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Politischer Diskussionszirkel Rheinland

Referat zum Thema:

Erziehung und Kommunismus II, Referat 1


Auszug aus „William Morris – Kunde von Nirgendwo“
– Trotzdem Verlagsgenossenschaft e.G. Erstmals erschienen 1890.

Der Erzähler befindet sich in der Zukunft – der Kommunismus hat schon längst den Kapitalismus abgelöst. Er begegnet Menschen, mit denen er über alle möglichen Lebensfragen spricht (Geschlechterrolle, Zivilisation, Arbeit…) – bleibt dabei aber inkognito.
Er unterhält sich in diesem Abschnitt über Erziehung, Schule und Lernen – erst mit seinem Begleiter (als sie in einen Wald ankommen), dann mit einem älteren Mann.



Romantisch war dieser Wald von Kensington wohl, aber nicht einsam. Wir stießen auf zahlreiche Gruppen, welche kamen und gingen oder in den Waldgärten herumwanderten oder spielten. Unter letzteren waren viele Kinder von sechs und acht bis hinauf zu sechzehn oder siebzehn Jahren. Sie erschienen mir als wahre Mustertypen ihres Alters und Geschlechts und vergnügten sich offenbar auf das allerbeste. Einige spielten um kleine, im Rasen befestigte Zelte, und vor mehreren dieser Zelte hingen Töpfe über einem Feuer, wie bei den Zigeunern. Dick erklärte mir, hier und da stünden Häuser im Forste – und wir erblickten auch im Fluge eines oder zwei. Die meisten sollten nach Dicks Schilderung ganz klein sein wie die Katen (Cottages) zur Zeit, da es noch Sklaven im Lande gab, aber gut eingerichtet und hübsch und für den Wald wie geschaffen.

»An Kindern scheint hier gerade kein Mangel zu sein«, bemerkte ich, auf die vielen umherschwärmenden Kinder deutend.

»Oh«, rief er, »glauben Sie etwa, dass diese Kinder nur aus den in der Nähe liegenden Waldhäuschen kommen? Von nah und fern kommen sie hierher. Sie machen oft Ausflüge und treffen sommers auf Wochen in den Wäldern zusammen und leben in Zelten, wie Sie hier sehen. Wir muntern sie dazu auf; sie lernen so selbständig denken und handeln, beobachten die Natur und die Tiere des Waldes, und je weniger sie in den Stuben zu hocken und die dumpfe Stubenluft zu atmen haben, desto besser ist’s für sie. Selbst Erwachsene bringen häufig den Sommer in Wäldern zu, nur begeben sie sich zu diesem Zweck meist in die größeren Wälder: in die bei Windsor oder den Dean-Wald oder in die Einöden des Nordens. Abgesehen von den sonstigen Vergnügungen und Annehmlichkeiten, die solch ein Aufenthalt gewährt, finden sie dort noch Gelegenheit zu schwerer körperlicher Arbeit, die in den letzten fünfzig Jahren einigermaßen selten geworden ist.«

Er brach ab und erklärte dann:

»Ich sage Ihnen das alles, weil ich sehe, dass Sie Fragen denken, wenn auch nicht aussprechen, und weil ich mich verpflichtet fühle, Ihre stummen Fragen zu beantworten; mein Verwandter wird Ihnen bessere Auskunft geben. «

Ich merkte, dass ich auf dem Sprunge sei, mich zu verraten, und so sagte ich, bloß um mir über meine Verlegenheit hinwegzuhelfen:

»Nun, das junge Volk ist dann um so frischer für die Schule, wenn der Sommer vorbei ist und sie zurück müssen. «

»Schule?« fragte er erstaunt, »ja, was meinen Sie mit diesem Wort? Ich wüsste nicht, in welchem Zusammenhang es mit Kindern zu bringen ist. Wir sprechen wohl von einer Philosophenschule, von einer Malerschule, - von einer Dichterschule – wie man aber von einer Kinderschule reden kann, das – « und er begann zu lachen – »das geht über meinen Horizont. «

Zum Henker! dachte ich, ich kann kaum den Mund auftun, ohne eine neue Verwicklung heraufzubeschwören. Ich wollte gar nicht versuchen, meinem Freund in seinen etymologischen Forschungen auf die Sprünge zu helfen; und über die Knabenställe, wie ich die Schulen zu nennen pflegte, zog ich gleichfalls vor zu schweigen, da mir ziemlich klar war, dass sie verschwunden waren. Nach etwelchem Umhertappen stotterte ich denn heraus:

