Martin Walser „Tod eines Kritikers"
Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002 3-518-41378-3Roman


Erzähler
-Michael Landolf
-Freund und Nachbar von H.Lach
-Autor mit Themen zu Mystik, Kabbala, Alchemie
-Versucht Unschuld von H.Lach zu beweisen

Mörder
-Hans Lach
-Autor („Wunsch, Verbrecher zu sein"; „Mädchen ohne Zehennägel")
-In FAZ und „Sprechstunde" beschimpft und verrissen
-verweigert nach dem Mord zunächst jede Aussage und hat kein Alibi

Opfer
-André Ehrl-König
-mächtiger Literaturkritiker
-wird nach Party zu „Sprechstunde" ermordet, Leiche nie gefunden
-hat keine Freunde, viele Feinde
-gestikuliert wild
-wird mit Christus verglichen

Fadenzieher
-Rainer Heiner Henkel (RHH)
-Arachnologe, Lyriker, Kunsthistoriker
-lebt mit seiner Schwester zusammen
-hat Ehrl-König in die Medien gebracht und benutzte ihn als Marionette
-telefonierte täglich von 0:00-3:00 mit Ehrl-König (bis es zu Bruch kam)
-Wichtige Bezugsperson bei Ermittlungen: „Silberfuchs"

weitere Personen
-Ermittler: KHK Wedekind
-Autor eines „guten Buches": Philip Roth
-Verleger: Ludwig Pilgrim
-Verlegergattin: Julia Pelz-Pilgrim
-Gast in „Sprechstunde": Martha Friday
-Dichter, der Lach beeindruckt: Mani Mani
-Schwester von RHH: Ilse Franke von Ziethen

Martin Walser

Überblick (kurz)
1927

Martin Walser wird in Wasserburg/Bodensee geboren.
1949-1957
Reporter, Regisseur und Hörspielautor beim Süddeutschen Rundfunk.
In dieser Zeit unternimmt Walser für Funk und Fernsehen Reisen nach Italien, Frankreich, England, Polen und in die CSSR.
1953
Walser wird Mitglied der „Gruppe 47". Dieser Zusammenschluß von Schriftstellern und Publizisten setzt sich für ein neues, demokratisches Deutschland ein und bestimmt das Bild der westdeutschen Literatur bis in die 60er Jahre hinein.
1988
November: Bei einem Auftritt in der Reihe "Reden über das eigenen Land: Deutschland" erregt Walser mit dem Bekenntnis Aufsehen, daß er sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden könne.
1998
Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Er kritisiert die "Instrumentalisierung" von Auschwitz und behauptet, die permanente Thematisierung des Holocaust erziele letztlich den Effekt des Wegschauens.
Bubis wirft Walser "geistige Brandstiftung" vor.
Wer Walser verteidigte wurde des „latenten Antisemitismus" bezichtigt



Stellungnahme in der FAZ
Der Bruch! Über alle Bubis-Debatten und Geschichtsgefühl-Reden hatte die FAZ dem Autor Martin Walser die Treue gehalten. Damit ist es vorbei. Frank Schirrmacher erklärt Martin Walser in einem offenen Brief, warum die FAZ den "wie ein Staatsgeheimnis" behandelten neuen Roman Walsers nicht vorabdrucken will, obwohl es Walser gern so hätte. Der Roman, so Schirrmacher, "ist eine Exekution. Eine Abrechnung ... mit Marcel Reich-Ranicki." Es geht darin um einen Mord (der am Ende keiner ist) am fiktiven Kritiker Andre Ehrl-König. Dann geht's zur Sache. Schirrmacher wirft Walser antisemitische Klischees vor, "aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die ... unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: 'Umgebracht zu werden passt doch nicht zu Andre Ehrl-König.' Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, dass er zweimal in dem Roman vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich."


Stellungnahme von Martin Walser zu den Rekationen auf sein Buch.
Martin Walser: Es geht um die Machtausübung im Kulturbetrieb. Basta! Und da habe ich so viel Erfahrung, dass ich darüber einen Roman schreiben kann. Der Roman handelt auch vom Schicksal der Poesie in diesem immer rauer und quotensüchtiger werdenden Literaturbetrieb.



