Referat I zum Treffen im April 2004
Die Geschichte des Staates
Einführung
Bis jetzt haben wir uns im Rahmen des Diskussionszirkels u.a. über die Russische Revolution und über die Ereignisse in Kronstadt diskutiert und versucht, wichtige Lehren sowohl aus den positiven Errungenschaften als auch Fehlern zu ziehen. Die Russische Revolution wurde anfangs von den Revolutionären auf der Welt zwar als die erste erfolgreiche proletarische Revolution gefeiert, aber sie musste aufgrund des Scheiterns der Weltrevolution innerhalb der russischen Staatsgrenze isoliert bleiben. Hauptsächlich wegen dieser Isolierung degenerierte die Revolution so stark, dass die mit dem sogenannten proletarischen Staat sich identifizierende proletarische Partei im Namen der Revolution und des Proletariats, einen Teil des Proletariats mit Gewalt, wie in Kronstadt, unterdrückte. Anschließend folgte der Degeneration der Aufstieg des Staatskapitalismus.
Angesicht dieses Paradoxes der Geschichte, dass der Versuch der Zerstörung des Kapitalismus und des Staates durch die proletarische Revolution in einer Verstärkung des Staatskapitalismus endete, halten wir die Beschäftigung mit dem Thema u.a. über den Staat v.a. über die Geschichte des Staates für unumgänglich.
Der Anfang des Staates
Aufgrund des vielfältigen Eingriffes des Staates in unserem Alltag ist heutzutage eine Gesellschaft ohne Staat zwar schwer vorzustellen, aber die Tatsache, dass es mal Gesellschaften ohne Staat gegeben hat, ist unumstritten. Und Marx und Engels zufolge gehört solch eine Gesellschaft nicht nur der Vergangenheit an, sondern ist auch immer noch eine Möglichkeit, nämlich, der Staat wird unvermeidlich fallen mit der Dinge, die seine Existenz notwendig gemacht hat.
Was hat den Staat denn in der menschlichen Geschichte notwendig gemacht? Anders gesagt, warum ist der Staat denn in der menschlichen Gesellschaft entstanden? Wann und wie? Um diese Fragen zu beantworten, kann man mit den Eigenschaften des Staates gegenüber der alten Organisation vor dem Entstehen des Staates anfangen.
Außer der Einteilung der Staatsangehörigen nicht nach Geschlechtern und Stämmen sondern nach Gebieten ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt neu und fundamental spezifisch für den Staat. Diese öffentliche Gewalt ist ab dem Zeitpunkt notwendig geworden, wo die klassenlose Gesellschaft aufgrund eines bestimmten Grades der Entwicklung der Produktivkräfte in die Klassengesellschaft sich umwandelte und die "sich selbst als bewaffnete Macht organisierende Bevölkerung" der alten Organisation aufgrund des gegeneinander widersprechenden materiellen Interesses nicht mehr möglich war. Es war das Interesse der herrschenden Klasse, die unterdrückten Klassen von der Bewaffnungsmöglichkeit fernzuhalten, um ihre Herrschaft nicht zu gefährden. Das materielle Interesse der Unterdrückten war genau das Gegenteil, nämlich mit allen Möglichkeiten, Gewalt eingeschlossen, den Herrschenden zu widerstehen und sich von der Unterdrückung zu befreien.
Während solch einer unversöhnlichen Klassenauseinandersetzung entstand der Staat als eine notwendige Gewalt, die von der herrschenden Klasse "aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten," eingerichtet wurde, um ihre Privilegien als Ausbeutende aufrechtzuerhalten, ohne die ganze Gesellschaft und die äußeren Produktionsbedingungen in Gefahr zu bringen. In diesem Sinne hat der Staat als ein Organ der Klassenherrschaft eine zweifache Rolle zu spielen, einerseits um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, die für die Aufrechterhaltung der Produktion unverzichtbar sind und andererseits Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen.
