Generalstreikdebatte (Massenstreikdebatte)
Die Generalstreikdebatte in der II. Internationale
Zugrunde gelegt habe ich neben einigen Veröffentlichungen im Internet hauptsächlich das Buch von Antonia Grunenberg (Hrsg) „Die Massenstreikdebatte“ EVA, Fft.1970., hier insbesondere die Einleitung.
Über den Generalstreik als politisches Kampfmittel wird seit Entstehung der A. Bewegung debattiert. Schon die Chartisten in England setzten den Generalstreik in den 40er Jahren des 19.Jhrds zur Durchsetzung ihrer Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht ein.
1868 beschloss der Brüsseler Kongreß der 1. Internationalen (1864-1876) den Generalstreik als Mittel zur Verhinderung zukünftiger Kriege
In der 2. Internationale 1889 gab es bezüglich des Generalstreiks und der politischen sowie wirtschaftlichen Kämpfe zwei Gesichtspunkte:
der Streik als politisches und wirtschaftliches Kampfmittel
der Streik als Mittel des antimilitaristischen Kampfes
Der Gründungskongress der 2. Internationale beschließt den 1. Mai 1890 zu einem Demonstrationstag für den Acht- Stundentag zu gestalten. Doch es kommt nur in Frankreich, Österreich und Spanien zu Streiks. In Deutschland veranstaltet die Sozialdemokratie Sonntagsveranstaltungen. Die Sozialdemokratie befürchtete im Falle eines Massenstreiks einen Staatsstreich durch das Militär und den Staatsapparat, in dessen Folge die Arbeiterorganisationen zerschlagen würden. Die Erfahrung mit den Sozialistengesetzen, die Kriminalisierung und Illegalisierung steckte noch tief und die Drohungen der Bourgeoisie taten ihr Übriges.
Für den Generalstreik sprachen sich vor allem die französischen Syndikalisten aus.
Für deren anarchistische Fraktion war der Streik in erster Linie eine selbständige Aktion der Klasse im Kampf um wirtschaftliche Selbstbestimmung, weniger ein politisches Mittel.
Anders die sozialreformerische Gruppe um Jaurès und Briand. Sie waren für die aktive Parlamentsarbeit und die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Regierungen. Für sie war der Generalstreik ein Mittel zur Durchsetzung sozialer Reformen sowie zur Abwehr reaktionärer Anschläge auf die Republik. Der Generalstreik sollte das letzte Signal zur Revolution sein aber auch die Arbeitersolidarität, das Bewusstsein schulen und den Kampfgeist festigen.
Es kommt Bewegung in die Position der Sozialdemokratie. Noch 1893 lehnte sie einen Weltstreik in Form von nationalen Generalstreiks ab, kurz darauf hält sie Streiks und Boykotts für notwendig, sieht aber die Möglichkeit eines internationalen Massenstreiks für nicht gegeben. Für sie ist die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter vorrangig, da die Ausdehnung der Streiks auf ganze Industrien oder Länder davon abhängen würde:
Ohne starke Organisationen keine Diskussionen über Generalstreik (Karl Legien, Gewerkschaftsvorsitzender im Jahre 1900.)
Die theoretische Diskussion wird von der Klassenkampfpraxis eingeholt. Die Frage beantwortet sich konkret praktisch, die Arbeiter streiken:
-1902 streiken in Belgien 10.000e für dass allgemeine Wahlrecht, die belgischen Arbeiter beenden den Streik diszipliniert und geschlossen, ohne dass ihre Bewegung durch den Staatsapparat zerschlagen wird. Auch dies eine praktische Antwort auf die Befürchtungen der deutschen Sozialdemokratie…
-Auch in anderen Ländern kämpfen die Arbbeiter mit dem Mittel des Massenstreiks:
-In Schweden, Holland und Belgien erfolgreeich für das Wahlrecht, in Holland gegen das Streikverbotsgesetz, in Spanien für höhere Löhne.
All dies hat Auswirkungen auf die Diskussionen des Amsterdamer Kongresses 1904. Der Massenstreik sollte das äußerste Mittel sein um gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen (Protokoll des Internationalen Sozialistenkongresses Amsterdam 1904), es dominiert in dieser Argumentation die Furcht vor einem Staatsstreich, gleichzeitig sollte er der Beginn der sozialen Revolution bedeuten. Mehr als eine Floskel?
