Referat zum Treffen im Februar 2005
Die Theorie der Dekadenz
Der Kapitalismus befinde sich der Theorie der Dekadenz zufolge seit dem 1. Weltkrieg in seiner Niedergangsperiode, wo der Kapitalismus keine fortschrittliche Rolle für die Menschheit mehr spiele und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der gesellschaftlichen Produktivkräfte geworden seien. Die ganze Misere und die gesellschaftlichen Katastrophen, die wir direkt oder indirekt erleben, seien auf diesen Niedergang zurückzuführen. Was die Arbeiterbewegung angesichts der heutigen Weltlage betrifft, hätten jegliche alten Strategien aus der kapitalistischen Aufstiegsperiode wie z. B., Parlamentarismus, Gewerkschaften und Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegung ihre Gültigkeit verloren. Gegenüber all diesen Fragen spüre ich ein starkes Klärungsbedürfnis. Worum handelt es sich bei dieser Theorie?
Die Theorie der Dekadenz könnte wie folgt zusammengefasst werden:
- Alle vergangenen Gesellschaftsformen hatten einen allgemeinen Lebenszyklus: Aufstiegsperiode und Dekadenzperiode jeweils vor und nach ihrem Höhepunkt. Von ihrer Geburtszeit bis zu ihrem Höhepunkt (d.h. während ihrer Aufstiegsperiode) spielt eine Gesellschaftsform, nämlich die Gesamtheit der bestimmten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse eine fördernde Rolle für die Entwicklung der Produktivkräfte und in diesem Sinne eine fortschrittliche Rolle für die Menschheit. Ab dem bestimmten Zeitpunkt nach ihrem Höhepunkt aber wandeln sich dieselben Produktionsverhältnisse wegen der ihr innewohnenden Widersprüche zu Fesseln gegen die Entwicklung der Produktivkräfte um. Dieser Konflikt bringt die Entwicklungsstörung der Produktivkräfte, ihre Wachstumsverlangsamung und immer schärfer werdende Krisen auf der wirtschaftlichen Basisebene hervor und diese Störung wird durch das Chaos auf der Überbauebene und die Misere in dem Leben der Menschen widerspiegelt. Dieser Zeitraum nach dem Höhepunkt einer Gesellschaftsform bis zu ihrer Überwindung durch eine neue Gesellschaftsform wird als die Dekadenzperiode einer Gesellschaftsform, "die Epoche der Revolution" bezeichnet.
- Der Kapitalismus ist wie die anderen vergangenen Gesellschaftsformen kein ewiges System, obwohl er sich angesichts seiner Vielfältigkeit und Ausmaße von seinen Vorgängern unterscheidet. Die Dekadenz des Kapitalismus hat neben den Gemeinsamkeiten im Vergleich zu den anderen Gesellschaftsformen einige Besonderheiten: Da Der Kapitalismus die letzte auf Ausbeutung und damit Klassenteilung basierende Gesellschaftsform ist, kommt nur ein neues, aber kein Ausbeutungssystem, als seine Alternative für die Menschheit in Frage, nämlich der Sozialismus; Die revolutionäre Klasse gegen den Kapitalismus, das Proletariat, ist gleichzeitig eine ausgebeutete Klasse und begleitet den Kapitalismus von Anfang an, während die vergangenen revolutionären Klassen erst während der Dekadenzperiode des bestehenden Systems entstanden; weil das Proletariat gerade das Objekt der kapitalistischen Ausbeutung ist, ist selbst ein Versuch der Überwindung des Kapitalismus innerhalb des Kapitalismus logischerweise unmöglich. Aufgrund dieser Besonderheiten sind die Erscheinungssymptome der kapitalistischen Dekadenz ein wenig anders geprägt. Nachdem der Kapitalismus im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht hatte, ist er in seine Dekadenzperiode eingetreten. Der 1. Weltkrieg war in der Hinsicht eine Wende, wo das Aufeinanderprallen der imperialistischen Weltmächte das Erreichen der Ausdehnungsgrenze der Märkte, d.h. die relative Sättigung des Weltmarkts das erste Mal in der Geschichte der Menschheit widerspiegelte. Seitdem ist die Überwindung des niedergehenden Kapitalismus durch den Sozialismus auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt.