»Ich brauchte das Wort im Sinne einer Erziehungsanstalt. «

»Erziehung – ?« fragte er nachdenkend. »Ich habe das Wort schon anwenden hören, bin aber noch niemanden begegnet, der mir eine deutliche Erklärung des Sinnes zu geben vermocht hätte.«

Man kann sich vorstellen, wie bei diesem offenen Bekenntnis meine Freunde in meiner Achtung sanken; und nicht ohne einen etwas verächtlichen Ton sagte ich:

»Nun, Erziehung bedeutet ein System, nach welchem man junge Leute lehrt, unterweist.«

»Warum nicht auch alte Leute?« fragte er mit einem schelmischen Zwinkern. »Aber ich kann Sie immerhin versichern, dass unsere Kinder etwas lernen, ohne dass sie durch ein Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben. Ei, nicht eines dieser Kinder sollten Sie finden, Junge oder Mädchen, das nicht schwimmen, nicht eines, das sich nicht auf den kleinen Wald-Ponies zu tummeln verstände – da sehen Sie gleich eins! Kochen können sie durch die Bank, die größeren Jungen können mähen, viele können dachdecken und verrichten allerhand Tischlerarbeit, oder sie verstehen sich auf sonst eine Hantierung. Ich kann Ihnen versichern, sie haben eine große Menge von Sachen gelernt. «

»Ja doch, aber ihre Erziehung des Geistes und Charakters, die Bildung des Gemüts«, sagte ich.

»Lieber Gast «, sagte er, »Sie haben vielleicht die Dinge nicht gelernt, von denen ich sprach, und wenn das der Fall ist, so glauben Sie ja nicht, dass keine Geschicklichkeit dazu gehörte und dass der Geist und das Gemüt nicht ihre Nahrung dabei fänden. Sie würden Ihre Meinung augenblicklich ändern, wenn Sie zum Beispiel einen Jungen aus Dorsetshire beim Dachdecken beobachteten. Allein ich begreife wohl, dass Sie von Büchergelehrsamkeit reden, und die ist doch eine einfache Sache. Die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig zu lesen, obgleich es heißt, dass dies nicht immer so gewesen sei. Was das Schreiben betrifft, so lassen wir die Kinder nicht allzu zeitig kritzeln (obgleich sie sich nicht ganz davon abhalten lassen), weil sie sich dann eine hässliche Handschrift angewöhnen; wozu das viele hässliche Schreiben, wenn das mechanische Drucken doch so bequem ist? Natürlich legen wir Wert auf eine schöne Handschrift und viele schreiben ihre Bücher ab oder las

sen sie abschreiben – natürlich nur solche Bücher, von denen bloß wenige Exemplare gebraucht werden, Gedichte und dergleichen. Aber ich schweife ab. Entschuldigen Sie mich, denn ich bin bei der Sache persönlich interessiert. Ich bin selber ein Schönschreiber. «

»Nun gut«, sagte ich, »wenn die Kinder Lesen und Schreiben gelernt haben, lernen sie dann nichts anderes – zum Beispiel Sprachen?«

»Oh gewiss«, antwortete er; »oft sprechen sie schon Französisch, bevor sie lesen können, da unsere nächsten Nachbarn jenseits des Wassers diese Sprache sprechen, und fast ebenso schnell lernen sie Deutsch, das von einer großen Anzahl Menschen des Festlandes gesprochen wird. Das sind die Hauptsprachen, die wir außer Englisch, Walisisch oder Irisch, das nur eine Abart des Walisischen ist, auf unserem Inselreich sprechen, und die Kinder schnappen diese Sprachen schnell auf, weil sie dieselben von den Erwachsenen sprechen hören. Zudem bringen unsere überseeischen Gäste oft ihre Kinde mit, und so kommen die Kleinen zusammen und lernen gegenseitig die Sprachen voneinander.«

»Und die alten Sprachen?«

»Oh ja«, sagte er, »sie lernen meistens Lateinisch und Griechisch mit den modernen Sprachen zusammen.«

»Und Geschichte? Wie lehren Sie Geschichte?«

»Je nun«, meinte er, »wenn jemand lesen kann, so liest er, was ihm Spaß macht, und er findet sehr bald jemand, der ihm die besten Bücher über den oder jenen Gegenstand nachweist oder ihm erklärt, was ihm in den Büchern, die er liest, dunkel geblieben ist.«