Seit seiner Entstehung wurde der Staat als offizieller Repräsentant der ganzen Gesellschaft dargestellt, aber er war dies nur, insofern er der Staat derjenigen Klassen war, welche sich selbst für die Vertreterinnen der ganzen Gesellschaft in ihrer Zeit hielten: Im Altertum der Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im Mittelalter der Staat des Feudaladels und im Kapitalismus der Staat der Bourgeoisie. Der Staat war im Wirklichkeit aber nur ein Organ der Klassenherrschaft, "ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere", deshalb "eine besondere Repressionsgewalt". Deswegen konnte der Staat von der Klasse, die zur Herrschaft gelangt war, bei jeder vorherigen Revolution übernommen und zu ihrem eigenen Zweck genutzt werden. Im Lauf der Geschichte hat die konservative und reaktionäre Rolle des Staates so zugenommen, dass die Entwicklung und Entfaltung der Produktivkräfte ständig auf ihn als Fessel stieß.
Die Entwicklung und Vervollkommnung des Staates im Kapitalismus
A. Die Entstehung des bürgerlichen Staates
Erst im Kapitalismus erreicht der Staat seine Vervollkommnung, nämlich die zentralisierte Staatsgewalt, die Zentralisation der Staatsmaschinerie. Für diese Staatsmaschinerie sind zwei mit der Bourgeoisie eng verknüpfte Institutionen kennzeichnend : das Beamtentum und das stehende Heer.
Nach der Analyse von Marx der Erfahrung der Revolution 1848-51 in Frankreich vollendete die Bourgeoisie erst die parlamentarische Gewalt und dann die Exekutivgewalt. "Diese Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuren bürokratischen und militärischen Organisation..., der fürchterliche Parasitenkörper entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall des Feudalismus, den er beschleunigen half." Vermittels dieses Beamten- und Militärapparats wird "insbesondere das Kleinbürgertum auf die Seite der Großbourgeoisie hinübergezogen und ihr weitergehend unterworfen". Die erste französische Revolution entwickelte die Zentralisation aber zugleich den Umfang, die Attribute und die Handlanger der Regierungsgewalt, und Napoleon vollendete sie. Die parlamentarische Republik wurde in ihrem Kampfe gegen die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Danach wurde die Staatsmacht das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit. All diese Umwälzungen brachen im Grunde genommen die Staatsmaschinerie nicht, sondern vervollkommneten sie.
Nach der Entwicklung des Staates während den bürgerlichen Revolutionen in Europa fand die Bourgeoisie im demokratischen Staat die beste Hülle für ihre Herrschaft. Die demokratische Republik ist nach Marx die denkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, weil die Macht von der Reichtum anders als früher indirekt aber um so sicherer ausgeübt wird. Daher begründet das Kapital seine Macht derart zuverlässig, derart sicher, dass kein Wechsel, weder der Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürgerlich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.
B. Der Staat in der Zeit des Imperialismus
Im Kampf zwischen den Klassen entfaltet der Staat mehr und mehr eine gewisse Unabhängigkeit:
Nach innen zwingt er das Proletariat und andere arbeitende Klassen dazu, sich mit der kapitalistischen Ausbeutung abzufinden, trotz seiner Anerkennung formeller juristischer Freiheit des Individuums. Nach außen garantiert er die Grenzen des Bereiches der ökonomischen Ausbeutung vor der Gefräßigkeit anderer kapitalistischen Gruppen und erweitert sie auf Kosten anderer Staaten.
Der Imperialismus, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus weist eine ungewöhnliche Stärkung der "Staatsmaschinerie" auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Miltärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat.
Seit der endgültigen Teilung des Erdballs unter die konkurrierenden Eroberer ,d.h. räuberische Großmächte sind die Rüstungen ins Ungeheure gewachsen und der Krieg 1914-1918 um die Beherrschung der Welt durch England oder Deutschland hat das "Verschlingen" aller Kräfte der Gesellschaft durch die räuberische Staatsmacht enorm gesteigert. Der erste große imperialistische Krieg zeigte das Ergebnis der Entwicklung der bürokratisch-militarischen Institutionen in allen bürgerlichen Ländern deutlich, die sich alles unterordnen, die alles erdrücken.
