschlossen ist, die Gehilfen
endgültig in die Flucht geschlagen sind ich unterschätzte sie noch immer,
fürchte ich , nur weil ich ein paar Stunden darin nachgelassen habe und jener
Jeremias, genau betrachtet, ein nicht sehr gesunder, ältlicher Bursche, die Keckheit
gehabt hat, ans Fenster zu treten, nur deshalb soll ich dich, Frieda, verlieren und als
Begrüßung zu hören bekommen: Es wird keine Hochzeit geben. Wäre ich es
nicht eigentlich, der Vorwürfe machen dürfte, und ich mache sie nicht, mache sie noch
immer nicht.« Und wieder schien es K. gut, Frieda ein wenig abzulenken, und er bat sie,
ihm etwas zu essen zu bringen, weil er schon seit Mittag nichts gegessen habe. Frieda,
offenbar auch durch die Bitte erleichtert, nickte und lief, etwas zu holen, nicht den Gang
weiter, wo K. die Küche vermutete, sondern seitlich, ein paar Stufen abwärts. Sie
brachte bald einen Teller mit Aufschnitt und eine Flasche Wein, aber es waren wohl nur
schon die Reste einer Mahlzeit: Flüchtig waren die einzelnen Stücke neu ausgebreitet, um
es unkenntlich zu machen, sogar Wurstschalen waren dort vergessen und die Flasche war zu
drei Vierteln geleert. Doch sagte K. nichts darüber und machte sich mit gutem Appetit ans
Essen. »du warst in der Küche?« fragte er. »Nein, in meinem Zimmer«, sagte sie, »ich
habe hier unten ein Zimmer.« »Hättest du mich doch mitgenommen«, sagte K. »Ich
werde hinuntergehen, um mich zum Essen ein wenig zu setzen.« »Ich werde dir einen
Sessel bringen«, sagte Frieda und war schon auf dem Weg. »Danke«, sagte K. und hielt
sie zurück, »ich werde weder hinuntergehen, noch brauche ich mehr einen Sessel.« Frieda
ertrug trotzig seinen Griff, hatte den Kopf tief geneigt und biss auf die Lippen. »Nun
ja, er ist unten«, sagte sie. »Hast du es anders erwartet? Er liegt in meinem Bett, er
hat sich draußen verkühlt, er fröstelt, er hat kaum gegessen. Im Grunde ist alles deine
Schuld; hättest du die Gehilfen nicht verjagt und wärst jenen Leuten nicht nachgelaufen,
wir könnten jetzt friedlich in der Schule sitzen. Nur du hast unser Glück zerstört.
Glaubst du, dass Jeremias, solange er im Dienst war, es gewagt hätte, mich zu entführen?
Dann verkennst du die hiesige Ordnung ganz und gar. Er wollte zu mir, er hat sich
gequält, er hat auf mich gelauert, das war aber nur ein Spiel, so wie ein hungriger Hund
spielt und es doch nicht wagt, auf den Tisch zu springen. Und ebenso ich. Es zog mich zu
ihm, er ist mein Spielkamerad aus der Kinderzeit wir spielten miteinander auf dem
Abhang des Schlossberges, schöne Zeiten, du hast mich niemals nach meiner Vergangenheit
gefragt. Doch das alles war nicht entscheidend, solange Jeremias durch den Dienst
gehalten war, denn ich kannte ja meine Pflicht als deine zukünftige Frau. Dann aber
vertriebst du die Gehilfen und rühmtest dich noch dessen, als hättest du damit etwas
für mich getan; nun, in einem gewissen Sinne ist es wahr. Bei Artur gelang deine Absicht,
allerdings nur vorläufig, er ist zart, er hat nicht die keine Schwierigkeit fürchtende
Leidenschaft des Jeremias, auch hast du ihn ja durch den Faustschlag in der Nacht
jener Schlag war auch gegen unser Glück geführt nahezu zerstört, er flüchtete
ins Schloss, um zu klagen, und wenn er auch bald wiederkommen wird, immerhin, er ist jetzt
fort. Jeremias aber blieb. Im Dienst fürchtet er ein Augenzucken des Herrn, außerhalb
des Dienstes aber fürchtet er nichts. Er kam und nahm mich; von dir verlassen, von ihm,
dem alten Freund, beherrscht, konnte ich mich nicht halten. Ich habe das Schultor nicht
aufgesperrt, er zerschlug das Fenster und zog mich hinaus. Wir flohen hierher, der Wirt
achtet ihn, auch kann den Gästen nichts willkommener sein, als einen solchen
Zimmerkellner zu haben, so wurden wir aufgenommen, er wohnt nicht bei mir, sondern wir
haben ein gemeinsames Zimmer.« »Trotz allem«, sagte K., »bedauere ich es nicht,
die Gehilfen aus dem Dienst getrieben zu haben. War das Verhältnis so, wie du es
beschreibst, deine Treue also nur durch die dienstliche Gebundenheit der Gehilfen bedingt,
dann war es gut, dass alles ein Ende nahm. Das Glück der Ehe inmitten der zwei Raubtiere,
die sich nur unter der Knute duckten, wäre nicht sehr groß gewesen. Dann bin ich auch
jener Familie dankbar, welche unabsichtlich ihr Teil beigetragen hat, um uns zu trennen.«
Sie schwiegen und gingen wieder nebeneinander auf und ab, ohne dass zu unterscheiden
gewesen wäre, wer jetzt damit begonnen hätte. Frieda, nahe an K., schien ärgerlich,
dass er sie nicht wieder unter den Arm nahm. »Und so wäre alles in Ordnung«, fuhr K.
