Korrespondenz
November 2006
Betreff: Gewalt
Einschätzungen eines Genossen Zur Diskussion im Zirkel im Okt. 06 ZU:
Ist Gewalt eine Geißel, ein notwendiges Übel oder ein Akt der Befreiung?
Ist Gewalt Teil der menschlichen Natur?
Ist sie lebensnotwendig? Ja. Unser Leben ist nicht möglich, ohne etwas Anderes zu zerstören, zu verändern. Auch Gewalt zwischen Menschen gab es schon vor dem Aufkommen von feindlichen gesellschaftlichen Klassen. Im primitiven Kommunismus herrschte Solidarität, die zum Überleben notwendig war, nur innerhalb des Stamms. In Notzeiten und als die Besiedlung dichter wurde, konnte es Kämpfe auf Leben und Tod um die Jagdgründe geben.
Ist Gewalt etwas Gutes oder Schlechtes?
Wir können die Gewalt nicht abstrakt behandeln. Gewalt ist nicht immer schlecht. Ein Kaiserschnitt bei der Entbindung ist auch ein gewalttätiger Eingriff, aber er ist lebensfördernd. Für die Bourgeoisie ist ein wilder Streik etwas Gewalttätiges und Verwerfliches. Bei jedem Schritt, den wir tun, vernichten wir unzählige mikroskopisch kleine Lebewesen. Wenn ein Kind sich in nicht in gesunder Weise zur Wehr setzen kann, dann sind wir besorgt. Es gehört wohl eine gewisse Aggressivität zum Menschen und es dürfte schwer sein, Tatkraft, Tatendrang und Schöpferwille von Aggressivität genau von einander zu trennen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir aus dem Tierreich, von Affen abstammen und sicher in unserem Erbgut noch eine Menge von ihren Verhaltensweisen enthalten ist. Bewunderungswürdige gegenseitige Hilfe und aufopferungsvolle Verteidigung der Jungen, aber auch vieles – was von uns her gesehen - nicht so schön ist. Wie bei den Tieren kann man auch bei den eben erst sich von den Tieren abnabelnden Menschen nur bedingt von gut und böse sprechen. Deshalb können natürliche Vorgänge beim Menschen wie die Geburt nichts Wesentliches beitragen zur Klärung der Frage der gesellschaftlichen Gewalt.
Kommen die Menschen als unbeschriebenes Blatt auf die Welt? Ist der Mensch von Natur aus gut oder schlecht?
Ist er friedliebend oder kriegslüstern von Natur aus? Eine Antwort: Der Mensch ist von Natur aus schlecht, kriegslüstern, machtgeil usw. und das ist die Ursache für alle Übel auf der Welt. Andere sagen: Der Mensch ist von Natur aus gut. Alles Übel kommt von der schlechten Gesellschaft. Man kann wohl sagen, dass es beim Menschen sowohl soziale wie auch antisoziale Antriebe gibt. Völkerkundler stellten fest, dass bei manchen primitiven Wandervölkern die alten und kranken Leute getötet wurden und getötet werden mussten, damit der Stamm überleben konnte. War das gut oder schlecht? Marx sagt: Der Mensch ist nicht gut und böse, sondern menschlich. Und menschlich, sozial sein, erfordert eine bewusste Anstrengung, erfordert das Bewusstsein, dass eine menschliche Gemeinschaft nicht mit unmenschlichen Mitteln zu erreichen ist, dass der Einzelne nicht glücklich sein kann, wenn’s den anderen schlecht geht. Oder letzteres anders gesagt, die Arbeiterklasse kann sich nur selbst befreien, wenn sie die ganze Menschheit mit sich befreit. Wir müssen Sorge für und Mitgefühl mit den Mitmenschen entwickeln. In der heutigen Gesellschaft der Konkurrenz und des Jeder-für-sich ist das wahrlich nicht leicht, wo jeder in seiner Rolle zu funktionieren hat. Wir müssen eine kämpferische Atmosphäre schaffen, in der wir gemeinsam anstreben, einen anderen Umgang miteinander zu pflegen.