Eine richtige Theorie sollte auf die genauen Beobachtungen und deren tiefgehenden Analysen des Geschehens basieren und wiederum bei den weiteren vertiefenden Analysen helfen können. Die Theorie der Dekadenz stellt schon eine kohärente Erklärung der Ereignisse dar, die die Menschheit im vergangenen Jahrhundert erlebte: einerseits zwei Weltkriege mit bis dahin nie da gewesenen großen Zerstörungen, mehrere große Weltwirtschaftskrisen, gelegentliche Wirtschaftsbooms, zahlreiche lokale Kriege, andererseits die Russische Revolution, darauf folgende zahlreiche angebliche Revolutionen, der Aufstieg und der Untergang der sogenannten "kommunistischen" Länder. Aber um herauszufinden, ob der Theorie der Dekadenz eine kohärente und richtige Analyse eines umstrittenen Zeitraums gelungen ist, benötigt man eine genauere Untersuchung dieser Theorie und ihrer Analyse, die dieses Referat der Diskussion überlassen will. Um zur Diskussion beizutragen, möchte ich die beiden folgenden Punkte betonen:
- Der
1. Weltkrieg verdeutlichte den Eintritt des Kapitalismus in seine
Dekadenzperiode.
Marx und Engels, auf deren Schriften das Konzept der Dekadenz zurückzuführen ist, haben sich zwar geirrt, als sie 1848 in der Aufstiegsperiode des Kapitalismus eine proletarische Revolution erwarteten. Marxens damalige Behauptung, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu der Zeit in einen endgültigen Konflikt mit den Produktivkräften eingetreten seien, war in Anbetracht des Verlaufs der Geschichte sicher falsch. Aber sie erkannten richtigerweise den fortschrittlichen Charakter des damaligen Kapitalismus. Diese Verwirrung war auf die periodische Krise zurückzuführen, die später als Jugendkrise, als Wachstumskrise im Gegensatz zur Verfallskrise in der Dekadenzperiode bezeichnet werden sollte. Diese Erfahrung zeigt ironischerweise sehr deutlich, wie gut die Dekadenztheorie das Scheitern des damaligen Versuchs und anderer ähnlicher Versuche erklären kann. Danach machte Marx 1859 deutlich, dass eine Produktionsform nur erst dann verschwinden kann, wenn sich ihre Produktionsverhältnisse zu Fesseln für die Entwicklung der Produktivkräfte umgewandelt haben, und dass daher die Perspektive der kommunistischen Revolution von der globalen, materiellen und historischen Entwicklung des Kapitals abhängt.
Und der historische Verfall des Kapitalismus fängt nach der Schlussfolgerung der Untersuchung von R. Luxemburg in ihrer 1913 veröffentlichten Schrift, "die Akkumulation des Kapitals" zu dem Zeitpunkt an, wo eine relative Sättigung der vorkapitalistischen Märkte auftritt, die den grundlegenden Widerspruch des Kapitalismus verkörpert. Als der von ihr vorhergesehene 1. Weltkrieg 1914 ausbrach, war er nichts anders als die Bestätigung der Tatsache, dass die bis dahin als die einzige Lösung für die Überproduktionskrisen funktionierte imperialistische Expansion die Grenze erreicht hatte und dass der Kapitalismus in die Periode der Verfallskrise, eine Dekadenz eingetreten ist. - Wird
die Dekadenz des Kapitalismus durch die Wachstumsverlangsamung der
Produktivkräfte gekennzeichnet, fällt es einigen Kritikern
zufolge sehr schwer, das wirtschaftliche Wachstum nach dem 2.
Weltkrieg und gelegentliches Wachstum überhaupt zu erklären.
Stimmt das?
Einerseits die gestiegene Wachstumsrate nach dem 2. Weltkrieg ist eine logische Folge der während des Krieges hervorgerufenen Zerstörungen v. a. in den Industrienzentren und der Notwendigkeit des Wiederaufbaus. Wenn man nicht nur diesen kurzen Nachkriegszeitraum, sondern den breiteren Zeitraum im Auge behält, dann kann man sehr klar sehen, dass das sogenannte Wachstum gegenüber der Entwicklung der Produktivkräfte keine Bedeutung hat. Dieser Zyklus - Krieg - Wiederaufbau - ist der Dekadenztheorie zufolge ein Mechanismus des Kapitalismus zum Überleben geworden, den er gegen Überproduktionskrisen einsetzen muss. Aber als eine neue Wirtschaftskrise nach dem Ende der Wiederaufbauperiode um 1965 eintrat, waren der begrenzt Charakter dieser Mechanismen und damit die Wahrheit hinter diesem "Wachstum" klar zu erkennen.