fort, »und wir könnten Abschied nehmen, du zu deinem Herrn Jeremias gehen, der
wahrscheinlich noch vom Schulgarten her verkühlt ist und den du mit Rücksicht darauf
schon viel zu lange allein gelassen hast, und ich allein in die Schule oder, da ich ja
ohne dich dort nichts zu tun habe, sonst irgendwohin, wo man mich aufnimmt. Wenn ich nun
trotzdem zögere, so deshalb, weil ich aus gutem Grund noch immer ein wenig daran zweifle,
was du mir erzählt hast. Ich habe von Jeremias den gegenteiligen Eindruck. Solange er im
Dienst war, ist er hinter dir her gewesen, und ich glaube nicht, dass der Dienst ihn auf
die Dauer zurückgehalten hätte, dich einmal ernstlich zu überfallen. Jetzt aber, seit
er den Dienst für aufgehoben ansieht, ist es anders. Verzeih, wenn ich es mir auf
folgende Weise erkläre: Seit du nicht mehr die Braut seines Herrn bist, bist du keine
solche Verlockung mehr für ihn wie früher. Du magst seine Freundin aus der Kinderzeit
sein, doch legt er ich kenne ihn eigentlich nur aus einem kurzen Gespräch heute
Nacht solchen Gefühlsdingen meiner Meinung nach nicht viel Wert bei. Ich weiß
nicht, warum er dir als ein leidenschaftlicher Charakter erscheint. Seine Denkweise
scheint mir eher besonders kühl. Er hat in Bezug auf mich irgendeinen, mir vielleicht
nicht sehr günstigen Auftrag von Galater bekommen, diesen strengt er sich an
auszuführen, mit einer gewissen Dienstleidenschaft, wie ich zugeben will sie ist
hier nicht allzu selten , dazu gehört, dass er unser Verhältnis zerstört; er hat
es vielleicht auf verschiedene Weise versucht, eine davon war die, dass er dich durch sein
lüsternes Schmachten zu verlocken suchte, eine andere hier hat ihn die Wirtin
unterstützt , dass er von meiner Untreue fabelte, sein Anschlag ist ihm gelungen,
irgendeine Erinnerung an Klamm, die ihn umgibt, mag mitgeholfen haben, den Posten hat er
zwar verloren, aber vielleicht gerade in dem Augenblick, in dem er ihn nicht mehr
benötigte, jetzt erntet er die Früchte seiner Arbeit und zieht dich aus dem
Schulfenster, damit ist aber seine Arbeit beendet und, von der Dienstleidenschaft
verlassen, wird er müde, er wäre lieber an Stelle Arturs, der gar nicht klagt, sondern
sich Lob und neue Aufträge holt, aber es muss doch auch jemand zurückbleiben, der die
weitere Entwicklung der Dinge verfolgt. Eine etwas lästige Pflicht ist es ihm, dich zu
versorgen. Von Liebe zu dir ist keine Spur, er hat es mir offen gestanden, als Geliebte
Klamms bist du ihm natürlich respektabel, und in deinem Zimmer sich einzunisten und sich
einmal als kleiner Klamm zu fühlen, tut ihm gewiss sehr wohl, das aber ist alles, du
selbst bedeutest ihm jetzt nichts, nur ein Nachtrag zu seiner Hauptaufgabe ist es ihm,
dass er dich hier untergebracht hat; um dich nicht zu beunruhigen, ist er auch selbst
geblieben, aber nur vorläufig, solange er nicht neue Nachrichten vom Schloss bekommt und
seine Verkühlung von dir nicht auskuriert ist.« »Wie du ihn verleumdest!« sagte
Frieda und schlug ihre kleinen Fäuste aneinander. »Verleumden?« sagte K. »Nein, ich
will ihn nicht verleumden. Wohl aber tue ich ihm vielleicht Unrecht, das ist freilich
möglich. Ganz offen an der Oberfläche liegt es ja nicht, was ich über ihn gesagt habe;
es lässt sich auch anders deuten. Aber verleumden? Verleumden könnte doch nur den Zweck
haben, damit gegen deine Liebe zu ihm anzukämpfen. Wäre es nötig und wäre Verleumdung
ein geeignetes Mittel, ich würde nicht zögern, ihn zu verleumden. Niemand könnte mich
deshalb verurteilen, er ist durch seine Auftraggeber in solchem Vorteil mir gegenüber,
dass ich, ganz allein auf mich angewiesen, auch ein wenig verleumden dürfte. Es wäre ein
verhältnismäßig unschuldiges und letzten Endes ja auch ohnmächtiges
Verteidigungsmittel. Lass also die Fäuste ruhen.« Und K. nahm Friedas Hand in die seine;
Frieda wollte sie ihm entziehen, aber lächelnd und nicht mit großer Kraftanstrengung.
»Aber ich muss nicht verleumden«, sagte K., »denn du liebst ihn ja nicht, glaubst es
nur und wirst mir dankbar sein, wenn ich dich von der Täuschung befreie. Sieh, wenn
jemand dich von mir fortbringen wollte, ohne Gewalt, aber mit möglichst sorgfältiger
Berechnung, dann müsste er es durch die beiden Gehilfen tun. Scheinbar gute, kindliche,
lustige, verantwortungslose, von hoch her, vom Schloss hergeblasene Jungen, ein wenig
Kindheitserinnerung auch dabei, das ist doch schon alles sehr liebenswert, besonders, wenn
ich etwa das Gegenteil von alledem bin, dafür immerfort hinter Geschäften herlaufe, die
dir nicht ganz verständlich, die dir ärgerlich sind, die mich mit Leuten
zusammenbringen, die dir hassenswert sind und etwas davon bei aller meiner Unschuld auch
auf mich übertragen. Das Ganze ist nur eine bösartige, allerdings sehr kluge Ausnützung
der Mängel unseres Verhältnisses. Jedes Verhältnis hat seine Mängel, gar unseres, wir
kamen ja jeder aus einer ganz anderen Welt zusammen, und seit wir einander kennen, nahm
das Leben eines jeden von uns einen ganz neuen Weg, wir fühlen uns noch unsicher, es ist
doch allzu neu. Ich rede nicht von mir, das ist nicht so wichtig, ich bin ja im Grunde
immerfort beschenkt worden, seit du deine Augen zum ersten Mal mir zuwandtest; und an das
Beschenktwerden sich gewöhnen, ist nicht schwer. Du aber, von allem anderen abgesehen,
wurdest von Klamm losgerissen; ich kann nicht ermessen, was das bedeutet, aber eine Ahnung
dessen habe ich doch allmählich schon bekommen, man taumelt, man kann sich nicht
zurechtfinden, und wenn ich auch bereit war, dich immer aufzunehmen, so war ich doch nicht
immer zugegen, und wenn ich zugegen war, hielten dich manchmal deine Träumereien fest
oder noch Lebendigeres, wie etwa die Wirtin; kurz, es gab Zeiten, wo du von mir wegsahst,
dich irgendwohin ins Halbunbestimmte sehntest, armes Kind, und es mussten nur in solchen
Zwischenzeiten in der Richtung deines Blicks passende Leute aufgestellt werden, und du
warst an sie verloren, erlagst der Täuschung, dass das, was nur Augenblicke waren,
Gespenster, alte Erinnerungen, im Grunde vergangenes und immer mehr vergehendes
einstmaliges Leben, dass dieses noch dein wirkliches jetziges Leben sei. Ein Irrtum,
Frieda, nichts als die Letzte, richtig angesehen, verächtliche Schwierigkeit unserer
endlichen Vereinigung. Komme zu dir, fasse dich; wenn du auch dachtest, dass die Gehilfen
von Klamm geschickt sind es ist gar nicht wahr, sie kommen von Galater , und
wenn sie dich auch mit Hilfe dieser Täuschung so bezaubern konnten, dass du selbst in
ihrem Schmutz und ihrer Unzucht Spuren von Klamm zu finden meintest so, wie jemand
in einem Misthaufen einen einst verlorenen Edelstein zu sehen glaubt, während er ihn in
Wirklichkeit dort gar nicht finden könnte, selbst wenn er dort wirklich wäre , so
sind es doch nur Burschen von der Art der Knechte im Stall, nur dass sie nicht ihre
Gesundheit haben, ein wenig frische Luft sie krank macht und aufs Bett wirft, das sie sich
allerdings mit knechtischer Pfiffigkeit auszusuchen verstehen.« Frieda hatte ihren Kopf
an K.s Schulter gelehnt, die Arme umeinander geschlungen, gingen sie schweigend auf und
ab. »Wären wir doch«, sagte Frieda langsam, ruhig, fast behaglich, so, als wisse sie,
dass ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhe an K.s Schulter gewährt sei, diese aber
wolle sie bis zum Letzten genießen, »wären wir doch gleich noch in jener Nacht
ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheit sein, immer beisammen, deine Hand immer
nahe genug, sie zu fassen; wie brauche ich deine Nähe; wie bin ich, seit ich dich kenne,
ohne deine Nähe verlassen; deine Nähe ist, glaube mir, der einzige Traum, den ich
träume, keinen anderen.« Da rief es in dem Seitengang, es war Jeremias, er stand dort
auf der untersten Stufe, er war nur im Hemd, hatte aber ein Umhängetuch Friedas um sich
geschlagen. Wie er dort stand, das Haar zerrauft, den dünnen Bart wie verregnet, die
Augen mühsam, bittend und vorwurfsvoll aufgerissen, die dunklen Wangen gerötet, aber wie
aus allzu lockerem Fleisch bestehend, die nackten Beine zitternd vor Kälte, sodass die
langen Fransen des Tuches mitzitterten, war er wie ein aus dem Spital entflohener Kranker,
demgegenüber man an nichts anderes denken durfte, als ihn wieder ins Bett
zurückzubringen. So fasste es auch Frieda auf, entzog sich K. und war gleich unten bei
ihm. Ihre Nähe, die sorgsame Art, mit der sie das Tuch fester um ihn zog, die Eile, mit
der sie ihn gleich zurück ins Zimmer drängen wollte, schien ihn schon ein wenig
kräftiger zu machen; es war, als erkenne er K. erst jetzt. »Ah, der Herr
Landvermesser«, sagte er, Frieda, die keine Unterhaltung mehr zulassen wollte, zur
Begütigung die Wange streichelnd. »Verzeihen Sie die Störung. Mir ist aber gar nicht
wohl, das entschuldigt doch. Ich glaube, ich fiebere, ich muss einen Tee haben und
schwitzen. Das verdammte Gitter im Schulgarten, daran werde ich wohl noch zu denken haben,
und jetzt, schon verkühlt, bin ich noch in der Nacht herumgelaufen. Man opfert, ohne es
gleich zu merken, seine Gesundheit für Dinge, die es wahrhaftig nicht wert sind. Sie
aber, Herr Landvermesser, müssen sich durch mich nicht stören lassen, kommen Sie zu uns
ins Zimmer herein, machen Sie einen Krankenbesuch und sagen Sie dabei Frieda, was noch zu
sagen ist. Wenn zwei, die aneinander gewöhnt sind, auseinander gehen, haben sie
natürlich in den letzten Augenblicken so viel zu sagen, dass das ein Dritter, gar wenn er
im Bett liegt und auf den versprochenen Tee wartet, unmöglich begreifen kann. Aber kommen
Sie nur herein, ich werde ganz still sein.« »Genug, genug«, sagte Frieda und
zerrte an seinem Arm. »Er fiebert und weiß nicht, was er spricht. du aber, K., geh nicht
mit, ich bitte dich. Es ist mein und des Jeremias Zimmer oder vielmehr nur mein Zimmer,
ich verbiete dir, mit hineinzugehen. du verfolgst mich, ach K., warum verfolgst du mich?