Wieder antwortet die Klasse auf ihre Weise:
-In Italien kämpfen die Arbeiter spontan und ohne das Zutun der Gewerkschaften und Parteien, blitzschnell weitet der Streik sich auf das ganze Land aus. Er hatte sich entzündet, nachdem die Polizei streikende Bauern und Arbeiter auf Sizilien erschossen hatte.
Dann kommt das Revolutionsjahr 1905.
Eine riesige Welle von Massenstreiks wälzt sich über Russland, nachdem der Zar den Hungerprotestzug von 200.000 Arbeitern vor dem Petersburger Schloss hat zusammenschießen lassen. Das Proletariat erwacht. Diese Revolution ist spontan entstanden und wurde von der russischen Sozialdemokratie unterstützt.
Die Internationale musste die bislang ablehnend beantwortete Frage des Massenstreiks auf diesem revolutionären Hintergrund neu beleuchten und neu beantworten.
Rosa Luxemburg führt aus, dass zum ersten Mal politische und wirtschaftliche Seiten des Kampfes im Mittel des Massenstreiks lebendig miteinander verbunden wurden. Wie künstlich und abstrakt war doch die Trennung in den theoretischen Debatten der Internationalen. Das Ziel des Massenstreiks war die Ersetzung der Zarenherrschaft durch die revolutionäre, bürgerliche Demokratie. (R.L. Massenstreik, Partei und Gewerkschaften Fft 1966, S.147,139) Massenstreiks waren in Russland die Revolution. Sie waren kein Kampfziel, sondern die Kampfform der revolutionären Arbeiterbewegung. Der Massenstreik „ist der lebendige Pulsschlag der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad. (RL Ges. Werke Bd 2, S.124)
Wie legalistisch und eingeengt agierte hingegen die deutsche Sozialdemokratie, der es um parlamentarische Machterweiterung und Stimmensammlung ging.
1905 warnt der Kongress der freien Gewerkschaften in Köln mit breitester Mehrheit in seinem Beschluss die Arbeiter vor der Auseinandersetzung mit dem Thema Massenstreik. Die Aneignung und Propagierung halte von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisation ab. Um die Organisation aufzubauen, brauche man Ruhe in der Arbeiterbewegung (siehe auch H.Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1966, sowie Detlef Lehnert: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei Frft 1983)
Auf dem Mannheimer Parteitag der SPD 1906 plädiert Bebel für die Eintracht zwischen den Gewerkschaften und der Partei. Der Parteitag stimmt dem Vorstandsantrag zu, dass ohne einen aktiven Rückhalt in den Gewerkschaften politische Aktionen der Arbeiter keine Chance hätten. Damit hat in der Massenstreikdebatte die Generalkommission der Gewerkschaften das letzte Wort. Die Zentralleitungen beider Organisationen sollen sich verständigen.
1913 (!)wird der Parteitag die Linie von 1906 nochmals bestätigen, mit verheerenden Folgen, wie wir heute wissen.
Mit dem Ende der revolutionären Erhebung in Russland war auch das Ende der Massenstreikdebatte in der Internationalen zunächst gekommen.
Sie flammte erneut in einem antimilitaristischen, Kontext auf, als Europa am Rande eines Krieges wegen der Neuaufteilungen der Kolonialgebiete zwischen den europäischen Großmächten England und Frankreich 1898 stand. (Westafrika, Faschodakrise (Sudan). , Aufteilung Chinas….) In dieser explosiven Situation wurde über Massenstreik, Generalstreik, Militärstreik oder den bewaffneten Aufstand im Kriegsfall diskutiert.
Wieder war es die deutsche Sozialdemokratie, die aus Angst vor der Illegalität bremste, währenddessen die franz. Sozialdemokratie die Arbeiter mittels Massenaktionen wachrütteln und mobilisieren wollte. Jaurè-Vaillant schlagen im Kriegsfall vor, alle inter/nationalen Mittel der Arbeiter von der parlamentarischen Intervention, dem Massenstreik, der öffentlichen Agitation bis zum Aufstand anzuwenden, um den Krieg zu beenden. (Stuttgarter Kongreß 1907), Bebels Entwurf ist da wesentlich zahmer und unpräziser.
Der von Luxemburg, Lenin und Martow verfasste Entwurf beinhaltete die Forderung, den möglichen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln und die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen. Man einigte sich schlussendlich auf eine Resolution, die alle Parteien im Kriegsfall zu Aktionen verpflichtete.