Gliederung des Inhaltes
Buch I
Verstrickung
-Bekanntwerden des Mordes
-Vorstellung der Beteiligten Personen
-Verhältnis von Opfer, Täter und Erzähler zueinander
-Tathergang und Beschreibung des mächtigen Literaturbetriebes
-Auszüge aus „Wunsch, Verbrecher zu sein"

Buch II
Geständnis
-Lach gesteht
-Lach kommt in Psychiatrie
-Fragestellung sei ein Mord an einem Juden herauszuheben
-Frau von Ehrl-König macht Gegengeständnis
-André Ehrl-König taucht wieder auf (hatte die Zeit bei Cosi von Syrgenstein verbracht)
-Tonbänder

Buch III
Verklärung
-Verschmelzung der Personen Landolf und Lach
-Selbstmord von Mani Mani
Utopie 2084 als Notiz

Der zur Schriftsetzung letzte Preisträger des Friedenspreises des Börsenverseins des Deutschen Buchhandels Peter Esterhazy hielt bei der Preisverleihung eine durchaus humoristische Dankesrede. Auffällig oft und geschickt setzte er das Wort Moralkeule ein und machte damit eine Anspielung auf den Preisträger von 1998, Martin Walser. Dessen selbstreflektierende Rede hatte damals großes Aufsehen erregt und eine gesellschaftliche Schlammschlacht mit dem Thema Antisemitismus bewirkt.
Der Roman "Tod eines Kritikers" kann als Auswertung und Fortsetzung dieser Rede und der Reaktionen darauf gelten.
Michael Landolf, der Erzähler, ist selbst Autor mit den Spezialgebieten Mystik, Kabbala und Alchemie. Zu beginn des Romans befindet er sich in Niederlanden, um bei einer Galerieeröffnung eine Rede zu halten, fährt jedoch Hals über Kopf nach München zurück, als er erfährt, sein Freund Hans lach sei verhaftet worden. Er ist dringend verdächtig, de Literaturkritiker Andre Ehrl-König umgebracht zu haben. Über das ganze erste Buch ist sich der Erzähler unsicher, ob er wirklich ein freund des Lach sei oder doch nur einfach in der gleichen Gegend wohnt, andererseits fühlt er, der einzige Freund zu sein, den Hans Lach habe. Er besucht ihn in der Haftanstalt. Hans Lach schweigt. Schweigt zu Landolf, den Ermittlern, zu seiner Frau. Michael ist von Lachs Unschuld überzeugt und will sie beweisen und verwendet Wochen drauf, sich mit den Ermittlern, den Weggefährten von Täter und Opfer zu treffen. Dabei erhält der Leser einen tiefen Einblick in die Umstände und den Hergang der Tat. Detailliert wird vor allem das Leben von Andre Ehrl-König beschrieben, der das jüngste Werk von Lach in seiner Sendung "Sprechstunde" enorm verrissen hatte. In der Party, die dieser Sendung stets folgte, war Lach uneingeladen erschienen und hatte Ehrl-König beschimpf. "Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen" - ein Satz im Stil von Hitler-Reden musste befremdet haben und im Nachhinein den Tatverdacht natürlich auf Lach wenden. Derweil konnte die Leiche augrund des Schnees nicht gefunden werden. Eine aus einer Reihe von Figuren, die ebenfalls reichlich Motivation hatten , den Literaturkritiker zu töten, ist der mit RHH abgekürzte Rainer Heiner Henkel, der Ehrl-König zu der Medienpräsenz gebracht hatte, die diesen so mächtig hatte werden lassen. Es wird gemunkelt, dass Ehrl König im Grund die Marionette von RHH war, keiner seiner vielzitierten Sätze aus eigener Produktion stammten, sondern ihm von RHH in den täglichen dreistündigen Telefongesprächen eingeflüstert worden waren. Am 17. Dezember, fünf Wochen vor dem Mord war es jedoch zum Bruch zwischen RHH und EK gekommen, worauf sich EK Hans Lach als neuen Verbündeten suchte.