Niemals, niemals werde ich zu dir zurückkommen, ich schaudere, wenn ich an eine solche
Möglichkeit denke. Geh doch zu deinen Mädchen; im bloßen Hemd sitzen sie auf der
Ofenbank zu deinen Seiten, wie man mir erzählt hat, und wenn jemand kommt, dich
abzuholen, fauchen sie ihn an. Wohl bist du dort zu Hause, wenn es dich gar so sehr
hinzieht. Ich habe dich immer von dort abgehalten, mit wenig Erfolg, aber immerhin
abgehalten, das ist vorüber, du bist frei. Ein schönes Leben steht dir bevor, wegen der
einen wirst du vielleicht mit den Knechten ein wenig kämpfen müssen, aber was die zweite
betrifft, gibt es niemanden im Himmel und auf Erden, der sie dir missgönnt. Der Bund ist
von vornherein gesegnet. Sag nichts dagegen, gewiss, du kannst alles widerlegen, aber zum
Schluss ist gar nichts widerlegt. Denk nur, Jeremias, er hat alles widerlegt!« Sie
verständigten sich durch Kopfnicken und Lächeln. »Aber«, fuhr Frieda fort,
»angenommen, er hätte alles widerlegt, was wäre damit erreicht, was kümmert es mich?
Wie es dort bei jenen zugehen mag, ist völlig ihre und seine Sache, meine nicht. Meine
ist es, dich zu pflegen, so lange, bis du wieder gesund wirst, wie du's einstmals warst,
ehe dich K. meinetwegen quälte.« »Sie kommen also wirklich nicht mit, Herr
Landvermesser?« fragte Jeremias, wurde aber nun von Frieda, die sich gar nicht mehr nach
K. umdrehte, endgültig fortgezogen. Man sah unten eine kleine Tür, noch niedriger als
die Türen hier im Gange nicht nur Jeremias, auch Frieda musste sich beim
Hineingehen bücken , innen schien es hell und warm zu sein; man hörte noch ein
wenig flüstern, wahrscheinlich liebreiches Überreden um Jeremias ins Bett zu bringen,
dann wurde die Tür geschlossen.
Erst jetzt merkte K., wie still es auf dem Gang geworden war, nicht nur hier in diesem
Teil des Ganges, wo er mit Frieda gewesen war und der zu den Wirtschaftsräumen zu
gehören schien, sondern auch in dem langen Gang mit den früher so lebhaften Zimmern. So
waren also die Herren doch endlich eingeschlafen. Auch K. war sehr müde, vielleicht hatte
er aus Müdigkeit sich gegen Jeremias nicht so gewehrt, wie er es hätte tun sollen. Es
wäre vielleicht klüger gewesen, sich nach Jeremias zu richten, der seine Verkühlung
sichtlich übertrieb seine Jämmerlichkeit stammte nicht von Verkühlung, sondern
war ihm angeboren und durch keinen Gesundheitstee zu vertreiben , ganz sich nach
Jeremias zu richten, die wirklich große Müdigkeit ebenso zur Schau zu stellen, hier auf
dem Gang niederzusinken, was schon an sich sehr wohl tun müsste, ein wenig zu schlummern
und dann vielleicht auch ein wenig gepflegt zu werden. Nur wäre es nicht so günstig
ausgegangen wie bei Jeremias, der in diesem Wettbewerb um das Mitleid gewiss, und
wahrscheinlich mit Recht, gesiegt hätte und offenbar auch in jedem anderen Kampf. K. war
so müde, dass er daran dachte, ob er nicht versuchen könnte, in eines dieser Zimmer zu
gehen, von denen gewiss manche leer waren, und sich in einem schönen Bett auszuschlafen.
Das hätte seiner Meinung nach Entschädigung für vieles werden können. Auch einen
Schlaftrunk hatte er bereit. Auf dem Geschirrbrett, das Frieda auf dem Boden liegen
gelassen hatte, war eine kleine Karaffe Rum gewesen. K. scheute nicht die Anstrengung des
Rückwegs und trank das Fläschchen leer.
Nun fühlte er sich wenigstens kräftig genug, vor Erlanger zu treten. Er suchte
Erlangers Zimmertür, aber da der Diener und Gerstäcker nicht mehr zu sehen und alle
Türen gleich waren, konnte er sie nicht finden. Doch glaubte er, sich zu erinnern, an
welcher Stelle des Ganges die Tür etwa gewesen war, und beschloss, eine Tür zu öffnen,
die seiner Meinung nach wahrscheinlich die gesuchte war. Der Versuch konnte nicht allzu
gefährlich sein, war es das Zimmer Erlangers, so würde ihn dieser wohl empfangen, war es
das Zimmer eines anderen, so würde es doch möglich sein, sich zu entschuldigen und
wieder zu gehen, und schlief der Gast, was am wahrscheinlichsten war, würde K.s Besuch
gar nicht bemerkt werden; schlimm konnte es nur werden, wenn das Zimmer leer war, denn
dann würde K. kaum der Versuchung widerstehen können, sich ins Bett zu legen und endlos
zu schlafen. Er sah noch einmal nach rechts und links den Gang entlang, ob nicht doch
jemand käme, der ihm Auskunft geben und das Wagnis unnötig machen könnte, aber der
lange Gang war still und leer. Dann horchte K. an der Tür, auch hier kein Gast. Er
klopfte so leise, dass ein Schlafender dadurch nicht hätte geweckt werden können, und
als auch jetzt nichts erfolgte, öffnete er äußerst vorsichtig die Tür. Aber nun
empfing ihn ein leichter Schrei.
Es war ein kleines Zimmer, von einem breiten Bett mehr als zur Hälfte ausgefüllt, auf
dem Nachttischchen brannte die elektrische Lampe, neben ihr war eine Reisehandtasche. Im
Bett, aber ganz unter der Decke verborgen, bewegte sich jemand unruhig und flüsterte
durch einen Spalt zwischen Decke und Betttuch: »Wer ist es?« Nun konnte K. nicht ohne
weiteres mehr fort, unzufrieden betrachtete er das üppige, aber leider nicht leere Bett,
erinnerte sich dann an die Frage und nannte seinen Namen. Das schien eine gute Wirkung zu
haben, der Mann im Bett zog ein wenig die Decke vom Gesicht, aber ängstlich bereit, sich
gleich wieder ganz zu bedecken, wenn draußen etwas nicht stimmen sollte. Dann aber schlug
er die Decke ohne Bedenken zurück und setzte sich aufrecht. Erlanger war es gewiss nicht.