Grunenberg kommt zu dem Schluss, dass die Generalstreikdebatte in der II.Internationale keine Mobilisierungskräfte entfaltet habe. Vielmehr sei deutlich geworden, dass es der im Wesentlichen reformistischen westeuropäischen Sozialdemokratie nicht darum ging, sich auf eine Entscheidungsschlacht mit dem Kapital einzulassen, nicht darum, die Massen gegen den Krieg zu mobilisieren, sondern darum, die Arbeiter zu organisieren, die Organisationen auszubauen, sowie politische und wirtschaftliche Reformen durchzusetzen. (A. Grunenberg Hrsg, a.a.O. S.19)
Die Massenstreikdebatte in der SPD
Als die Internationale die Massenstreikdebatte aufwarf, beschäftigte sich die deutsche Sozialdemokratie noch mit der so genannten Revisionismusdebatte. Es ging darum, sich zu Fragen der Strategie und Taktik des politischen Kampfes programmatisch zu verhalten und sich gegen Positionen zu wehren, die die bisherige Ausrichtung auf den Klassenkampf und die Abschaffung des Kapitalismus verwarfen. (Eduard Bernstein). Nach Bernstein war der Kapitalismus nicht mehr zu überwinden und Verbesserungen für die Arbeiter nur im Rahmen der bestehenden Gesellschaft durch kontinuierliche Reformen möglich. („Der Weg ist alles, das Ziel ist mir nichts“, so Bernstein) Deutlicher konnte der revolutionäre Charakter der Partei nicht infrage gestellt werden. Man versucht -aus Angst vor einer möglichen Spaltung- gegenüber der „Parteilinken“ (Luxemburg, Kautsky, Bebel…)einen Kompromiss zu finden und die Partei zentristisch zu einigen. Das revolutionäre Endziel des Kampfes wird zwar noch benannt, aber es fehlt an strategischen Überlegungen, wie denn dieses Ziel zu erreichen sei. Durch den Wahlerfolg (1,5 von 7 Millionen Wählern)nach dem Fall der Sozialistengesetze fühlen sich die Reformer bestätigt.
Friedrich Engels stärkt ohne das Ziel der Revolution zu verschweigen, die Position der Wahlpolitik und Parlamentsarbeit. Er erklärt den Barrikadenkampf für überliefert und nicht mehr zeitgemäß. Es gelte vielmehr, den wachsenden „Gewalthaufen“ der Wählerschichten [vor der sich alle anderen Mächte beugen müssten (!!!)] bis zum Tag der Entscheidung zu stärken Das sei die Hauptaufgabe der Sozialdemokratie. (Marx/Engels Werke Bd. 7, Engels: Einleitung zu „Klassenkämpfe in Frankreich“, S.524). -Interessant ist, dass die SPD- Partei jene Stellen aus dem Engelstext streicht, in denen vom „Tag der Entscheidung“ und der Revolution die Rede ist. .(Grunenberg a.a.O.S.23)-
Als die SPD bei den nächsten Wahlen 1903 bereits 3 Mio. Stimmen erhält, sehen die Parteioberen dies als Erfolg ihrer Strategie der parlamentarischen Schwerpunktarbeit an. Gleichzeitig verstärkt es die Abneigung, die Massenstreikdebatte zu führen. Aber die Arbeiterkämpfe in Belgien und Italien zwingen der Partei die Diskussion auf.
-Kautsky macht deutlich, dass der Massensttreik in Deutschland an eine unmittelbar revolutionäre Situation gebunden sein müsse.
-Parvus spricht sich für den Massenstreikk als politisches Druckmittel aus falls die Partei existentiell bedroht werde. Er warnt die Herrschenden vor einem solchen Angriff auf die Partei und droht mit dem Beginn der4 sozialen Revolution.
-Henriette Roland-Holst bezeichnet Parvus Artikel als metaphysisch und den Massenstreik in fortgeschrittenen Industrieländern als nicht durchführbar; eine Position, die auch Rosa Luxemburg 1895 teilt, sieht auch sie den Massenstreik nicht als praktisch anwendbares Mittel.
-Franz Mehring stellt sich 1902/03 gegen dden Parvus Artikel und setzt stattdessen alles auf die Wahlkarte.
Zumindest theoretisch findet in der Partei allmählich eine Diskussion über den Massenstreik statt, was wiederum in den Gewerkschaften auf heftigsten Widerstand trifft. Die Ideen des Generalstreiks wurden als gefährlicher, syndikalistischer Unsinn abgetan. Ohne starke Organisationen sei der Massenstreik nicht einmal vorstellbar. Alleine die Diskussion darüber sollte nach Möglichkeit schon im Keim verhindert werden, so der Wunsch der Gewerk-schaftsführer. Man möchte lieber „neutral und friedlich legal die Organisation in Ruhe aufbauen“.
