Neujahrsgruss Der nachfolgende Brief ist 133 Jahre alt. Viele von der jüngeren Generation können die alte deutsche Schrift kaum lesen. Deshalb folgt hier eine Transkription. Am Neujahrsmorgen 1875 Theure, liebe Eltern!
Schon wieder ist
ein Jahr verflossen, ein Jahr, das nicht mehr zurück kommt, und doch im
Andenken bleibt. Wir wollen darum mit freudiger Hoffnung einem guten Jahr
entgegenblicken. Der Neujahrstag ist für mich ein wichtiger Tag, denn ich
weiss nicht, ob Ihr den nächsten Neujahrstag noch erlebt, oder nicht. Aber
doch will ich hoffen, der liebe Gott möge Euch noch viele Jahre gesund und
glücklich leben lassen. Für die Wohlthaten, die Ihr mir von meiner Wiege bis
jetzt erwiesen habt, danke ich Euch vielmal, und wünsche Euch Glück, Heil
und Segen. Ich will mich befleissen, so viel als möglich, um Euch die
Wohlthaten zu vergelten, aber was mir nicht möglich ist, das wolle der liebe
Gott Euch tausendfach vergelten. Dies wünscht von ganzen Herzen.
Als Johann Ulrich Wild diesen Brief am Neujahrsmorgen 1875 an seine Eltern schrieb, war er erst 13 Jahre alt. Beeindruckend ist nicht nur die saubere Schrift, sondern vor allem der Inhalt des Briefes. Wie zeigt doch dieses Kind Gefühl, Verbundenheit sowie ein grosses Interesse am Wohlergehen seiner Eltern. Aufrichtig macht er sich Gedanken über ihre Lebenserwartung. Verständlich, denn damals lebte die arbeitende Bevölkerung nicht sehr lange. Eine Chronik aus dem Jahr 1874 berichtet folgendes: „Die Lebenserwartung für einen Metallarbeiter in der Schweiz liegt bei 35 Jahren, für gutsituierten Bürger bei 55 Jahren und bei gutbestallten Geistlichen bei 64 Jahren.“ Es war denn auch tatsächlich so, der Vater starb bereits zwei Jahre später. Aus dem Leben von Johann Ulrich Wild ist nur weniges bekannt. Er war Handsticker und Organist. In dem Buch “Geschichte der Kirchengemeinde Urnäsch“ herausgegeben 1942 von der Kirchenvorsteherschaft, wird berichtet, dass unter Pfarrer Altherr am 4.August 1878 die erste Kirchenorgel eingeweiht wurde. Als erster Organist amtete der damals erst 16 jähriger Ulrich Wild. Er blieb es 46 Jahre lang. Ulrich Wild war in jungen Jahren nicht sehr wohlhabend. Das Sylvesterklausen bot ihm daher eine gute Gelegenheit, sich zusätzlich einige Franken zu verdienen. Das mit ausgiebigem “Zauren“ und rhythmischem Schellenklang verdiente Geld benötigte er zum Zahlen des Hauszinses. Im Sommer lief er meist ohne Schuhe herum. Auch an den höchsten Feiertagen erschien er mit „nackten Füssen“ in der Kirche zum Orgelspielen. Pfarrer Paul Dammann fand, dass dies nicht der Würde eines Organisten entspreche und besorgte ihm ein Paar Sonntagsschuhe. Eine andere überlieferte Episode: In einem besonders schneereichen Winter sollte ein Begräbnis stattfinden. Der Verstorbene wohnte aber weit ausserhalb des Dorfes und so verspätete sich der Leichenzug wegen des vielen Schnees erheblich. Organist Ulrich wollte aber nicht so viel Zeit in der leeren Kirche versäumen und ging noch einmal heim an seine Stickarbeit. Der Mesmer hatte den Auftrag, ihn zu rufen, sobald der Leichenzug in Sicht sei. Es ging nicht allzu lange und in der Türe des Sticklokals erschiene der Mesmer mit dem Ruf: “D’ Lich chonnt!“ Schnell, aber diesmal mit Schuhen eilte Ulrich zur Kirche – und es reichte noch. Typisch für damals waren auch die Erziehungsmethoden mit denen Johann Ulrich seine Söhne erzog. Emil und Ulrich, die zwei ältesten, sollten nach einer Untat bestraft werden. Sie hatten die Wahl zwischen einer Tracht Prügel oder einer Woche keine Butter aufs Brot. So ist dieser Neujahrsgruss und die damit verbundene Lebensgeschichte zwar ein Stück Vergangenheit, vermittelt und aber zugleich einen Eindruck von der spontanen, direkten und unverbildeten Art eines jungen Appenzellers des vorletzten Jahrhunderts. Viele Fragen tauchen beim Betrachten dieses alten Briefes auf. Wie sah es in der Welt damals aus? Wie in der Schweiz? Das wohl wichtigste Ereignis für die Schweiz aus jener Zeit ist die Totalrevision der Bundesverfassung von 1848. Im Jahr 1874 wurde sie durch die Bundesversammlung in Kraft gesetzt. Sie wurde seither nie mehr einer Totalrevision unterzogen. Im Oktober des gleichen Jahres wird Henri Guisan, General der Armee im Zweiten Weltkrieg, geboren. Basel erhielt als erste Stadt der Schweiz einen zoologischen Garten. Am 1. Januar 1875 erschien in Zürich die humoristische - satirische Zeitschrift „Nebelspalter“. Etwas Süsses, wenn auch nicht weltbewegendes, geschah ebenfalls in diesem Jahr: Daniel Peter erfand die Milchschokolade – und wie gerne geniessen wir sie heute noch.
Christiane Wild
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