Es war ein kleiner, wohl aussehender Herr, dessen Gesicht dadurch einen gewissen
Widerspruch in sich trug, dass die Wangen kindlich rund, die Augen kindlich fröhlich
waren, dass aber die hohe Stirn, die spitze Nase, der schmale Mund, dessen Lippen kaum
zusammenhalten wollten, das sich fast verflüchtigende Kinn gar nicht kindlich waren,
sondern überlegenes Denken verrieten. Es war wohl die Zufriedenheit damit, die
Zufriedenheit mit sich selbst, die ihm einen starken Rest gesunder Kindlichkeit bewahrt
hatte. »Kennen Sie Friedrich?« fragte er. K. verneinte. »Aber er kennt Sie«, sagte der
Herr lächelnd. K. nickte; an Leuten, die ihn kannten, fehlte es nicht, das war sogar
eines der Haupthindernisse auf seinem Wege. »Ich bin sein Sekretär«, sagte der Herr,
»mein Name ist Bürgel.« »Entschuldigen Sie«, sagte K. und langte nach der
Klinke, »ich habe leider Ihre Tür mit einer anderen verwechselt. Ich bin nämlich zu
Sekretär Erlanger berufen.« »Wie schade«, sagte Bürgel. »Nicht dass Sie
anderswohin berufen sind, sondern dass Sie die Türen verwechselt haben. Ich schlafe
nämlich, einmal geweckt, ganz gewiss nicht wieder ein. Nun, das muss Sie aber nicht gar
so betrüben, das ist mein persönliches Unglück. Warum sind auch die Türen hier
unversperrbar, nicht? Das hat freilich seinen Grund. Weil nach einem alten Spruch die
Türen der Sekretäre immer offen sein sollen. Aber so wörtlich müsste auch das
allerdings nicht genommen werden.« Bürgel sah K. fragend und fröhlich an, im Gegensatz
zu seiner Klage schien er recht wohl ausgeruht; so müde, wie K. jetzt, war Bürgel wohl
noch überhaupt nie gewesen. »Wohin wollen Sie denn jetzt gehen?« fragte Bürgel. »Es
ist vier Uhr. Jeden, zu dem Sie gehen wollten, müssten Sie wecken, nicht jeder ist an
Störungen so gewöhnt wie ich, nicht jeder wird es so geduldig hinnehmen, die Sekretäre
sind ein nervöses Volk. Bleiben Sie also ein Weilchen. Gegen fünf Uhr beginnt man hier
aufzustehen, dann werden Sie am besten Ihrer Vorladung entsprechen können. Lassen Sie,
bitte, also endlich die Klinke los und setzen Sie sich irgendwohin, der Platz ist hier
freilich beengt, am besten wird es sein, wenn Sie sich hier auf den Bettrand setzen. Sie
wundern sich, dass ich weder Sessel noch Tisch hier habe? Nun, ich hatte die Wahl,
entweder eine vollständige Zimmereinrichtung mit einem schmalen Hotelbett zu bekommen
oder dieses große Bett und sonst nichts als den Waschtisch. Ich habe das große Bett
gewählt, in einem Schlafzimmer ist doch wohl das Bett die Hauptsache! Ach, wer sich
ausstrecken und gut schlafen könnte, dieses Bett müsste für einen guten Schläfer
wahrhaft köstlich sein. Aber auch mir, der ich immerfort müde bin, ohne schlafen zu
können, tut es wohl, ich verbringe darin einen großen Teil des Tages, erledige darin
alle Korrespondenzen, führe hier die Parteieinvernahmen aus. Es geht recht gut. Die
Parteien haben allerdings keinen Platz zum Sitzen, aber das verschmerzen sie, es ist doch
auch für sie angenehmer, wenn sie stehen und der Protokollist sich wohl fühlt, als wenn
sie bequem sitzen und dabei angeschnauzt werden. Dann habe ich nur noch diesen Platz am
Bettrand zu vergeben, aber das ist kein Amtsplatz und nur für nächtliche Unterhaltungen
bestimmt. Aber sie sind so still, Herr Landvermesser?« »ich bin sehr müde«,
sagte K., der sich auf die Aufforderung hin sofort, grob, ohne Respekt, aufs Bett gesetzt
und an den Pfosten gelehnt hatte. »Natürlich«, sagte Bürgel lachend, »hier ist jeder
müde. Es ist zum Beispiel keine kleine Arbeit, die ich gestern und auch heute schon
geleistet habe. Es ist ja völlig ausgeschlossen, dass ich jetzt einschlafe, wenn aber
doch dieses Allerunwahrscheinlichste geschehen und ich noch, solange Sie hier sind,
einschlafen sollte, dann, bitte, halten Sie sich still und machen Sie auch die Tür nicht
auf. Aber keine Angst, ich schlafe gewiss nicht ein und günstigenfalls nur für ein paar
Minuten. Es verhält sich nämlich mit mir so, dass ich, wahrscheinlich weil ich an
Parteienverkehr so sehr gewöhnt bin, immerhin noch am leichtesten einschlafe, wenn ich
Gesellschaft habe.« »Schlafen Sie nur, bitte, Herr Sekretär«, sagte K., erfreut
von dieser Ankündigung, »ich werde dann, wenn Sie erlauben, auch ein wenig schlafen.«
»Nein, nein«, lachte Bürgel wieder, »auf die bloße Einladung hin kann ich
leider nicht einschlafen, nur im Laufe des Gespräches kann sich die Gelegenheit dazu
ergeben, am ehesten schläfert mich ein Gespräch ein. Ja, die Nerven leiden bei unserem
Geschäft. Ich, zum Beispiel, bin Verbindungssekretär. Sie wissen nicht, was das ist?
Nun, ich bilde die stärkste Verbindung« hierbei rieb er sich eilig in
unwillkürlicher Fröhlichkeit die Hände »zwischen Friedrich und dem Dorf, ich
bilde die Verbindung zwischen seinen Schloss- und Dorfsekretären, bin meist im Dorf, aber
nicht ständig; jeden Augenblick muss ich darauf gefasst sein, ins Schloss hinaufzufahren.
Sie sehen die Reisetasche, ein unruhiges Leben, nicht für jeden taugt's. Andererseits ist
es richtig, dass ich diese Art der Arbeit nicht mehr entbehren könnte, alle andere Arbeit
schiene mir schal. Wie verhält es sich denn mit der Landvermesserei?« »Ich mache
keine solche Arbeit, ich werde nicht als Landvermesser beschäftigt«, sagte K., er war
wenig mit seinen Gedanken bei der Sache, eigentlich brannte er nur darauf, dass Bürgel
einschlafe, aber auch das tat er nur aus einem gewissen Pflichtgefühl gegen sich selbst,
zuinnerst glaubte er zu wissen, dass der Augenblick von Bürgels Einschlafen noch
unabsehbar fern sei. »Das ist erstaunlich«, sagte Bürgel mit lebhaftem Werfen des
Kopfes und zog einen Notizblock unter der Decke hervor, um sich etwas zu notieren. »Sie
sind Landvermesser und haben keine Landvermesserarbeit.« K. nickte mechanisch, er hatte
oben auf dem Bettpfosten den linken Arm ausgestreckt und den Kopf auf ihn gelegt, schon
verschiedentlich hatte er es sich bequem zu machen versucht, diese Stellung war aber die
bequemste von allen, er konnte nun auch ein wenig besser darauf achten, was Bürgel sagte.