Der Roman, der als Beschreibung des deutschen Kulturbetriebes angelegt ist, hält nicht geheim, wer real hinter Ehrl.könig steckt: Marcel Reich Ranicki, dem großen Kritiker und seiner zdf-Sendung "Literarisches Quartett". Dessen jüdische Familie war von den Nationalsozialisten fast völlig ausgerottet worden. Daher auch die heftigen Reaktionen auf dieses Buch. Dabei reagiert das Medienbewusstsein interessanterweise genau so, wie es in diesem Roman beschrieben wird.
Bedeutungsvoll ist das Pseudonym Ehrl-König, ein Name, der Goethes Erlkönig entlehnt ist. Die furcheregende Gestalt des Erlenkönigs verleit dem Kritiker schon vorab eine unheimliche Note. Bei Goethe stirbt das Kind schließlich an seiner eigenen Angst, so wie sich nach Meinung Walsers das deutsche Volk an seiner Schande geißelt.
Andre Ehrl-König ist es gewohnt, wild zu gestikulieren, pflegt eine besondere Aussprache, die ihn sehr einfach zu imitieren macht, was seine Popularität begründet. Auch wird er mit Christus verglichen und seine Herkunft ist verschleiert. Dennoch erregt es die Medien besonders, dass in ihm ein Jude getötet wurde. Das verdient in Deutschland besondere Aufmerksamkeit.
Hier gerade liegt Walsers Kritikpunkt: Den Juden an sich als besonders und besonders schützenswert einzustufen sei doch letztendlich Antisemitismus, auch wenn sich die Medien als besonders antifaschistisch betrachten, wenn sie die Rassen trennen und allein die Wertigkeit dieser umdrehen.
Das zweite Buch startet mit dem Geständnis Lachs, de in die forensische Anstalt eingeliefert wird. Erneut besucht ihn Landolf, der von Lach einige Tonbandaufzeichnungen mitbekommt. Hiermit wird der Dichter Mani Mani vorgestellt, von dem Lach begeistert ist. Mani hatte eine Fernsehmoderatorin vergewaltigt und erklärt seine Handlungsweise auf einem der Tonbänder. Er hatte einfach zugreifen müssen, da er sich beim Fernsehen andauernd von ihr angemacht fühlte.
Dann Überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst macht die Gattin des Opfers ein Gegengeständnis. Sie habe ihren Mann getötet, sich von ihm befreien müssen. Doch ist dieses Geständnis lediglich das Signal an Ehrl-König, wieder aufzutauchen. Er hatte die Zeit bei Cosy von Syrgenstein verbracht und sich von dem Medienrummel erholt den Rummel um seine Ermordung interessiert verfolgt.
Verklärung. Der Titel des dritten Buches. Zunächst einmal fährt Lach, der mit der Figur des Michael Landolf verschmolz, in den Urlaub. Mit der Witwe des Verlegers von Ehrl-König, verbringt er erotische Wochen auf der Privatvilla auf Mallorca. Er erfährt vom Selbstmord von Mani Mani und verfasst die Notiz "2084 - Eine Notiz aus der Überlieferung des Zukünftigen" Dass schon im Titel die Anspielung auf Orwells 1984 erfolgt scheint überflüssig und plump, da der Inhalt dieses Zitat deutlich genug macht. Der ganze Ekel Walsers vor der täglichen Schlammschlacht über Kultur wird mehr als drastisch verdeutlicht.
Der Roman klingt dann langsam aus, indem Lach langsam in das Leben zurückfindet. So kann auch der Leser frei und leicht den Roman beenden.
Betrachtet man ihn als Kriminalgeschichte, ist er nichts als billig. Es kommt dem Autoren auf ganz anderes an.
Die im Roman integrierten Werke wie die Tonbänder, Auszüge aus "Wunsch, ein Verbrecher zu sein" von Lach oder die besprochene Notiz lockern den Roman auf, der mit reicher Wortwahl, Parallelen und Anspielungen gefällt.
Zwar kann der Roman nicht als antisemitisch bezeichnet werden, doch die Anklage gegen den Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki ist heftig und defamierend. Immerhin erscheint Ehrl-könig mit Eigenschaften wie der erotischen Vorliebe für Frauen im dritten Monat nicht eben sympathisch.
Es ist ein mutiger Roman, wie auch seine Rede zur Friedenspreisverleihung.