C. Der Staat in der Zeit des Staatskapitalismus
In der dekadenten Epoche des Kapitalismus hat die horizontale und vertikale Teilung der Gesellschaft und die dadurch hervorgerufenen Kämpfe einen Höhepunkt in der menschlichen Geschichte erreicht. Damit findet sich der Staat im Gipfel seiner Entwicklung als Organismus des Zwangs und der Gewalt, indem er dazu neigt, eigenmächtig Gewalt als ein Mittel zum Schutz seiner eigenen Existenz anzuwenden.
In der Komplexität der Gegensätze ist der Staat ständig dazu gezwungen, sich an jedem Lebensbereich zu beteiligen: wirtschaftlich, sozial, kulturell, politisch; am privaten Leben eines jeden Individuums und in dessen Beziehung zur Gesellschaft auf lokaler, nationaler und weltweiter Ebene. Er nimmt die Dienstleistungen einer stetig wachsenden Masse von Menschen in Anspruch, aus der sich eine abgesonderte soziale Schicht mit ihren eigenen Interessen, unproduktiver Aktivität, und der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Regierung und Staatsmaschinerie entwickelt hat. Diese unabhängige soziale Schichte mit ihren eigenen ökonomischen Interessen, die aus Politikern, Bürokraten, Justiz, Polizei und Armee besteht, sind reine Parasiten an der Gesellschaft. Anfänglich wirkte diese neue Schicht als Diener der Gesellschaft in den Händen der herrschenden Klasse, aber sie neigt dazu, wegen ihrer gesellschaftlichen Position an der Spitze der Staatsmaschinerie sich immer mehr von der Rolle zu befreien, eine Eigenständigkeit als Herrscher der Gesellschaft zu gewinnen.
Sehr deutlich in den stalinistischen Staaten des ehemaligen Ostenblocks wird die Entwicklung dieser neuen priviligierten sozialen Schicht, die parasitäre und im wesentlichen reaktionäre Charakteristiken zeigt, die ihre materielle Existenz der Existenz des Staates verdankt und sich um die Vererwigung des Staates kümmert. Aber in allen Staaten in der dekadenten Kapitalismus ist die Entwicklung dieser relativ unabhängigen aber parasitären Schicht erkennbar, die immer bereit ist, sich mit der Klasse zu assozieren, deren Wirtschaftssystem auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen basiert.
Aufgrund der Entwicklung der Technologie und der Arbeitskräfte ist selbst die kapitalistische Produktionsweise gezwungen, das allerheiligste Prinzip des Privateigentums zu verletzen und Zuflucht zu suchen in der kapitalistischen Verstaatlichung bestimmter Wirtschaftsbranchen. Die staatlichen Interventionen machen sich in der gesamten Wirtschaft bemerkbar und dies geschieht offensichtlich, um das kapitalistsiche System als Ganzes zu beschützen. Die Verstaatlichung der ganzen Produktionsmittel, z.B. in sogenannten ehemaligen sozialistischen Ländern ist in perfekter übereinstimmung mit dem kapitalistischen System und kann sogar die Voraussetzung für das überleben des Systems sein: die Gewinnung einer immer größeren Masse an Mehrwert aus der Arbeiterklasse zugunsten einer mächtigen und priviligierten Minderheit.
Der Staat verschafft sich durch die kapitalistische Verstaatlichung eine materiell und ökonomisch unabhängige, solide Basis. Damit entsteht eine neue Rolle des Staates, nämlich der Staat als Boss, kollektiver, anomymer Arbeitergeber, der den Mehrwert auf kollektive Weise herauspresst. Die ökonomische Tendenz zum Staatskapitalismus ist bei der kapitalistischen Verstaatlichung unvermeidlich, weil es unmöglich ist, eine vollständige Sozialisierung und Kollektivierung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig zu erreichen.