»Ich bin bereit«, fuhr Bürgel fort, »diese Sache weiter zu verfolgen. Bei uns hier
liegen doch die Dinge ganz gewiss nicht so, dass man eine fachliche Kraft unausgenützt
lassen dürfte. Und auch für Sie muss es doch kränkend sein; leiden Sie denn nicht
darunter?« »Ich leide darunter«, sagte K. langsam und lächelte für sich, denn
gerade jetzt litt er darunter nicht im geringsten.
Auch machte das Anerbieten Bürgels wenig Eindruck auf ihn. Es war durchaus
dilettantisch. Ohne etwas von den Umständen zu wissen, unter welchen K.s Berufung erfolgt
war, von den Schwierigkeiten, welchen sie in der Gemeinde und im Schloss begegnete, von
den Verwicklungen, welche während K.s hiesigem Aufenthalt sich schon ergeben oder
angekündigt hatten, ohne von dem allen etwas zu wissen, ja sogar ohne zu zeigen, dass
ihn, was von einem Sekretär ohne weiteres hätte angenommen werden sollen, wenigstens
eine Ahnung dessen berühre, erbot er sich, aus dem Handgelenk mit Hilfe seines kleinen
Notizblockes die Sache da oben in Ordnung zu bringen. »Sie scheinen schon einige
Enttäuschungen gehabt zu haben«, sagte Bürgel und bewies damit doch wieder einige
Menschenkenntnis, wie sich K. überhaupt, seit er das Zimmer betreten hatte, von Zeit zu
Zeit aufforderte, Bürgel nicht zu unterschätzen, aber in seinem Zustand war es schwer,
etwas anderes als die eigene Müdigkeit gerecht zu beurteilen. »Nein«, sagte Bürgel,
als antworte er auf einen Gedanken K.s und wollte ihm rücksichtsvoll die Mühe des
Aussprechens ersparen. »Sie müssen sich nicht durch Enttäuschungen abschrecken lassen.
Es scheint hier manches ja daraufhin eingerichtet, abzuschrecken, und wenn man neu hier
ankommt, scheinen einem die Hindernisse völlig undurchdringlich. Ich will nicht
untersuchen, wie es sich damit eigentlich verhält, vielleicht entspricht der Schein
tatsächlich der Wirklichkeit, in meiner Stellung fehlt mir der richtige Abstand, um das
festzustellen, aber merken Sie auf, es ergeben sich dann doch wieder manchmal
Gelegenheiten, die mit der Gesamtlage fast nicht übereinstimmen, Gelegenheiten, bei
welchen durch ein Wort, durch einen Blick, durch ein Zeichen des Vertrauens mehr erreicht
werden kann als durch lebenslange, auszehrende Bemühungen. Gewiss, so ist es. Freilich
stimmen dann diese Gelegenheiten doch wieder insofern mit der Gesamtlage überein, als sie
niemals ausgenützt werden. Aber warum werden sie denn nicht ausgenützt, frage ich immer
wieder.« K. wusste es nicht; zwar merkte er, dass ihn das, wovon Bürgel sprach,
wahrscheinlich sehr betraf, aber er hatte jetzt eine große Abneigung gegen alle Dinge,
die ihn betrafen, er rückte mit dem Kopf ein wenig beiseite, als mache er dadurch den
Fragen Bürgels den Weg frei und könne von ihnen nicht mehr berührt werden. »Es ist«,
fuhr Bürgel fort, streckte die Arme und gähnte, was in einem verwirrenden Widerspruch
zum Ernst seiner Worte war, »es ist eine ständige Klage der Sekretäre, dass sie
gezwungen sind, die meisten Dorfverhöre in der Nacht durchzuführen. Warum aber klagen
sie darüber? Weil es sie zu sehr anstrengt? Weil sie die Nacht lieber zum Schlafen
verwenden wollen? Nein, darüber klagen sie gewiss nicht. Es gibt natürlich unter den
Sekretären Fleißige und minder Fleißige, wie überall; aber über allzu große
Anstrengung klagt niemand von ihnen, gar öffentlich nicht. Es ist das einfach nicht
unsere Art. Wir kennen in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen gewöhnlicher Zeit
und Arbeitszeit. Solche Unterscheidungen sind uns fremd. Was also haben aber dann die
Sekretäre gegen die Nachtverhöre? Ist es etwa gar Rücksicht auf die Parteien? Nein,
nein, das ist es auch nicht. Gegen die Parteien sind die Sekretäre rücksichtslos,
allerdings nicht um das Geringste rücksichtsloser als gegen sich selbst, sondern nur
genauso rücksichtslos. Eigentlich ist ja diese Rücksichtslosigkeit nichts als eiserne
Befolgung und Durchführung des Dienstes, die größte Rücksichtnahme, welche sich die
Parteien nur wünschen können. Dies wird auch im Grunde ein oberflächlicher
Beobachter merkt das freilich nicht völlig anerkannt; ja, es sind zum Beispiel in
diesem Falle gerade die Nachtverhöre, welche den Parteien willkommen sind, es laufen
keine grundsätzlichen Beschwerden gegen die Nachtverhöre ein. Warum also doch die
Abneigung der Sekretäre?« Auch das wusste K. nicht, er wusste so wenig, er unterschied
nicht einmal, ob Bürgel ernstlich oder nur scheinbar die Antwort forderte. Wenn du mich
in dein Bett legen lässt, dachte er, werde ich dir morgen Mittag oder noch lieber abends
alle Fragen beantworten. Aber Bürgel schien auf ihn nicht zu achten, allzu sehr
beschäftigte ihn die Frage, die er sich selbst vorgelegt hatte: »Soviel ich erkenne und
soviel ich selbst erfahren habe, haben die Sekretäre hinsichtlich der Nachtverhöre etwa
folgendes Bedenken: Die Nacht ist deshalb für Verhandlungen mit den Parteien weniger
geeignet, weil es nachts schwer oder geradezu unmöglich ist, den amtlichen Charakter der
Verhandlungen voll zu wahren. Das liegt nicht an Äußerlichkeiten, die Formen können
natürlich in der Nacht nach Belieben ebenso streng beobachtet werden wie bei Tag. Das ist
es also nicht, dagegen leidet die amtliche Beurteilung in der Nacht. Man ist
unwillkürlich geneigt, in der Nacht die Dinge von einem mehr privaten Gesichtspunkt zu
beurteilen, die Vorbringungen der Parteien bekommen mehr Gewicht, als ihnen zukommt, es
mischen sich in die Beurteilung gar nicht hingehörige Erwägungen der sonstigen Lage der
Parteien, ihrer Leiden und Sorgen, ein; die notwendige Schranke zwischen Parteien und
Beamten, mag sie äußerlich fehlerlos vorhanden sein, lockert sich, und wo sonst, wie es
sein soll, nur Fragen und Antworten hin- und widergingen, scheint sich manchmal ein
sonderbarer, ganz und gar unpassender Austausch der Personen zu vollziehen. So sagen es
wenigstens die Sekretäre, also Leute allerdings, die von Berufs wegen mit einem ganz
außerordentlichen Feingefühl für solche Dinge begabt sind. Aber selbst sie dies
wurde schon oft in unseren Kreisen besprochen merken während der Nachtverhöre von
jenen ungünstigen Einwirkungen wenig; im Gegenteil, sie strengen sich von vornherein an,
ihnen entgegenzuarbeiten und glauben schließlich, ganz besonders gute Leistungen zu
Stande gebracht zu haben. Liest man aber später die Protokolle nach, staunt man oft über
ihre offen zu Tage liegenden Schwächen. Und es sind dies Fehler, und zwar immer wieder
halb unberechtigte Gewinne der Parteien, welche wenigstens nach unseren Vorschriften im
gewöhnlichen kurzen Wege nicht mehr gutzumachen sind. Ganz gewiss werden sie einmal noch
von einem Kontrollamt verbessert werden, aber dies wird nur dem Recht nützen, jener
Partei aber nicht mehr schaden können. Sind unter solchen Umständen die Klagen der
Sekretäre nicht sehr berechtigt?« K. hatte schon ein kleines Weilchen in einem halben
Schlummer verbracht, nun war er wieder aufgestört. Warum dies alles? Warum dies alles?