1)eine theosophische jüdische Mystik, entstanden im 12. Jahrhundert in Südfrankreich (Buch Bahir), voll entwickelt (gegen 1300) in Spanien (Buch Sohar), am Ende des Mittelalters und in der Neuzeit popularisiert und mit messianischen Bewegungen verbunden. Die Kabbala griff die Lehre von den 10 Sefirot (Schöpfungsfaktoren) des Buches Jezira auf und verband sie mit der neuplatonischen Vorstellung von geistigen Mittelstufen zwischen jenseitiger Gottheit und Welt/Mensch, aber auch mit traditionellen jüdischen Motiven (z. B. 10 Worte Gottes bei der Schöpfung). Zugrunde liegt die Überzeugung, dass die (unpersönliche) Gottheit selbst verborgen (jenseitig) bleibt und nur in ihren Wirkungskräften, den 10 Sefirot, offenbar wird. Israel hat mit der Erfüllung oder Nichterfüllung der Tora-Gebote positiven oder negativen Einfluss auf die Sefirotvorgänge. Es handelt sich also um eine metaphysische und ontologische Überhöhung des jüdischen Erwählungsglaubens im Rahmen einer umfassenden und oft faszinierenden Welterklärung

Auszug 1 (im Roman einer von vielen Lesungen aus "Wunsch ein Verbrecher zu sein")

Versuch über Größe. Zuerst das Geständnis, daß Denken mir nichts bringt. Ich bin auf Erfahrung angewiesen. Leider. Erfahren geht ja viel langsamer als denken. Denken kann man schnell. Denken ist keine Kunst. Denken ist großartig. Durch Denken wird man Herr über die Bedingungen, unter denen man sonst litte. All das ist erfahren nicht. Nach meiner Erfahrung, der ich neuestens bis zur Unerträglichkeit ausgesetzt bin. In einem Satz gesagt: Immer öfter merke ich, daß Menschen, mit denen ich spreche, während wir miteinander sprechen, größer werden. Ich könnte auch sagen: ich werde, während wir sprechen, kleiner. Das ist eine peinliche Erfahrung. Und am peinlichsten, wenn das öffentlich vor sich geht. In einem Restaurant. Oder - am allerschlimmsten - im Fernsehstudio. Katastrophal...Aber - und das ist die neueste Erfahrung überhaupt - auch wenn andere Leute in einer gewissen Art über mich sprechen, werde ich kleiner. Und das, ohne daß ich gerade mit diesen Leuten zusammen bin oder auch nur weiß, daß die gerade über mich sprechen. Ich sitze zu Hause an meinem Arbeitstisch, und wenn ich aufstehen will, reichen meine Füße nicht mehr auf den Teppich hinab, auf den mein Schreibtischstuhl steht. Das ist nicht so schlimm, weil ich auf meinem Keshan, wenn ich vom Stuhl herunterspringe, weich lande. Und - das ist bei dieser Erfahrung das Wichtigste und eigentlich auch das Schönste - nachts regeneriere ich mich. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, habe ich wieder meine alte Größe. . Bis jetzt. Einzweiundachtzig. Seit ich diese Erfahrung des Schrumpfens und Wiederwachsens mache, messe ich jeden Tag. Tatsächlich genügt es, um wieder die Normalgröße zu gewinnen, nicht, wach im Bett zu liegen. Ich muss schon schlafen. Und nicht jeder Schlaf bringt gleich viel Regeneration. Inzwischen messe ich mich abends und morgens. Wenn mir abends öfter mal zehn Zentimeter fehlen, fehlen mir nach einer nicht ganz störungsfreiem Schlaf doch noch zwei oder drei Zentimeter. Ich habe von Schuhen gehört, die so geschaffen sind, daß man in ihnen zwei bis drei Zentimeter größer ist, und man erkennt von außen nicht, daß es sich um eine Schuhkonstruktion handelt. Nach so etwas werde ich auf jeden Fall suchen. Nach traumlosem Schlaf, in den die Welt also nicht hineinwirkt, habe ich immer meine einzweiundachtzig. Ich glaube noch nicht, daß das ganze ein Problem für den Psychiater oder Psychotherapeuten ist. Ich werde dieser Erfahrung mit Aufzeichnungen folgen, sie dadurch anschaubar und vielleicht überwindbar machen. Allerdings: Erfahrungen sind nicht so leicht beherrschbar wie das Denken. Durch das Denken herrscht man ja selber. Erfahrungen ist man eher ausgeliefert. Aber sie aufzeichnen hilft. Das ist auch eine Erfahrung.