In der Einleitung wurde unterstrichen, dass Klassengesellschaften auf einem Gewaltverhältnis beruhen. Dass die herrschende Klasse mit dem Staat über das Gewaltmonopol verfügt. Der heutige staatliche Gewaltapparat dient dazu, die gegenwärtige Gesellschaftsform, den Kapitalismus aufrecht zu erhalten. Die bürgerliche Gewalt ist heute eindeutig eine zerstörerische Gewalt, weil sie dazu dient, eine überlebte Gesellschaftsform, die die Menschheit ins Verderben stürzt, aufrecht zu erhalten. Demgegenüber könnte man die revolutionäre Gewalt des Proletariats, die dazu dient, dem Kommunismus zur Geburt zu verhelfen, als produktive und konstruktive Gewalt bezeichnen.
Anknüpfend an den Beiträgen einzelner Genossen oder einfach auch ihre Beiträge wiedergebend:
Zum Wesen des Menschen
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Die Menschen haben sowohl zerstörerische als auch schöpferische Impulse. Welche Impulse überwiegen, das hängt von der Gesellschaft im Ganzen ab, hängt davon ab, zu welcher Klasse man gehört, unter welchen konkreten Bedingungen man lebt. Wenn man z.B. in die Mordmaschinerie des Militärs eingespannt ist, ist es fast unmöglich, nicht zu verrohen. Die schrecklichsten Verbrechen können unter gewissen Bedingungen begangen werden, die unter anderen Bedingungen undenkbar sind. Wenn es menschlich war, dass bestimmte Völker unter den bestimmten Lebensverhältnissen, in denen sie lebten, die Alten und Kranken getötet oder ihrem Schicksal überlassen haben, dann gilt das heute nicht mehr. Die heutige Not ist nicht natürlich, sondern von den Menschen gemacht. Es ist eine falsche Fragestellung, ob der Mensch gut oder schlecht und böse ist. Wir müssen fragen, wie muss und könnte eine Welt aussehen, in der die schöpferischen Qualitäten der Menschen aufblühen können.
Gewalt in der Geschichte
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Warum tauchte die Gewalt als soziales Phänomen in der Geschichte der Menschheit auf? In der Einleitung wird gesagt, dass die Gewalt aufkam mit der Scheidung von Ackerbau~ und Jägervölkern. In der Bibel wird dieser Gedanke in der Geschichte von Abel und Kain geäußert, Abel ein Jäger und Kain ein Bauer. Die ersten Menschen scheinen Sammler gewesen zu sein, die vor den wilden Tieren auf Bäume fliehen mussten. Sie mussten erst lernen, Waffen herzustellen, bevor sie sich auf ebener Erde gegen die wilden Tiere behaupten konnten.
Im 19. Jahrhundert war die herrschende Auffassung, dass Gewalttätigkeit bloß eine primitive Regung sei und sie im Laufe der Zivilisierung zurückgedrängt wurde. Dem widersprach offensichtlich der Ausbruch unglaublicher Brutalität während der beiden Weltkriege und auch sonst im 20. Jahrhundert.
Gewalt und die Aufteilung der Gesellschaft in Ausbeuter und Ausgebeutete ist solange notwendig, solange die Produktivkräfte nicht so weit entwickelt sind, dass alle Menschen mit wenig Arbeit gut leben können. Wenn diese soweit entwickelt sind, ist der Kampf ums Überleben nicht mehr notwendig, es könnte eine menschliche Gesellschaft geben. Die Antriebe sind an und für sich weder gut noch böse. Schon bei den höheren Tieren entwickelten sich mehr und mehr soziale Verhaltensweisen, Verhaltensweisen, bei denen die Interessen des Ganzen über die Interessen des Einzelnen gestellt werden. In der Geschichte der Menschheit gibt es eine lange Kampfestradition, die Solidarität und soziale Verhaltensweisen zu stärken. Der Kapitalismus in seinem Niedergang droht diese Tradition und seine Errungenschaften zu vernichten. Das Recht des Stärkeren wird zum einzigen Recht. Ausbrüche nackter Gewalt, Bedrohung der Existenz der Menschheit, eine Dynamik der Selbstzerstörung Einzelner und der ganzen Menschheit, das sind Phänomene der heutigen Welt.