fragte er sich und betrachtete unter den gesenkten Augenlidern Bürgel nicht wie einen
Beamten, der mit ihm schwierige Fragen besprach, sondern nur wie irgendetwas, das ihn am
Schlafen hinderte und dessen sonstigen Sinn er nicht ausfindig machen konnte. Bürgel
aber, ganz seinem Gedankengang hingegeben, lächelte, als sei es ihm eben gelungen, K. ein
wenig irrezuführen. Doch war er bereit, ihn gleich wieder auf den richtigen Weg
zurückzubringen. »Nun«, sagte er, »ganz berechtigt kann man diese Klagen ohne weiteres
auch wieder nicht nennen. Die Nachtverhöre sind zwar nirgends geradezu vorgeschrieben,
man vergeht sich also gegen keine Vorschrift, wenn man sie zu vermeiden sucht, aber die
Verhältnisse, die Überfülle der Arbeit, die Beschäftigungsart der Beamten im Schloss,
ihre schwere Abkömmlichkeit, die Vorschrift, dass das Parteienverhör erst nach
vollständigem Abschluss der sonstigen Untersuchung, dann aber sofort zu erfolgen habe,
alles dieses und anderes mehr hat die Nachtverhöre doch zu einer unumgänglichen
Notwendigkeit gemacht. Wenn sie nun aber eine Notwendigkeit geworden sind so sage
ich , ist dies doch auch, wenigstens mittelbar, ein Ergebnis der Vorschriften, und
an dem Wesen der Nachtverhöre mäkeln, hieße dann fast ich übertreibe natürlich
ein wenig, darum, als Übertreibung, darfich es aussprechen , hieße dann sogar an
den Vorschriften mäkeln.
Dagegen mag es den Sekretären zugestanden bleiben, dass sie sich innerhalb der
Vorschriften gegen die Nachtverhöre und ihre vielleicht nur scheinbaren Nachteile zu
sichern suchen, so gut es geht. Das tun sie ja auch, und zwar in größtem Ausmaß. Sie
lassen nur Verhandlungsgegenstände zu, von denen in jedem Sinne möglichst wenig zu
befürchten ist, prüfen sich vor den Verhandlungen genau und sagen, wenn das Ergebnis der
Prüfung es verlangt, auch noch im letzten Augenblick alle Einvernahmen ab, stärken sich,
indem sie eine Partei oft zehnmal berufen, ehe sie sie wirklich vornehmen, lassen sich
gern von Kollegen vertreten, welche für den betreffenden Fall unzuständig sind und ihn
daher mit größerer Leichtigkeit behandeln können, setzen die Verhandlungen wenigstens
auf den Anfang oder das Ende der Nacht an und vermeiden die mittleren Stunden, solcher
Maßnahmen gibt es noch viele, sie lassen sich nicht leicht beikommen, die Sekretäre, sie
sind fast ebenso widerstandsfähig wie verletzlich.« K. schlief, es war zwar kein
eigentlicher Schlaf, er hörte Bürgels Worte vielleicht besser als während des früheren
todmüden Wachens, Wort für Wort schlug an sein Ohr, aber das lästige Bewusstsein war
geschwunden, er fühlte sich frei, nicht Bürgel hielt ihn mehr, nur er tastete noch
manchmal nach Bürgel hin, er war noch nicht in der Tiefe des Schlafes, aber eingetaucht
in ihn war er. Niemand sollte ihm das mehr rauben. Und es war ihm, als sei ihm damit ein
großer Sieg gelungen, und schon war auch eine Gesellschaft da, dies zu feiern, und er
oder auch jemand anders hob das Champagnerglas zu Ehren dieses Sieges. Und damit alle
wissen sollten, worum es sich handle, wurde der Kampf und der Sieg noch einmal wiederholt
oder vielleicht gar nicht wiederholt, sondern fand erst jetzt statt und war schon früher
gefeiert worden, und es wurde nicht abgelassen, ihn zu feiern, weil der Ausgang
glücklicherweise gewiss war. Ein Sekretär, nackt, sehr ähnlich der Statue eines
griechischen Gottes, wurde von K. im Kampf bedrängt. Es war sehr komisch, und K.
lächelte darüber sanft im Schlaf, wie der Sekretär aus seiner stolzen Haltung durch K.s
Vorstöße immer aufgeschreckt wurde und etwa den hochgestreckten Arm und die geballte
Faust schnell dazu verwenden musste, um seine Blößen zu decken, und doch damit noch
immer zu langsam war. Der Kampf dauerte nicht lange; Schritt für Schritt, und es waren
sehr große Schritte, rückte K. vor. War es überhaupt ein Kampf? Es gab kein ernstliches
Hindernis, nur hier und da ein Piepsen des Sekretärs. Dieser griechische Gott piepste wie
ein Mädchen, das gekitzelt wird. Und schließlich war er fort, K. war allein in einem
großen Raum, kampfbereit drehte er sich um und suchte den Gegner; es war aber niemand
mehr da, auch die Gesellschaft hatte sich verlaufen, nur das Champagnerglas lag zerbrochen
auf der Erde. K. zertrat es völlig. Die Scherben aber stachen, zusammenzuckend erwachte
er doch wieder, ihm war übel wie einem kleinen Kind, wenn es geweckt wird. Trotzdem
streifte ihn beim Anblick der entblößten Brust Bürgels vom Traum her der Gedanke: Hier
hast du ja deinen griechischen Gott! Reiß ihn doch aus den Federn. »Es gibt aber«,
sagte Bürgel, nachdenklich das Gesicht zur Zimmerdecke erhoben, als suche er in der
Erinnerung nach Beispielen, könne aber keine finden, »es gibt aber dennoch trotz allen
Vorsichtsmaßregeln für die Parteien eine Möglichkeit, diese nächtliche Schwäche der
Sekretäre immer vorausgesetzt, dass es eine Schwäche ist für sich
auszunützen. Freilich, eine sehr seltene oder, besser gesagt, eine fast niemals
vorkommende Möglichkeit. Sie besteht darin, dass die Partei mitten in der Nacht
unangemeldet kommt. Sie wundern sich vielleicht, dass dies, obwohl es so nahe liegend
scheint, gar so selten geschehen soll. Nun ja, Sie sind mit unseren Verhältnissen nicht
vertraut. Aber auch Ihnen dürfte doch schon die Lückenlosigkeit der amtlichen
Organisation aufgefallen sein. Aus dieser Lückenlosigkeit aber ergibt sich, dass jeder,
der irgendein Anliegen hat oder aus sonstigen Gründen über etwas verhört werden muss,
sofort, ohne Zögern, meistens sogar noch ehe er selbst sich die Sache zurechtgelegt hat,
ja, noch ehe er selbst von ihr weiß, schon die Vorladung erhält. Er wird diesmal noch
nicht einvernommen, meistens noch nicht einvernommen, so reif ist die Angelegenheit
gewöhnlich noch nicht, aber die Vorladung hat er, unangemeldet kann er nicht mehr kommen,
er kann höchstens zur Unzeit kommen, nun, dann wird er nur auf das Datum und die Stunde
der Vorladung aufmerksam gemacht, und kommt er dann zu rechter Zeit wieder, wird er in der
Regel weggeschickt, das macht keine Schwierigkeit mehr; die Vorladung in der Hand der
Partei und die Vormerkung in den Akten, das sind für die Sekretäre zwar nicht immer
ausreichende, aber doch starke Abwehrwaffen. Das bezieht sich allerdings nur auf den für
die Sache gerade zuständigen Sekretär; die anderen überraschend in der Nacht anzugehen,
stünde doch noch jedem frei. Doch wird das kaum jemand tun, es ist fast sinnlos.