2084
Eine Notiz aus der Überlieferung des Zukünftigen


Jetzt wissen wir, daß das Mittelalter erste beendet war, die Neuzeit erst begonnen hat, als auch in der schroffsten Kluft des Kaukasus und entlegensten Andennest kein Mensch mehr im sogenannten Geschlechtsverkehr gezeugt wurde; als Papier nicht mehr vorkam; als die Gravitationswellen entdeckt waren und zum ersten Mal normale Körperzellen in Stammzellen umgewandelt wurden und dann endlich der erste Mensch ohne Darm gezüchtet werden durfte. Die E-O-Kultur war da.
Wie bitte, fragte sie.
Ejakulation und Orgasmus.
Das hieß für die Literatur: Hemingway lag falsch, als er vorhergesagt hatte, es werde immer mehr Kritiker und immer weniger Schriftsteller geben. Mit der E-O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden die Kritikerwichtiger, als sie je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden. Je mehr geschrieben wurde, desto weniger wurde gelesen. Als die E-O-Kultur global blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Weltbevölkerung aufgehört zu lesen oder gar nicht erst angefangen. Die Kritiker, jetzt Kritoren genannt, wußten noch, was Literatur einmal gewesen war. Daß sie noch lesen konnten, verschaffte ihnen eine Art religiöser Gewalt. Daß aus nicht mehr als 24 Buchstaben soviel Verschiedenes zusammengesetzt werden konnte, wie die Kritoren, wenn sie über diese Buchstabengebilde stritten, vermitteln konnte, war atemberaubend. Die Kritoren lasen zwar auch nicht selber, aber sie ließen lesen und ließen dann die, die etwas geschrieben hatten, etwas, was gerühmt oder verdammt werden mußte, einladen. Andauernd saßen in den Manegen Schriftsteller in Kabinen und lasen von ihren Head-Tops, was sie geschrieben hatten. Nur im Eventpalast waren die Kabinen, in denen die Autoren lasen, aus Glas. Diese Glaskabinen kreisten auf Transportbändern unter dem gläsernen Boden der Manege. Oben die Kritoren, genannt die Großen Vier. Der All, der Affe, die Auster und die Klitornostra oder die Feuerraupe. Auf rieseigen Bildschirmen sah man, wie die Großen Vier unter den Lesungen der Schriftsteller litten oder jubilierten. Es gab nur Leiden oder Jubilieren. Solche Event-Manegen gab es in allen Erdteilen. Aber die Großen Vier, die die GLÄSERNE MANEGE erfunden hatten, waren die Größten. Im Leiden und im Jubilieren. Der Aal war der unübertreffbare Meister in beidem. Der Affe, die Auster und die Kitornostra wußten, daß sie hier nur auftreten konnten, solange der Aal auftreten konnte. Da man mit den Antiagingcells das Altern gestoppt hatte, war ein Ende nicht zu befürchten. Auch die Fortpflanzung überließ man ja längst nicht mehr irgendwelchen Unbeherrschtheitsregungen, die zu ihren Folgen immer im krassesten Mißverhältnis standen. Inzwischen waren sich alle Fakultäten darüber einig geworden, daß die Unverhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung bei dem, was Geschlechtsverkehr genannt wurde, das eigentliche Charakteristikum des Mittelalters gewesen ist, das wir inzwischen durch demographisch kalkulierte Fortpflanzung auf das glücklichste hinter uns gebracht haben. Zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr liefern jetzt alle ihre Ei- und Samenzellen in die Subtanz-Bank, und wenn die Lieferanten dran sind und das auch wollen, findet die Befruchtung im Palast des Leibes statt, und zwar höchst feierlich.
auch als man noch nicht jede Körperzelle in Stammstellen umwandeln konnte, hatte man schon Antiagingcells aus den Hoden der Drosophila gewonnen.