Andererseits das Wachstum wurde stark durch das Wachstum des Rüstungswesens und die angestiegenen Rüstungsausgaben der Staaten begleitet. Das Wachstum der unproduktiven Branchen wie der Rüstungsproduktion bedeutet aus der Sicht des globalen Kapitals nur einen Verlust, der sonst für die Entwicklung der Produktivkräfte gebraucht werden könnte. Somit ist das Wachstum der unproduktiven Branchen, neben der Verstärkung des Staates als ein konservativer Apparat für die herrschenden Produktionsverhältnisse, ein Kennzeichen der kapitalistischen Dekadenz.
Es gibt einige Kritiker, die behaupten, dass die Theorie der Dekadenz nichts anders als Fatalismus verbreitete. Aber diese Behauptung ist bestenfalls ein Missverständnis. Die Kernidee, die die Theorie der Dekadenz unterstützt, ist letztendlich, dass für die Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus der Kapitalismus nicht nur objektive und subjektive Bedingungen (die Produktivkräfte und die revolutionäre Klasse) für seine Überwindung geschaffen haben sollte, sondern auch er sich selbst im Verfallszustand befinden sollte, und dass sein Eintritt in die Dekadenzperiode aufgrund des grundlegenden Widerspruches unvermeidlich ist und der Eintritt schon geschehen ist. Das heißt zwar, dass die Überwindung des Kapitalismus durch das Proletariat nun nicht nur eine Notwendigkeit wie früher sondern auch eine Möglichkeit ist, aber das bedeutet auf keinen Fall, dass seine Überwindung unvermeidlich ist. Die Tatsache, dass der Kapitalismus sich nun in seiner Dekadenzperiode befindet, bestätigt die Reifung der objektiven Bedingung für seine Überwindung. Was die subjektiven Bedingungen angeht, weist sie darauf hin, dass eine der typischen Erscheinungssymptome der Dekadenzperiode, nämlich die ständige Verschärfung der Krisen, das Proletariat durch die unerträglich sich verstärkende Ausbeutung dazu zwingt, sein Schicksal als die revolutionäre Klasse zu begreifen und dem entsprechend zu reagieren. Schließlich zeigt die Theorie der Dekadenz, dass die Entscheidung über die Zukunft der Menschheit, nämlich ob der Kapitalismus durch den Sozialismus überwunden wird oder die Menschheit die von dem dekadenten Kapitalismus verursachte Barbarei weiter hinnehmen muss, nun hauptsächlich von der Arbeiterklasse abhängig ist. In der Hinsicht hat die Theorie der Dekadenz nicht nur mit dem Fatalismus gar nichts zu tun, sondern sie wendet sich gar stärk gegen den Fatalismus.
Es ist nicht einfach, eine so umfassende Theorie ohne Missverständnisse richtig zu begreifen, wie die Theorie der Dekadenz mit ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte und vielen politischen praktischen Schlussfolgerungen, die die Arbeiterbewegung seit dem Entstehen des Konzepts der Dekadenz und dieser Theorie selber begleiteten. Wenn man die Theorie der Dekadenz mit ihren letzten Konsequenzen verstehen will, bleiben viele weitere vertiefende Untersuchungen und Diskussionen sicher unumgänglich. Die heutige Diskussion dient hoffentlich als ein mutiger Anfang eines Prozesses. Es ist doch klar, dass die durchgeführten Diskussionen wiederum diese Theorie bereichern werden, und dass diese Theorie die ganzen Bemühungen verdient, wenn man die Welt verstehen und zu ihrer Umwälzung beitragen will. Feb. 2005
Literatur
- Die Dekadenz des Kapitalismus, IKS
- Beilage zur IKS Broschüre, die Dekadenz des Kapitalismus, IKS
- Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen I, II, III, Internationale Revue Nr.10-12
- Understanding capitalism'decadence IV, V, International Review No. 55-56
- Die Theorie der Dekadenz ist das Herzstück des historischen Materialismus(Teil 1) Von Marx zur Kommunistischen Linken, Internationale Revue Nr.34
- Den Zerfall des Kapitalismus verstehen(Teil 1), Die marxistischen Wurzeln des Begriffs "Zerfall", Internationale Revue Nr.34