Zunächst würde man dadurch den zuständigen Sekretär sehr erbittern, wir Sekretäre
sind zwar untereinander hinsichtlich der Arbeit gewiss nicht eifersüchtig, jeder trägt
ja eine allzu hoch bemessene, wahrhaftig ohne jede Kleinlichkeit aufgeladene Arbeitslast,
aber gegenüber den Parteien dürfen wir Störungen der Zuständigkeit keinesfalls dulden.
Mancher hat schon die Partie verloren, weil er, da er an zuständiger Stelle nicht
vorwärts zu kommen glaubte, an unzuständiger durchzuschlüpfen versuchte. Solche
Versuche müssen übrigens auch daran scheitern, dass ein unzuständiger Sekretär, selbst
wenn er nächtlich überrumpelt wird und besten Willens ist zu helfen, eben infolge seiner
Unzuständigkeit kaum mehr eingreifen kann als irgendein beliebiger Advokat, oder im
Grunde viel weniger, denn ihm fehlt ja selbst wenn er sonst irgendetwas tun
könnte, da er doch die geheimen Wege des Rechtes besser kennt als alle die advokatischen
Herrschaften , es fehlt ihm einfach für die Dinge, bei denen er nicht zuständig
ist, jede Zeit, keinen Augenblick kann er dafür aufwenden. Wer würde also bei diesen
Aussichten seine Nächte dafür verwenden, unzuständige Sekretäre abzugeben, auch sind
ja die Parteien voll beschäftigt, wenn sie neben ihrem sonstigen Berufe den Vorladungen
und Winken der zuständigen Stellen entsprechen wollen, voll beschäftigt
freilich im Sinne der Parteien, was natürlich noch bei weitem nicht das Gleiche ist, wie
voll beschäftigt im Sinne der Sekretäre.« K. nickte lächelnd, er glaubte
jetzt, alles genau zu verstehen; nicht deshalb, weil es ihn bekümmerte, sondern weil er
nun überzeugt war, in den nächsten Augenblicken würde er völlig einschlafen, diesmal
ohne Traum und Störung; zwischen den zuständigen Sekretären auf der einen Seite und den
unzuständigen auf der anderen und angesichts der Masse der voll beschäftigten Parteien
würde er in tiefen Schlaf sinken und auf diese Weise allem entgehen. An die leise,
selbstzufriedene, für das eigene Einschlafen offenbar vergeblich arbeitende Stimme
Bürgels hatte er sich nun so gewöhnt, dass sie seinen Schlaf mehr befördern als stören
würde. Klappere, Mühle, klappere, dachte er, du klapperst nur für mich. »Wo ist nun
also«, sagte Bürgel, mit zwei Fingern an der Unterlippe spielend, mit geweiteten Augen,
gestrecktem Hals, etwa als nähere er sich nach einer mühseligen Wanderung einem
entzückenden Aussichtspunkt, »wo ist nun also jene erwähnte, seltene, fast niemals
vorkommende Möglichkeit? Das Geheimnis steckt in den Vorschriften über die
Zuständigkeit. Es ist nämlich nicht so und kann bei einer großen lebendigen
Organisation nicht so sein, dass für jede Sache nur ein bestimmter Sekretär zuständig
ist. Es ist nur so, dass einer die Hauptzuständigkeit hat, viele andere aber auch zu
gewissen Teilen eine, wenn auch kleinere Zuständigkeit haben. Wer könnte allein, und
wäre es der größte Arbeiter, alle Beziehungen auch nur des kleinsten Vorfalles auf
seinem Schreibtisch zusammenhalten? Selbst was ich von der Hauptzuständigkeit gesagt
habe, ist zu viel gesagt. Ist nicht in der kleinsten Zuständigkeit auch schon die ganze?
Entscheidet hier nicht die Leidenschaft, mit welcher die Sache ergriffen wird? Und ist die
nicht immer die gleiche, immer in voller Stärke da? In allem mag es Unterschiede unter
den Sekretären geben, und es gibt solcher Unterschiede unzählige, in der Leidenschaft
aber nicht; keiner von ihnen wird sich zurückhalten können, wenn an ihn die Aufforderung
herantritt, sich mit einem Fall, für den er nur die geringste Zuständigkeit besitzt, zu
beschäftigen. Nach außen allerdings muss eine geordnete Verhandlungsmöglichkeit
geschaffen werden, und so tritt für die Parteien je ein bestimmter Sekretär in den
Vordergrund, an den sie sich amtlich zu halten haben. Es muss dies aber nicht einmal
derjenige sein, der die größte Zuständigkeit für den Fall besitzt, hier entscheidet
die Organisation und ihre besonderen augenblicklichen Bedürfnisse. Dies ist die Sachlage.
Und nun erwägen Sie, Herr Landvermesser, die Möglichkeit, dass eine Partei durch
irgendwelche Umstände trotz den Ihnen schon beschriebenen, im Allgemeinen völlig
ausreichenden Hindernissen dennoch mitten in der Nacht einen Sekretär überrascht, der
eine gewisse Zuständigkeit für den betreffenden Fall besitzt. An eine solche
Möglichkeit haben Sie wohl noch nicht gedacht? Das will ich Ihnen gern glauben. Es ist ja
auch nicht nötig, an sie zu denken, denn sie kommt ja fast niemals vor. Was für ein
sonderbar und ganz bestimmt geformtes, kleines und geschicktes Körnchen müsste eine
solche Partei sein, um durch das unübertreffliche Sieb durchzugleiten? Sie glauben, es
kann gar nicht vorkommen? Sie haben recht, es kann gar nicht vorkommen. Aber eines Nachts
wer kann für alles bürgen? kommt es doch vor. Ich kenne unter meinen
Bekannten allerdings niemanden, dem es schon geschehen wäre, nun beweist das zwar sehr
wenig, meine Bekanntschaft ist im Vergleich zu den hier in Betracht kommenden Zahlen
beschränkt, und außerdem ist es auch gar nicht sicher, dass ein Sekretär, dem etwas
Derartiges geschehen ist, es auch gestehen will, es ist immerhin eine sehr persönliche
und gewissermaßen die amtliche Scham ernst berührende Angelegenheit. Immerhin beweist
aber meine Erfahrung vielleicht, dass es sich um eine so seltene, eigentlich nur dem
Gerücht nach vorhandene, durch gar nichts anderes bestätigte Sache handelt, dass es also
sehr übertrieben ist, sich vor ihr zu fürchten. Selbst wenn sie wirklich geschehen
sollte, kann man sie sollte man glauben förmlich dadurch unschädlich
machen, dass man ihr, was sehr leicht ist, beweist, für sie sei kein Platz auf dieser
Welt. Jedenfalls ist es krankhaft, wenn man sich aus Angst vor ihr unter der Decke
versteckt und nicht wagt hinauszuschauen. Und selbst wenn die vollkommene
Unwahrscheinlichkeit plötzlich hätte Gestalt bekommen sollen, ist dann schon alles
verloren? Im Gegenteil. Dass alles verloren sei, ist noch unwahrscheinlicher als das
Unwahrscheinlichste. Freilich, wenn die Partei im Zimmer ist, ist es schon sehr schlimm.
Es beengt das Herz. Wie lange wirst du Widerstand leisten können? fragte man sich.