»Schön, und was lernen sie sonst? Sie werden doch nicht alle Geschichte lernen?«

»Oh nein«, erwiderte er, »nicht alle haben Interesse dafür, ja sogar recht viele haben keins. Wie mein Urgroßvater sagt, kümmern sich die Menschen meistens nur in Zeiten des Aufruhrs, des Kampfes und der Wirrsale um die Geschichte, und« - fuhr mein Freund mit einem liebenswürdigen Lächeln fort, »dergleichen kommt heutzutage nicht vor. Nein, viele forschen nach dem Ursprung der Dinge, nach den Gesetzen der Verkettung von Ursache und Wirkung, so dass Wissen und Kenntnisse unter uns zunehmen, wenn Sie das für einen Vorteil halten. Andere wiederum, wie Freund Bob, verbringen ihre Zeit mit Mathematik. Es ist ja doch unnütz, die Neigungen der Menschen zwingen zu wollen.«

»Sie sollen doch nicht sagen, dass Kinder all diese Dinge lernen?«

»Das hängt davon ab, was Sie unter Kindern verstehen; auch müssen Sie bedenken, wie verschiedenartig die Kinder veranlagt sind. In der Regel lesen sie außer ein paar Märchenbüchern bis ungefähr zu ihrem fünfzehnten Jahr nicht viel. Vorzeitige Lern- und Lesewut findet keine Unterstützung bei uns, aber trotzdem gibt es immer Kinder, die sehr früh zu den Büchern greifen, was vielleicht nicht gut für sie ist. Doch ist es zwecklos, ihnen zu wehren, und gewöhnlich dauert es nicht lange, und bevor sie ihr zwanzigstes Jahr erreichen, haben sie in der Regel ihre Richtschnur gefunden. Die Kinder ahmen bekanntlich gerne Erwachsene nach, und wenn sie die meisten Leute mit wirklich unterhaltender und nützlicher Arbeit, wie Häuserbauen, Straßenpflastern, Gärtnerei und Ähnlichem beschäftigt sehen, so treibt es sie, dasselbe zu tun, und wir brauchen uns deshalb vor einer Überschwemmung mit Büchergelehrten nicht zu fürchten. «

Was konnte ich hierzu sagen? Ich saß schweigend da, um keine neue Verwirrungen und Missverständnisse herbeizuführen. Außerdem strengte ich meine Augen mit aller Macht an, um zu entdecken, wann unser altes Grauchen, das so hurtig einhertrabte, uns in das eigentliche London bringen würde, und welche Veränderungen mit der Stadt vorgegangen seien.

Mein Begleiter konnte indes sein Thema nicht ganz fallenlassen, und nachdenklich fuhr er fort:

»Aber selbst wenn die Kinder als Büchergelehrte aufwachsen, kann es ihnen nicht allzu viel schaden. Es ist ein wahres Vergnügen, sie so glücklich in Arbeiten vertieft zu sehen, nach denen keine sonderliche Nachfrage geschieht. Außerdem sind dieses Studenten gemeinhin höchst liebenswürdige Menschen, gut und sanft von Gemüt, bescheiden und mit Eifer bereit, allen alles zu lehren, was sie selber wissen. Ich muss sagen, dass ich alle, mit denen ich bekannt geworden bin, ungemein gern habe. «



Fragen und Antworten

»Nun?« fragte der Alte und rückte unruhig in seinem Stuhl hin und her, »wollen Sie nicht mit Ihren Fragen fortfahren? Die Antwort auf die erste hat etliche Zeit gekostet.«

»Ich möchte von Ihnen wohl ein Extrawörtchen oder zwei über Ihre Ideen von Erziehung hören«, sagte ich, »wiewohl ich aus Dicks Reden bereits so viel entnommen habe, dass Sie Ihre Kinder wild aufwachsen und nichts lernen lassen; dass Sie Ihr Erziehungswesen mit einem Wort derart vervollkommnet haben, dass Sie jetzt gar keine Erziehung mehr haben. «