Durch diese wachsende Neigung des Staates zu ökonomischer und politischer Unabhängigkeit, die Wirtschaftsmacht des Kapitalismus auf den Staat zu übertragen, übernimmt der Staat den Platz als wahrer Sitz der Macht in der kapitalistischen Gesellschaft.
Das Ende des Staates
Bis jetzt sind all die neuen Klassen mit ihrer Vorherrschaft und ihren Prinzipien nur an die Stelle anderer Klassen getreten. Die ökonomische Entwicklung der neuen Klasse kam vor der Etablierung ihrer politischen Hegemonie vor. Erst nach einem bestimmten Grade der Wirtschaftsentwicklung, nach der Verdrängung der alten herrschenden Klasse wurde die politische Macht ergriffen und damit Maßnahmen getroffen zur Festschreibung des neuen Systems. Die bürgerliche Revolution musste den Widerstand des Feudalismus und seines ideologischen überbaus brechen, aber sie zerstörte nicht den Staat. Weil das dem Staat zugrundeliegende Prinzip die Verteidigung der Ausbeutung des Menschen ist, musste die Bourgeoisie wie ihre Vorgänger nur Besitz von der Staatsmaschinerie ergreifen und sie in ihrem eigenen Klasseninteresse nutzen.
Aber der Staat, die Verkörperung der Klassenherrschaft und der wirtschaftlichen Unterdrückung von einer durch eine andere Klasse, kann nicht vom Proletariat im klassischen Sinn erobert werden. Das ist auf das Wesen des Staates zurückzuführen, denn der Staat, dessen eigentlicher Charakter konservativ, gewaltätig und bürokratisch ist, der die Priviligien und die wirtschaftliche Ausbeutung verteidigt, und der mit seiner tatsächlicher Natur die ganze vergangene Geschichte der Menschheit, all der ausbeutdenden Klassen und reaktionären Kräfte in der Geschichte repräsentiert, steht als die Verkörperung des Unterdrückungsprinzips in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Prinzip der Befreiung, dessen Verkörperung das Proletariat ist.
Deswegen muss der bürgerliche kapitalistische Staat durch die politische Revolution vom Proletariat "als Staat aufgehoben" werden. Und der Staat oder "Halbstaat" wird aufgebaut, den das Proletariat für seine Diktatur als notwendige Gewalt zur Unterdrückung des Widerstandes der Bourgeoisie benötigt, um die alte Klassengesellschaft zur neuen klassenlosen Gesellschaft ohne Ausbeutung umzuwandeln. Gleichzeitig mit dem Aufbau wird er aber anfangen abzusterben, denn er macht nach Engels sich selbst überflüssig, indem er endlich tatsächlich Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird. Er stirbt ab, sobald sein Daseinsgrund, d.h. Klassenherrschaft nicht mehr da ist.
Und zwischen der Aufhebung des bürgerlichen Staates durch die proletarische Revolution und dem Absterben des "Halbstaates" liegt die übergangsperiode, "eine Periode des unerhört erbitterten Klassenkampfes und unerhört scharfer Formen dieses Kampfes". Trotz ihrer außerordentlich mannigfaltigen Formen sind alle bürgerlichen Staaten im Wesentlichen eine Diktatur der Bourgeoisie. Natürlich muss der übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus "eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit hervorbringen, aber das wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats".
Der Staat dieser übergangsperiode muss nach Lenin unvermeidlich auf neue Art demokratisch für das Proletariat und die anderen ausgebeuteten Klassen und auf neue Art diktatorisch gegen die Bourgeoisie, die ausbeutende Klasse sein.
17.04.2004
Literatur:
- "Staat und Revolution", Lenin, 1917
- "Thesen über das Wesen des Staates und der proletarischen Revolution, Internationalisme, 1948