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Die Vorfenster
 

 „Ich will dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von unseren Vorfenstern. Weisst du was ein Vorfenster ist?“ So fragt der Grossvater seinen Enkel. „Nein? - Na dann überlege einmal, ganz fest.“ Lukas kratzte sich in den Haaren und zog die Stirne in Falten und machte eine ernste Miene. Er tat das immer, wenn er angestrengt nachdachte. Aber ihm fiel keine passende Antwort ein. Doch nach einer kleinen Weile platzte er mit einer Antwort heraus: “Ich weiss es! Vorfenster haben wir beide, das sind doch unsere  Brillen auf der Nase. Stimmt's  Granddaddy?“ Grossvater musste laut lachen, ja der kleine Lausbub hatte Recht. Brillen sind eigentlich auch Vorfenster. „Gut Lukas, aber es gibt auch Leute die haben keine Vorfenster im Gesicht, sondern ein Brett vor dem Kopf.“

 Das schien Lukas doch etwas merkwürdig. Ja, Brillenträger kannte er viele, aber er hatte noch nie Menschen mit einem Brett vor dem Kopf gesehen. „Granddaddy, wer hat den ein Brett vor dem Kopf?“ erkundigte er sich. Geschickt überhörte der alte Mann diese Frage und erzählte die Geschichte der Vorfenster.

 „Als ich ein Bub war, vielleicht so alt wie du“, begann der Alte, „wohnten wir in einem Dorf. In den alten Häusern war es im Winter kalt und wenn ein Sturm draussen tobte wurde es in der Stube ungemütlich und zugig. Unsere Fenster bestanden nur aus einer einzigen kleinen Glasscheibe. Es gab damals noch keine doppelt- oder dreifach verglasten Fenster, wie hier bei euch im Hochhaus. Aber diese Fenster hatten auch eine sehr schöne Seite. Sobald der erste Frost durchs Land zog, malte er wunderschöne Blumen ans Fenster. Eisblumen in vielen verschiedenen Formen. Durchsichtige zarte, filigrane Gebilde. Diese Eisblumen glänzten und glitzerten im Licht, wie Diamanten. Oft konnte ich auch Blätter und Ranken erkennen. Ich stand dann lange am Fenster und hauchte gegen die Scheiben. Die Eisgebilde tauten langsam auf, froren wieder und es entstanden neue Formen. Ich konnte auch mit meinen warmen Fingern  zeichnen oder Eis abkratzen. So entstanden Fratzen und Gesichter. Du kennst sie doch schon: Pünktchen – Pünktchen – Komma – Strich - fertig ist das Angesicht. Wenn dann die Sonne durchs Fenster schaute, verschwand diese Blütenpracht. Alles taute ab und das Eiswasser sammelte sich auf dem schmalen Fensterbrett. Dann war das Spiel vorbei.“

 „Aber was hat das mit einem Vorfenster zu tun?“ erzähle weiter Granddaddy, bettelte Lukas ungeduldig. „Also“, fuhr  der Grossvater weiter. „Also, damit der Wind unsere Stube nicht so auskühlen konnte, hatten wir Vorfenster. Es waren richtige Fenster, in der passenden Grösse, die von Aussen vor das eingebaute Fenster eingehängt  wurden. Vorfenster brauchte man aber nur zur kalten Jahreszeit, im Winter. Wenn der Sommer wieder ins Land zog, wurden sie wieder entfernt und im Keller oder im Estrich versorgt."

Grossvater machte eine lange Pause und erzählte dann weiter:
Der Sommer kam, und meine Mutter war damit beschäftigt die Vorfenster wieder herauszunehmen. Sie stellte die Vorfenster an eine Hauswand im Garten. Vater sollte sie später dann alle versorgen. Ich höre meine Mutter noch - wie heute - rufen:  "Vater, wir brauchen die Vorfenster jetzt nicht mehr, es ist schon schön warm".  Gut so – dachte ich mir, wenn die Vorfenster nicht mehr gebraucht werden, dann kann ich mit ihnen bestimmt etwas anfangen. Gedacht – getan! Sechs Vorfenster standen also in einer Reihe.  Grosse Kieselsteine lagen zu Mass an der Hauswand. Ich sammelte genügend in meinen Hosentaschen und stellte mich in einiger Entfernung stramm auf. Zielübungen sollten folgen. Und schon flogen die ersten Steine gegen die Fensterscheiben. Statt Eisblumen sah ich jetzt Scherben. Es klirrte und  krachte. Es machte Freude und Spass – bis, ja bis meine Mutter entsetzt in der Haustüre stand.  „Bub, Lukas, Bub aufhören, aufhören! Was machst du da? Hast Du ein Brett vor dem Kopf?“ „Aber Mutter“, erwiderte ich verwundert, "du hast doch gesagt, wir brauchen die Vorfenster nicht mehr.“

 Nun wusste der Enkel Lukas was Vorfenster sind und was es mit dem Brett vor dem Kopf auf sich hat. 

Christiane Wild
 

Die Kugelschleuder

Kugelschleuder aus nur sechs Bauklötzen.
Drücken und die Holzkugel fliegt hoch in die Luft.
 

 

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