Der revolutionäre Kampf der russischen Arbeiter zwingt die Arbeiter 1905 auch in den Gewerkschaften zur Diskussion über den Massenstreik. Zwar versucht die Gewerkschafts-führung spontan aufflammende Solidaritätsstreiks an der Ruhr einzudämmen, aber das Thema ist auf dem Tisch. Dennoch wird der Generalstreik und die Diskussion darüber vom Vorsitzenden der Bauarbeitergewerkschaft kategorisch abgelehnt, man will Ruhe an der Klassenkampffront.
Die SPD sieht sich gezwungen, die Gewerkschaftslinie zentristisch zu kritisieren. Bebel, der die Revolution als einen defensiven Akt ansah, versuchte die „evolutionäre kapitalistische Gesellschaftsentwicklung“ mit der Theorie des sich ständig vergrößernden Machtzuwachses durch die Parlamentsarbeit zu verbinden. Gleichzeitig warnt er vor der Gefahr der „Nurgewerkschafterei“. Der Parteivorstand kann sagen, man propagiere zwar nicht den Massenstreik, aber man habe ihm zugestimmt, [Umarmung nach links] als letztmögliches Mittel, wenn es denn nicht anders gehe; eine Position, die den Gewerkschaften schon viel zu weit ging.
1906 bestimmen 3 Ereignisse die Diskussion um den Massenstreik:
1. Die Berichte aus Russland über die revolutionären Kämpfe der Arbeiter .Es wird deutlich, mit welcher Kraft, Tiefe und Perspektive die Arbeiter dort kämpfen, wobei Rosa L. die einzige ist, die die russischen Massenstreiks analysiert. .
Kautsky erwähnt nicht einmal die Agitation und Propaganda für eine bürgerliche Demokratie durch die Arbeiter, bemängelt die fehlende Organisierung des kämpfenden russischen Proletariats, und warnt vor einer Parallelisierung zwischen Russland und Deutschland.
2. Der Mannheimer Parteitag der SPD verdeutlichte die Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften. Es kommt heraus, dass SPD Parteivorstand und Gewerkschaftsführung sich geheim darauf geeinigt hatten, dass die Gewerkschaften volle Autonomie in allen „Gewerkschaftsfragen“ – damit natürlich auch in der Frage des Massenstreiks- haben.
Die Massenstreikdebatte wurde zu einer theoretisch abstrakten Frage heruntergefahren, Bebel und Legien (Gewerkschaftsführer) einigten sich darauf, dass man im Falle von nicht vorhersehbaren, von der Bourgeoisie provozierten, revolutionären Situationen, Streiks zu erwägen gedenke. (Grunenberg a.a.O. S.30)
Deutlich wird:
- Die SPD sieht zwar im Massenstreik die sstärkste Form der Auseinandersetzung zwischen SPD und Staatsapparat, ohne sich aber konkret zu äußern, wie denn diese Auseinandersetzung praktisch aussehen könnte und mit welcher Strategie und Taktik sie zu führen ist.
- Zwar wird die Notwendigkeit der Revolutiion nicht geleugnet, aber im Parteiverständnis bricht die Revolution als von der Bourgeoisie angeordnet und gemacht über die Arbeiter herein. Die Bourgeoisie zerstört dieser Logik zufolge ihr eigenes System, das von den Arbeitern nur noch übernommen werden muss.
Waren das noch die alten Ziele und Vorstellungen der SPD?
3.Das Erscheinen der Broschüre von Rosa Luxemburg: „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“.
Anhand der Ereignisse der russischen Revolution greift sie die Massenstreikdebatte auf und kritisiert in aller Schärfe die quanitativ-formale und mechanistische Betrachtung vom Verhältnis von Revolution und Organisation durch Partei und Gewerkschaft. Die Ereignisse in Russland zeigten vielmehr, dass auch ein wenig geschultes Proletariat wie das russische, durch jahrelange Kämpfe hervorragende Erfolge und Fortschritte verbuchen kann. Die Geschichte zeige, dass es falsch sei, erst die gesamte Arbeiterklasse zu organisieren und dann die Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie zu beginnen. Dieses bürgerliche Selbstverständnis sei gerade die Kehrseite der anarchistischen Herangehensweise, die die Revolution mit spontanen Aktionen und im Handstreich vollbringen wollten. Währenddessen möchte die SPD die pragmatischen und konkreten Überlegungen zur Revolution auf den Tag verschieben, an denen die Mehrheit der Arbeiter organisiert sei. Die Gewerkschaften hätten sowieso die Arbeiter verraten, indem sie nur auf einen friedlichen Machtwechsel orientierten. Außerdem dürfe man die formale Organisation, bzw den Organisationsgrad nicht als Garanten dafür nehmen, dass die Arbeiter an einem bestimmten Tag agieren würden.