Vergleich der Gewalt im primitiven Kommunismus und der in den Klassengesellschaften: Als die Menschen schon die ebene Erde erobert hatten und Wild erlegen konnten und in Stammesgemeinschaften lebten, war es allgemeiner Brauch, dass jeder Stamm sein Totemtier hatte. Das Totem(tier) wurde verehrt, es war ja eine Existenzgrundlage. Der Gruppe, der erlaubt war, das Totemtier zu töten, war geboten, das erlegte Tier den anderen Mitgliedern des Stammes abzuliefern. Das hat wohl zu tun mit den Schuldgefühlen, die die Jäger gegenüber den erlegten Tieren empfanden. Die Menschen fühlten sich als Teil der Natur, gingen noch ganz in der Gemeinschaft auf. Sie waren noch ziemlich mit den Tieren verbunden und es fiel ihnen gar nicht so leicht, Tiere vor allem ihr Totemtier zu töten. In zeremoniellen Riten baten sie die getöteten Tiere um 'Verzeihung'. Das erlegte Tier wurde nach den Bedürfnissen an alle Mitglieder des Stammes verteilt. Diese ganze Sitte stellte sicher, dass das Totemtier nicht ausgerottet wurde. Man kann sehen, dass in der primitiven Gesellschaft Gewalt - nur soweit notwendig - angewandt wurde. Lewis Morgan's Erforschungen von Indianerstämmen zeigen, dass sie versuchten, einander aus dem Weg zu gehen und dass sie Fremden gegenüber sehr freundlich waren. Solange es um die Bedürfnisbefriedigung geht, ist die Gewalt nicht maßlos; sie wird erst maßlos in einer Gesellschaft, deren Triebkraft die maßlose Akkumulation um der Akkumulation willen ist. Noch in den Anfängen der Sklavenhaltergesellschaft war das Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven noch keinesfalls ein brutales wie später. Die Sklaven hatten zwar mehr zu arbeiten als die Familienmitglieder, aber sie waren auch Teil der Familie. Das änderte sich erst, als die Sklaven eine Ware wurden, und der Großgrundbesitz aufkam. Erst dann mit der Zivilisation kam die Grausamkeit auf. Dass die Gewalt und Grausamkeit keine Grenzen mehr kennt, ist in dem Maß dem Kapitalismus vor allem seiner Dekadenz vorbehalten. Es waren nicht die wilden Indianer, die die Bisons in Nordamerika fast ausrotteten. Oder wie Friedrich Engels irgendwo anführt, es waren nicht die wilden Barbaren, die ihre Frauen drangsalierten und einsperrten. Dazu bedurfte es erst einiger Zivilisation.Einige Leute folgern daraus: Lasst uns also wieder zum friedlichen Leben auf den Bäumen zurückkehren. Aber das ist ein naiver Wunschtraum. Die Gewalt muss wohl erst so unerträglich werden, dass die Menschen nach einem Ausweg suchen müssen. Sie werden eine ganz neue Gesellschaft aufbauen müssen. In dieser neuen Gesellschaft wird es auch ein ganz anderes Verhältnis zur Natur, zu den Tieren geben müssen. Der Mensch wird sich dann der Natur gegenüber nicht mehr wie der Eroberer in einem fremden Land benehmen. Die Verrohung im Umgang mit seinesgleichen ist nicht zu trennen davon, wie er mit den Tieren umgeht. Bebel denkt an die Möglichkeit, dass wir einmal zu Fleisch kommen könnten, ohne Tiere zu töten.
Gewaltpotential: angeboren oder anerzogen?
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Ist das Gewaltpotential erblich bedingt oder wird die Gewalt durch die Erziehung und die Einflüsse der Mitwelt hervorgerufen? Es gibt sicherlich einen genetischen Faktor, aber gleichzeitig auch einen erzieherischen und Umweltfaktor. Wie weit sich die Erbanlage "Disposition für Gewalt" entfaltet, hängt von der Mitwelt ab.
Bei den Menschen dauert es sehr lange, bis Kinder zu Erwachsenen herangewachsen und erzogen sind. Kinder kommen nicht als Engelchen auf die Welt, aber auch eine spätere etwaige Brutalität und Bösartigkeit sind nicht von Geburt an da.