im Science-Txt und im Developmental Cell-Net wurde die Jahrtausend-Entdeckung beschrieben. Wie jene Nachbarschaftszellen, die je nach ihrer Entfernung von der Spitze des Taufliegen-Hodens, sich in Spermien umwandeln, ist ein Verlauf, den die Evolution sich offenbar nur einmal hat einfallen müssen, das heißt beim Menschen folgt dem gleichen Muster wie bei der Taufliege. Als man dann aus menschlichen Körperzellen Stammzellen machen konnte, konnte man sich für Spermiengewinnung und Alterungstopp sozusagen bei sich selber bedienen. Und seit die High Performance Genes, in Europa Turbogene genannt, im Handel waren, konnte jeder seinen Spermienbedarf beziehungsweise seine Ejakulationsfrequenzen beliebig regeln. Ebenso sind die Organsmusamplituden risikolos wählbar geworden. Glück war machbar geworden. Der Aal gehört zu ersten zehn Menschen, die die Antiagingcells noch von der Drosophila bezogen hatten. Schon deshalb ist er ein Heros der E-O-Kultur. Es gab keine Kulturveranstaltung in der ganzen Welt, die Einschaltquoten hat wie die GLÄSERNE MANEGE. die lief ja nicht nur am Samstag über den Schirm, wenn die Großen Vier erscheinen, sondern über die ganze Woche. Ununterbrochen schoben die Transportbänder Glaskabinen unter der GLÄSERNEN MANEGE durch. In den Glaskabinen, die von ihren Head-Tops lasen, was sie geschrieben hatten. Diese Bänder liefen immerzu. Die Großen Vier kamen dann am Wochenende für sechs Stunden in die Glasmanege, der Eventpalast war bis auf den letzten Platz besetzt. Wer wollte, konnte die von ihre Head-Tops ihre Werke Lesenden unter der Woche jederzeit im Kulturkanal anwählen und ihnen zuschauen, zuhören. Das war auch die Hoffnung eines jeden, der etwas geschrieben hatte, daß er, wenn schon nicht von den Großen Vier, dann doch vielleicht von den Fernsehzuschauern entdeckt wurde. Aber die eigentliche, die alle Lebensmühe motivierende Hoffnung war natürlich der Samstagabend, die GLÄSERNE MANEGE, wenn die Große Vier auftraten und diesen oder jenen aus den unterm Glasboden kreisenden Autoren per Knopfdruck heraufwählten. Man wußte, daß sie sich gelegentlich auch unter der Woche diesen oder jenen Autor auf den Schirm holten und sich darüber einigten, wen sie am Samstag auf den Riesenschirm im Eventpalast präsentieren und lesen lassen würden, bis sie glaubten, reagieren zu können, reagieren zu müssen. Und das war dann die Show, der Event schlechthin. Drei Stufen bildeten sich sowohl beim Rühmen wie beim Verdammen heraus. Ruhm für heute, Ruhm für morgen, Ruhm absolut. Ruhm absolut wurde in den neunzehn Jahren der GLÄSERNEN MANEGE nur einmal verliehen, an eine peruanische Erzählerin ,die in einem Familienepos erzählte, daß ihre Familie hoch in den Anden nur überleben konnte, weil die Eltern Kinder zeugten und dann aufaßen. Die Stufen des Verdammens waren Beleidigen, Abstrafen , Fertigmachen. Alle drei Stufe wurden wöchentlich exekutiert. Die Kamera zeigten dann in Großaufnahme, wie die Beleidigten , Abgestraften oder Fertiggemachten reagierten. Wer sich da etwas originelles einfallen ließ, konnte dann noch gegen das Votum der Kritoren die RAUPE bekommen, das war der Wochenpreis des Publikums. Aber ungleich begehrter war natürlich der PRICK, der Preis der Großen Vier. Die Autoren und Autorinnen taten alles, aber auch alles, um als preiswürdig aufzufallen. Der Wettbewerb der Lesenden wurde öfter ein Wettbewerb im Auffallen. Wenn eine einer ein Kreutz auf die Stirn schnitt, holte ihn natürlich