Organisation heiße nicht organisatorische Erfassung , vielmehr: praktische Erfahrung im Klassenkampf, Schulung, Bewusstseinsbildung, Aufbau von Solidarität…Es bedürfe der praktischen Kämpfe der Klasse, der praktischen und theoretischen Konfrontation mit verschieden Institutionen der Bourgeoisie, damit die quantitative Organisiertheit der Arbeiter in eine qualitative, in eine höhere Stufe umschlage.
Die Partei nutzte diese radikale Kritik von Rosa L. nicht. Im Gegenteil. Sie verschwieg die Kernaussagen zu den Organisationen oder verwarf sie gänzlich, und kritisierte, dass Rosa die Ereignisse und Methoden zum Modell erheben wollte. Die Gewerkschaftsführer sahen in Rosas Broschüre einen Generalangriff auf die ideologische Linie von Partei und Gewerkschaft, womit sie sicher nicht Unrecht hatten. Parallel erlebt Rosa Luxemburg auf vielen Veranstaltungen, wie sehr die Losung des Massenstreiks stürmische Zustimmung fand,
wie viele Nachdrucke ihres Artikels stattfnden.
Die Kontroverse Rosa Luxemburg – Karl Kautsky
Die Scheineinheit des Mannheimer Parteitages zerfiel im Jahr 1907, als die SPD bei der Wahl fast die Hälfte der Reichstagsitze (38 Stck) verlor. Die auf Reformen genormten Kräfte in der Partei forderten eine Einstellung der verbalradikalen Parolen, wie sie in der Massenstreikdebatte aufgetaucht waren. Anstattdessen solle man sich auf die Parlaments-arbeit konzentrieren. Es begann ruhig zu werden .
Erst 1910 flammte die Debatte erneut auf, als die SPD auf den Versuch der Regierung, das bestehende Drei- Klassenwahlrecht abzuschaffen, mit Massendemonstrationen und Versammlungen reagierte. An diesen Demonstrationen für gleiches Wahlrecht beteiligten sich viele der zeitgleich streikenden Bauarbeiter und Bergleute. 370.000 Arbeiter hatten die Arbeit niedergelegt, es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Luxemburg klärte auf, agierte und agitierte erfolgreich unter den kämpfenden Arbeitern, sie veröffentlichte viele Reden und entsprechend radikale Zeitschriftenartikel. Es kommt zur Auseinandersetzung mit Karl Kautsky in der „Neuen Zeit“.
Kautsky und Luxemburg verband eine lange Freundschaft. Kautsky hatte Luxemburg in der Parteipresse „Neue Zeit“ untergebracht, wo sie Bebel kennen lernte. Kautsky hatte erkannt, welche Brisanz darin lag, den Massenstreik als allgemeine Bewegungsform des proletarischen Klassenkampfes anzuerkennen und im Parteibewusstsein zu verankern. Die kämpfenden russischen Arbeiter bewiesen, was es heißt, wenn sich eine solche Erkenntnis im Bewusstsein niederschlug und genau von dieser praktischen Kampferfahrung und ihrer weitreichenden Dynamik ging Rosa Luxemburg aus. Kautsky versuchte hingegen, alle Anzeichen eines sich verschärfenden Klassenkampfes in Deutschland zu zerstreuen und die Debatte auf der theoretischen Ebene über eventuelle Möglichkeiten zu belassen.
Hinter der Massenstreikdebatte verbargen sich zunehmende tiefe inhaltliche Differenzen zu Grundfragen der Partei. Kautsky beginnt die Parteitaktik, vor allem den Parlamentarismus, als bestimmende und alleinige Kampfform zu rechtfertigen. Luxemburg wiederum verdeutlicht, dass sie den Massenstreik nicht als Gegensatz zum Parlamentarismus, zu täglichen Schulung, Aufklärung und Organisierung verstanden wissen will sondern als ein hervorragendes Mittel, diese zu fördern. Rosa geht es darum, eine der bestehenden Situation angemessene Strategie und Taktik zu entwickeln und anzuwenden. Kautsky hingegen geht davon aus, dass der Massenstreik die Erfolge der „Ermattungsstrategie“ der parlamentarischen Linie und die Wahlerfolge zerstöre. Er will ihn nur als „latente Drohung gegenüber der Regierung“ sehen, um in unvorhersehbaren Situationen die Existenz der Arbeiterbewegung zu verteidigen.