Die Natur des Menschen ist so beschaffen, dass der Mensch zu sehr verschiedenen Sachen fähig ist: Zu grausamen Kriegen und zu großartigen Taten. Im Menschen liegt auch die Potenz, die kommunistische Gesellschaft zu schaffen, in der die Menschheit eine Einheit wird, in der das Interesse des Einzelnen und der Gemeinschaft eine Einheit bilden. Man könnte sagen, dass der Mensch erst im Kommunismus seine Natur als bewusstes soziales Wesen verwirklicht. Im Kapitalismus wird antisoziales Verhalten belohnt. Wer seine Ellenbogen gebraucht, wer andere ausbeutet, lebt besser.Es gibt im Menschen sehr tiefsitzende Antriebe, wie Eifersucht oder Schuldgefühle mit den damit verbundenen Rachegelüsten. Eifersucht, weil der Mensch eine geliebte Person nicht teilen will. Zur Entwicklung des Individuums gehören viele persönliche Dinge dazu. Die individuelle Liebesbeziehung ist bestimmt eine sehr große Errungenschaft der Menschheitsentwicklung. Der Mensch wird viel Mühe aufwenden müssen, die Verhältnisse radikal umgestalten müssen, um mit Eifersucht und Schuldgefühlen umgehen zu lernen. Es wird die ganze Schöpferkraft der Menschheit gefragt sein.
Die Frage der Gewalt bei der Studentenbewegung 2006 in Frankreich
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Bei den Studentenprotesten in Frankreich im Frühling dieses Jahres wussten die Studenten, wie schädlich es gewesen wäre, sich vom staatlichen Gewaltapparat in militärische, gewalttätige Auseinandersetzungen ziehen zu lassen. Die Bourgeoisie weiß, dass sie auf militärischem Gebiet haushoch überlegen ist. Die Stärke der Arbeiterklasse ist ihr Bewusstsein und ihr Zusammenhalt. Und diese Stärke fürchtet die Bourgeoisie. Das zeigt sich immer wieder auch im Kleinen. So auch an der Uni Köln als die Bourgeoisie Bürgerkriegspolizei postiert hatte, um die Studenten einzuschüchtern. Als die Studenten - überzeugt davon im Recht zu sein - die Polizisten agierten, kamen sofort die ‚Politkommissare’ angelaufen, um die verunsicherten Polizisten von den Studenten abzuhalten. Die Arbeiterklasse muss wissen, dass ihre Stärken woanders liegen, dass Gewalt verroht und das Klassenbewusstsein verdunkelt, dass Gewalt eine Eigendynamik entfaltet, dass Gewalt ein zweischneidiges Mittel ist.
Die Arbeiterklasse wird nicht darum herumkommen, Gewalt anzuwenden, aber als Geburtshilfe, wenn die Zeit reif ist. Stets wollte sowenig Gewalt wie möglich angewendet werden, aber so viel als nötig, um die Gesellschaft umzuwälzen. Gewalt ist notwendig, aber wir müssen sehr sorgfältig damit umgehen. Die herrschende Klasse wird nicht freiwillig abdanken. Das Proletariat muss Gewalt anwenden. Das Proletariat hat die Prinzipien: keine Gewalt innerhalb der Klasse und keinen roten Terror. Nicht verwunderlich sind elementare Ausbrüche von Hass seitens der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen. Dem entgegen steuern kann nur die Entwicklung des Klassenbewusstseins, das Sich-vor-Augen-halten des Ziels des Kampfes. Wenn das Proletariat mit dem Rücken zur Wand steht, wenn es in eine Art von konventionellem Bürgerkrieg gezogen wird, dann es sehr schwer für das Proletariat, seine Art Kampf zu kämpfen. Das Proletariat muss sich selbst bewusst sein, dass es eine schöpferische Klasse ist, sie sich befreien will, die eine Gesellschaft aufbauen will, die nicht auf Gewalt gründet. Es gibt lehrreiche Beispiele dafür, wie die Arbeiterklasse, den staatlichen Repressionskräften entgegentritt: Die Agitation des Bürgerkriegspolizisten durch die Studentinnen jetzt im Frühjahr in Frankreich; die Kämpfe des Proletariats von Barcelona im Juli 1936; der Aufstand des Proletariats im Oktober 1917 in Russland.
Hein im November 2006