»Da sind Sie schief gewickelt«, sagte er. »Aber natürlich begreife ich, dass Sie in Sachen der Erziehung den Standpunkt vergangener Zeiten vertreten, wo der Kampf um Sklavenrationen einerseits und um den fetten Löwenanteil der privilegierten Sklavenhalter andererseits, die Erziehung der meisten Menschen auf kümmerliche Dosen eines zum Teil sehr wenig genauen Wissens beschränkte – Dosen, die der Anfänger in der Lebenskunst wohl oder übel herunterzuwürgen hatte, einerlei ob er danach hungerte oder nicht, und die von Leuten, welche sich nichts daraus machten, vorgekaut und wieder und wieder verdaut wurden, um den Brei anderen Leuten vorzusetzen, die sich ebenfalls nichts daraus machten.«

Ich musste über den aufsteigenden Zorn des Alten laut lachen: »Auf keinen Fall sind Sie in dieser Weise unterrichtet worden, lassen Sie deshalb Ihren Grimm verrauchen, Freund.«

»Wahr, wahr!« sagte er und lächelte wieder. »Ich danke Ihnen, dass Sie meiner üblen Laune Einhalt tun, ich versetze mich nämlich sofort in jede Periode, von der man gerade spricht. Um das Thema also ruhiger zu behandeln: Sie erwarteten, dass die Kinder schulpflichtigen Alters ohne Rücksicht auf ihre verschiedenen Fähigkeiten und Anlagen in Schulen gesperrt und, wenn einmal dort, mit gleich brutaler Rücksichtlosigkeit einem herkömmlichen Lehrkursus unterworfen würden. Begreifen Sie nicht, mein Freund, dass ein solches Vorgehen das körperliche und geistige Wachstum gleich sehr außer acht setzt? Niemand könnte ohne Schaden aus solch einer Tretmühle hervorgehen, und der Zermalmung würden nur die widerstehen, in denen der meisten Kindern zu allen Zeiten innegewohnt haben, sonst wüsste ich nicht, wie wir unsere jetzige Stellung hätten erreichen können. Alles das ist vorbei, wir werden nicht mehr hastig vorangepeitscht, und der Unterricht ist jedem erreichbar, dessen Neigungen ihn danach begehren lassen.«

»Ja«, wandte ich ein, »nehmen Sie aber an, dass das Kind, der Jüngling oder der Mann sich sträubt, Arithmetik oder Mathematik zu lernen. Wenn er erwachsen ist, können Sie ihn nicht zwingen. Könnten und sollten Sie es nicht tun, so lange er wächst?«

»Schön«, sagte er, »hat man Sie gezwungen, Arithmetik oder Mathematik zu lernen?«

»Ein bisschen.«

»Und wie alt sind Sie jetzt? «

»Sagen wir sechsundfünfzig. «

»Und wie viel Arithmetik und Mathematik wissen Sie jetzt? «

»Leider nicht das Geringste. «

Hammond lachte vor sich hin, äußerte sich jedoch sonst nicht über mein Zugeständnis, und ich ließ das Thema über Erziehung fallen, da es mir hoffnungslos schien, ihn in diesem Punkt auf andere Gedanken zu bringen.

Nach einigem Nachdenken bemerkte ich: »Sie sprachen von Haushaltung: Schmecke das nicht etwas nach den Sitten der alten Zeit? Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt mehr in der Gemeinschaft leben, mehr im öffentlichen Leben aufgehen. «

»Phalansterien, was?« rief er. »Nun, wir leben, wie es uns gefällt, und in der Regel gefällt uns, mit bestimmten Hausgenossen zu leben, an die wir uns gewöhnt haben. Vergessen Sie doch nicht, dass es keine Armut mehr gibt und dass die Organisationen der Fourier und Konsorten nichts weiter waren als eine Zuflucht vor gänzlicher Entbehrung, wie’s zur Zeit ja nicht anders zu verlangen war. Solch eine Lebensweise konnte nur von Leuten ausgeheckt werden, welche die Armut in ihrer bittersten Gestalt kannten. Wiewohl aber besondere Haushaltungen bei uns die Regel bilden und sie in ihren Gewohnheiten mehr oder minder voneinander abweichen, so ist es doch selbstverständlich, dass keine Tür einem freundlichen Gast verschlossen ist, der sich den Lebensgewohnheiten der übrigen Hausgenossen anzupassen bereit ist. Es wäre ja natürlich auch ein unbilliges Verlangen, wenn jemand in einen Haushalt eintreten wollte, um die andern zu zwingen, ihm zuliebe ihre Gewohnheiten aufzugeben und sich den seinigen zu fügen; er kann ja anderswohin gehen und nach seiner Neigung leben….

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