Ähnlich tiefgehende Differenzen treten zwischen Luxemburg und Kautsky in der Frage der - republikanischen Agitation, also dem auch nach außen offensiv und agitatorisch geführten Kampf für die demokratische Republik; Kautsky sieht darin eine Bedrohung sozialdemo- kratischer Macht, - sowie vor allem bei der Einschätzung deer russischen Revolution zutage.
Kautsky betont an der russischen Revolution, wie unorganisiert, chaotisch und spontan sie ablaufe, und wie schwach das Zarenreich sei. Dem stellt er ein hochorganisiertes deutsches Proletariat und eine starke zentralisierte Bourgeoisie und Reaktion gegenüber.
Luxemburg sagt, gerade der Verlauf der russischen Revolution bestätige die Richtigkeit und Passgenauigkeit der Massenstreiks. Entscheidend ist für sie die modellhafte, offensive Kampfform des russischen Proletariats. (A.Grunenberg a.a.O.S.40)
Pannekoek greift einige Jahre später 1912 Kautsky an, der in seinem Artikel „Die Aktion der Masse“ die Masse keiner klassenmäßigen Analyse unterzieht, sondern letztendlich alles in einen Topf wirft. (Lumpenproletariat, Kleinbürger, modernes Proletariat, Bauern…)
In Form einer Vermischung von organisierten und nichtorganisierten Massen am Beispiel der Wahlrechtsbewegung äußert Kautsky seine Vorstellung zukünftiger Machtergreifung, sie entsprechen dem Verlauf der bürgerlichen Revolution. Pannekoek betont die Notwendigkeit, die jeweiligen Aktionen der verschiedenen Schichten in ihrem klassenmäßigen Zusammenhang, ihrer Klassenlage und Klassenstimmung zu betrachten, sonst könne man keine Klarheit erzielen. Pannekoek zeigt auf, dass im Zeitalter des Imperialismus entschlossene Massenaktionen des Proletariats die einzige Möglichkeit seien, unentschlossene und unorganisierte Teile des Proletariats und des Kleinbürgertums in den Klassenkampf einzubeziehen. Anders als Luxemburg setzt er jedoch bei den Massenaktionen ein hohes Maß an Organisierung, Bewusstheit, Wissen und Disziplin der Arbeiter sowie eine tiefe Einsicht der Arbeiter in die möglichen politischen und gesellschaftlichen Folgen ihres Handelns voraus.
Pannekoek meint, es bestehe die Notwendigkeit, dass das Proletariat, bevor es zum Mittel der Massenaktionen greife, hochgradig organisiert sein. Bei einer hoch organisierten Staatsmacht mit seinem Apparat müsse auch das Proletariat gut, machtvoll und klassenbewusst organisiert sein. Die Menge organisierter Arbeiter reiche nicht aus, es komme auf die Qualität vor allem das Klassenbewusstsein an.
Auch strategisch grenzt sich Pannekoek in der Frage der Machtübernahme durch das Proletariat von Kautsky ab. Pannekoek sagt, es sei unmöglich, die Macht friedlich zu übernehmen. Die Machtübernahme reiche zudem nicht aus, der bürgerliche Staatsapparat müsse zerschlagen werden. -Was auch bei Pannekoek fehlt ist, dass die bürgerliche Klasse durch die Diktatur des Proletariats niedergehalten werden muss-.
Pannekoek reproduziert im Rahmen der Massenstreikdebatte in Bezug auf die Vorbedingungen die sozialdemokratischen Organisationsvorstellungen einerseits, Rosa Luxemburg andererseits baut vollständig auf die Spontaneität der Massen.
Die Spaltung der reformistischen SPD zeichnete sich ab, ebenso die unbedingte Notwendigkeit des Bruches mit den Gewerkschaften.
Die Frage ob, inwieweit und wenn ja, in welcher Form die Arbeiter organisiert sein müssen, wenn/ oder bevor sie zum Mittel des Massenstreiks greifen, wird sicher eine spannende Frage in der folgenden Diskussion sein. Die Frage des Bewusstseinsstandes wird eine weitere entscheidende Frage sein.
Soweit fürs Erste einmal mit dem Versuch einer historischen Einbettung der Massenstreikdebatte.