Es wird aber gar kein Widerstand sein, das weiß man. Sie müssen sich die Lage nur
richtig vorstellen. Die niemals gesehene, immer erwartete, mit wahrem Durst erwartete und
immer vernünftigerweise als unerreichbar angesehene Partei sitzt da. Schon durch ihre
stumme Anwesenheit lädt sie ein, in ihr armes Leben einzudringen, sich darin umzutun wie
in eigenem Besitz und dort unter ihren vergeblichen Forderungen mitzuleiden. Diese
Einladung in der stillen Nacht ist berückend. Man folgt ihr und hat nun eigentlich
aufgehört, Amtsperson zu sein. Es ist eine Lage, in der es schon bald unmöglich wird,
eine Bitte abzuschlagen. Genau genommen ist man verzweifelt; noch genauer genommen, ist
man sehr glücklich. Verzweifelt, denn die Wehrlosigkeit, mit der man hier sitzt und auf
die Bitte der Partei wartet und weiß, dass man sie, wenn sie einmal ausgesprochen ist,
erfüllen muss, wenn sie auch, wenigstens soweit man es selbst übersehen kann, die
Amtsorganisation förmlich zerreißt: das ist ja wohl das Ärgste, was einem in der Praxis
begegnen kann. Vor allem von allem anderen abgesehen , weil es auch eine
über alle Begriffe gehende Rangerhöhung ist, die man hier für den Augenblick für sich
gewaltsam in Anspruch nimmt. Unserer Stellung nach sind wir ja gar nicht befugt, Bitten,
wie die, um die es sich hier handelt, zu erfüllen, aber durch die Nähe dieser
nächtlichen Partei wachsen uns gewissermaßen auch die Amtskräfte, wir verpflichten uns
zu Dingen, die außerhalb unseres Bereiches sind; ja, wir werden sie auch ausführen. Die
Partei zwingt uns in der Nacht, wie der Räuber im Wald, Opfer ab, deren wir sonst niemals
fähig wären; nun gut, so ist es jetzt, wenn die Partei noch da ist, uns stärkt und
zwingt und aneifert und alles noch halb besinnungslos im Gange ist; wie wird es aber
nachher sein, wenn es vorüber ist, die Partei, gesättigt und unbekümmert, uns verlässt
und wir dastehen, allein, wehrlos im Angesicht unseres Amtsmissbrauches das ist gar
nicht auszudenken! Und trotzdem sind wir glücklich. Wie selbstmörderisch das Glück sein
kann! Wir könnten uns ja anstrengen, der Partei die wahre Lage geheim zu halten. Sie
selbst aus eigenem merkt ja kaum etwas. Sie ist ja ihrer Meinung nach wahrscheinlich nur
aus irgendwelchen gleichgültigen, zufälligen Gründen übermüdet, enttäuscht,
rücksichtslos und gleichgültig aus Übermüdung und Enttäuschung in ein anderes
Zimmer gedrungen, als sie wollte, sie sitzt unwissend da und beschäftigt sich in
Gedanken, wenn sie sich überhaupt beschäftigt, mit ihrem Irrtum oder mit ihrer
Müdigkeit. Könnte man sie nicht dabei verlassen? Man kann es nicht. In der
Geschwätzigkeit der Glücklichen muss man ihr alles erklären. Man muss, ohne sich im
geringsten schonen zu können, ihr ausführlich zeigen, was geschehen ist, und aus welchen
Gründen dies geschehen ist, wie außerordentlich selten und wie einzig groß die
Gelegenheit ist, man muss zeigen, wie die Partei zwar in diese Gelegenheit in aller
Hilflosigkeit, wie sie deren kein anderes Wesen als eben nur eine Partei fähig sein kann,
hineingetappt ist, wie sie aber jetzt, wenn sie will, Herr Landvermesser, alles
beherrschen kann und dafür nichts anderes zu tun hat, als ihre Bitte irgendwie
vorzubringen, für welche die Erfüllung schon bereit ist, ja, welcher sie sich
entgegenstreckt, das alles muss man zeigen; es ist die schwere Stunde des Beamten. Wenn
man aber auch das getan hat, ist, Herr Landvermesser, das Notwendigste geschehen, man muss
sich bescheiden und warten.«
K. schlief, abgeschlossen gegen alles, was geschah. Sein Kopf, der zuerst auf dem
linken Arm oben auf dem Bettpfosten gelegen war, war im Schlaf abgeglitten und hing nun
frei, langsam tiefer sinkend; die Stütze des Armes oben genügte nicht mehr,
unwillkürlich verschaffte K. sich eine neue dadurch, dass er die rechte Hand gegen die
Bettdecke stemmte, wobei er zufällig gerade den unter der Decke aufragenden Fuß Bürgels
ergriff. Bürgel sah hin und überließ ihm den Fuß, so lästig das sein mochte.
Da klopfte es mit einigen starken Schlägen an die Seitenwand. K. schrak auf und sah
die Wand an. »Ist nicht der Landvermesser dort?« fragte es. »Ja«, sagte Bürgel,
befreite seinen Fuß von K. und streckte sich plötzlich wild und mutwillig wie ein
kleiner Junge. »Dann soll er endlich herüberkommen«, sagte es wieder; auf Bürgel oder
darauf, dass er etwa K. noch benötigen könnte, wurde keine Rücksicht genommen. »Es ist
Erlanger«, sagte Bürgel flüsternd; dass Erlanger im Nebenzimmer war, schien ihn nicht
zu überraschen. »Gehen Sie gleich zu ihm, er ärgert sich schon, suchen Sie ihn zu
besänftigen. Er hat einen guten Schlaf; wir haben uns aber doch zu laut unterhalten; man
kann sich und seine Stimme nicht beherrschen, wenn man von gewissen Dingen spricht. Nun,
gehen Sie doch, Sie scheinen sich ja aus dem Schlaf gar nicht herausarbeiten zu können.
Gehen Sie, was wollen Sie denn noch hier? Nein, Sie müssen sich wegen Ihrer
Schläfrigkeit nicht entschuldigen, warum denn? Die Leibeskräfte reichen nur bis zu einer
gewissen Grenze; wer kann dafür, dass gerade diese Grenze auch sonst bedeutungsvoll ist?
Nein, dafür kann niemand. So korrigiert sich selbst die Welt in ihrem Lauf und behält
das Gleichgewicht. Das ist ja eine vorzügliche, immer wieder unvorstellbar vorzügliche
Einrichtung, wenn auch in anderer Hinsicht trostlos. Nun, gehen Sie, ich weiß nicht,
warum Sie mich so ansehen. Wenn Sie noch lange zögern, kommt Erlanger über mich, das
möchte ich sehr gern vermeiden. Gehen Sie doch; wer weiß, was Sie drüben erwartet, hier
ist ja alles voll Gelegenheiten. Nur gibt es freilich Gelegenheiten, die gewissermaßen zu
groß sind, um benützt zu werden, es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst
scheitern. Ja, das ist staunenswert. Übrigens hoffe ich jetzt doch, ein wenig einschlafen
zu können. Freilich ist es schon fünf Uhr, und der Lärm wird bald beginnen. Wenn
wenigstens Sie schon gehen wollten!«
Betäubt von dem plötzlichen Gewecktwerden aus tiefem Schlaf, noch grenzenlos
schlafbedürftig, mit überall infolge der unbequemen Haltung schmerzhaftem Körper,
konnte sich K. lange nicht entschließen aufzustehen, hielt sich die Stirn und sah hinab
auf seinen Schoß. Selbst die fortwährenden Verabschiedungen Bürgels hätten ihn nicht
dazu bewegen können, fortzugehen, nur ein Gefühl der völligen Nutzlosigkeit jeden
weiteren Aufenthaltes in diesem Zimmer brachte ihn langsam dazu. Unbeschreiblich öde
schien ihm dieses Zimmer. Ob es so geworden oder seit jeher so gewesen war, wusste er
nicht. Nicht einmal wieder einzuschlafen würde ihm hier gelingen. Diese Überzeugung war
sogar das Entscheidende; darüber ein wenig lächelnd, erhob er sich, stützte sich, wo er
nur eine Stütze fand, am Bett, an der Wand, an der Tür, und ging, als hätte er sich
längst von Bürgel verabschiedet, ohne Gruß hinaus.
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