die Regie sofort auf den Riesenschirm. Auch Onanieren kam vor. Aber nur der erste, der vor laufender Kamera lesend onanierte und ejakulierte, bekam den Publikumspreis. Dan auch die erste Autorin, die das öffentlich hinkriegte. Der Affe ließ sich von dem onanierenden Autor fast hinreißen, selber Hand an sich zu legen. Oder tat doch so. Auch die Klitornostra, als eine Autorin sich selber bediente. E- und O-Kultur at it`s best, meldeten die news. Aber natürlich, das Vorlesen beziehungsweise das Reagieren auf Vorgelesenes blieb schon die Hauptsache. Allerdings nur in der GLÄSERNEN MANEGE. Man vergesse, bitte, nicht: Die E-O-Kultur hat sich nicht nur auf dem Niveau der Großen Vier entfaltet. Daß München die Großen Vier hatte, mußte Berlin provozieren. Wir kennen alle das Ergebnis: Dr. Moritz Nödlers Lit Peep. Es gab, als das geschlechtliche noch vegetierte, eine Kümmerform, die man Pornographie nannte. Daran erinnerte Dr. Moritz Nödlers Lit Peep. Nicht vergessen darf der Historiker das vehemente aufleben des religiösen. Vielleicht ist das sogar die Wichtigste Wirkung der E-O-Kultur überhaupt. Alle Religionen sind seitdem förmlich aufgeblüht. Und wieder waren es die Großen Vier, die ohne das zu wollen, Epoche machten. Die Großen Vier hatten ja als erste die Nacktanzüge öffentlich getragen, die später zum Symbol der E-O-kultur überhaupt geworden sind. Der Aal ließ, während er litt oder jubilierte, sein Geschlechtsteil zoomen. Und was dann zu sehen war, war die Wirkung der Literatur. So oder so. Klitornostras Feuerraupe war, wenn Klitornostra durch die Vorlesenden so oder so agitiert wurde, in Großaufnahme auf dem Schirm. Sie und der Aal waren. Sie und er Aal waren, weil sie sich für das Nacktmenschentum entschieden hatten, vollkommen haarlos. Das steigerte die Wirkung. Die Nacktmenschenbewegung hat durch Aal und Klitornostra einen gewaltigen Zulauf erfahren. In den Schriften des Nacktmenschentums wurde behauptet, die E-O-Kultur komme erst im Nacktmenschentum zu sich selbst. Das riß die zehntausend im Eventpalast und die Millionen an den Fernsehrschirmen gleichermaßen hin. Und das waren die Millionen, die von dieser Vierundzwanzigbuchstabenkunst - so wurde sie von ihren Verächtern genannt - sonst nie auch nur zur Kenntnis genommen hätten. Wir an den Bildschirmen erlebten die Begeisterung, die Rührung, die Erschütterung der zehntausend im Eventpalast, und diese Wirkung multiplizierte natürlich die Wirkung, die die Aktionen und Passionen die Großen Vier auf uns hatten. Wir wurden Zeugen außerordentlicher Grausamkeiten, die andere erlitten, aber zu Recht erlitten. Es geschah ihnen recht. Das vermittelten uns die Großen Vier. Und das tat uns gut. Wir erlebten Gerechtigkeit. Ob gerühmt oder verdammt, es geschah Gerechtigkeit. Und nicht rührt uns tiefer als das : Gerechtigkeit.
Wie immer kann man auch jetzt die Stufe der Evolution, der man selber angehört, nicht werten. Nicht einmal beurteilen kann man sie. Ein Teilchen ist man eines Vorgangs, gerade daß man noch staunen kann. Als Historiker der E-O-Kultur, also als Historiker der Zukunft, darf man aber den Großen Vier, dem Aal, dem Affen, der Auster und der Klitornostra oder Feuerraupe ein bleibendes Bleiben voraussagen.

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Links:
Der Erlkönig von Goethe
http://www.perlentaucher.de/artikel/421.html
http://www.perlentaucher.de/feuilletons/2002-05-29.html
Rede Walsers zur Friedenspreisverleihung
Theaterreview
Jan Romberg