Mit Kind und Kegel
COLIN  ROSS
(1885 - 1945)

[Colin Ross mit 'Toppy' 1925]

EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
ALS ES NOCH KEIN INTERNET GAB
Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts

"Natürlich ist es richtiger, jede Reise vorher zu planen, sich genau vorzubereiten und über alles zu unterrichten, was sehenswert ist. Aber ich kann mich noch immer nicht dazu entschließen. Man nimmt sich damit die ganze Freude an der Entdeckung. Freilich gibt es heute auf dieser Erde kaum noch etwas zu entdecken. Trotzdem lassen sich die erstaunlichsten überraschungen erleben, wenn man nur den Touristenbüros fern bleibt. Allerdings kann einem auf diese Weise etwas entgehen. Ich habe jedoch nie den Ehrgeiz gehabt, alles zu sehen. Was man unvorbereitet sieht, womöglich ohne daß man je vorher davon gehört hat, wird einem zu ganz anderem Besitz. Besonders aber gründet man sein Urteil auf das eigene Erlebnis, nicht auf die Berichte anderer... Schließlich ist der Zweck eines Reisebuches ja nicht, die 'letzte Erkenntnis' eines fremden Landes zu geben, sondern es soll ein lebendiges Bild denen vermitteln, die es nicht kennen. Da ist es gut, wenn der Verfasser bei Antritt der Reise von dem fremden Lande auch nicht mehr weiß als der Durchschnitt seiner Leser. Denn dadurch bewahrt er sich die volle Naïvität und den Blick dafür, was die Leser interessiert... So entstanden alle meine Reisebücher aus Anschauung und persönlichem Erleben, keines aus Literatur und Bücherwälzen." Diese Sätze könnten von Dikigoros stammen (wenn man davon absieht, daß er den sechsten Satz statt mit "allerdings" mit "gewiß" oder "zwar" und den neunten mit "vor allem" statt mit "besonders" begonnen hätte :-) - sie stammen jedoch von Deutschlands beliebtestem Reiseschriftsteller der Zwischenkriegszeit: Colin Ross.

Der "englische" Name täuscht, wenngleich der Deutsch-Böhme Colin Ross (ausweislich seiner Unterschrift schrieb er sich tatsächlich so, nicht "Roß", wie ihn einige unverbesserliche Deutschtümler immer wieder geschrieben haben) bisweilen dunkle Andeutungen machte, daß auch schottisches Blut in seinen Adern flösse. (Im März 2004 sollte gar ein Namensvetter auftauchen und behaupten, Colin Ross sei ein "direkter Nachkomme" der schottischen Polarforscher John und James Ross; aber bei dieser Vermutung dürfte eher die Namensgleichheit und die Neigung zum Reisen Pate gestanden haben als Fakten; sein Vater hieß nicht Frederick, sondern Friedrich, und seine Mutter Charlotte, geb. Christiansen.) Dikigoros vermutet vielmehr, daß es sich - wie bei seinen Landsmännern Egon Kisch und Richard Katz - um jüdisches Blut handelte, und daß sein NName weniger mit dem Pferd als mit der Blume zu tun hatte - ein untrügliches Zeichen für die Verwandtschaft mit den Rosenbaum, Rosenberg, Rosenbusch, Rosenfeld [Roosevelt], Rosenholz, Rosenkranz, Rosenschild [Rothschild], [Rosen-]Stein (verwandt, aber nicht zu verwechseln mit Rubinstein alias "Robespierre"), [Rosen-]Stern, [Rosen-]Tal, Rosenwasser (alias Rosewater alias Rousseau, [Rosen-]Zweig und wie sie sonst alle hießen. Das würde jedenfalls seine Ablehnung des Antisemitismus erklären, obwohl er doch sonst ein strammer Vertreter des rechtsnationalen Kurses war. Wie Katz und Kisch hatte Ross als Journalist angefangen zu schreiben - obwohl er gar kein gelernter Journalist war, sondern vielmehr "Historiker und Geograph durch Neigung" und Ingenieur von Beruf. (Er hatte an der TU Berlin und an der TU München Maschinenbau und "Hüttenkunde" studiert, allerdings schon in München auch Volkswirtschaft, Geschichte und "Geopolitik" bei deren Erfinder, Professor Karl Haushofer, gehört und später seinen Dr. phil. an der Universität Heidelberg gemacht.) Als solcher reiste er 1912 erstmals (nicht privat, sondern als Mitarbeiter des Deutschen Museums für Naturwissenschaft und Technik) nach Amerika, in die U.S.A., nach New York City und nach Chicago, wobei er zu der letzteren Stadt, die für ihn viel mehr Amerika verkörperte als die erstere, eine merkwürdige Haßliebe entwickelte (die nur verstehen kann, wer sie selber einigermaßen kennt); sie war für ihn "die tollste und übelste Stadt der Welt" - aber darüber sollte er erst ein Vierteljahrhundert später schreiben, nachdem er mit seiner Familie schon einige Jahre dort gelebt hatte.

Ebenfalls noch 1912 reiste Colin Ross als Kriegsberichterstatter der Münchner Illustrierten "Zeit im Bild" auf den Balkan, wo er bis 1913 blieb, und anschließend - Anfang 1914 - nach Mexiko, wo auch Krieg herrschte: Bürgerkrieg oder - wie man heute dazu sagt - "Revolution". Revolution wessen gegen wen oder was und wozu? Das fragt man sich bei dieser chaotischen Revolution vergeblich; ihre schnell wechselnden persönlichen Allianzen und Zerwürfnisse, Verrat und Koalitionswechsel am laufenden Band, all das stellen sie in eine Reihe mit der Französischen Revolution von 1789-95 und der chinesischen Revolution von 1911, die ebenfalls in einem von mehr oder weniger langen Pausen unterbrochenen Bürgerkrieg mündete, der erst mit der kommunistischen Machtergreifung von 1949 enden sollte. Colin Ross war voreingenommen, denn er hatte sich ins Hauptquartier von Pancho Villa begeben (wo man ihn für einen Abgesandten des deutschen Generalstabs hielt) und berichtete von dort nicht ganz unparteiisch - wie auch? [Unter uns, liebe Leser, die anderen Bürgerkriegs-"Generäle" und -"Präsidenten", die Huerta, Zapata, Obregón und vor allem jener Trotski-Verschnitt Carranza - bei dem Colin Ross auch kurz zu Besuch, aber weniger beeindruckt war - waren wahrscheinlich nicht viel besser als jener "geniale und gewalttätige Räuberhauptmann" (Ross über Villa).] Diese beiden Reisen haben Colin Ross nachhaltig geprägt, wenngleich er damals noch nicht mehr darüber schrieb als eben die Kriegsreportagen, für die er offiziell dort war. Ausführlicher sollte er auch über seine dortigen Erlebnisse erst ein knappes Vierteljahrhundert später berichten, als er sie titelmäßig verknüpfte zu "Der Balkan Amerikas. Mit Kind und Kegel durch Mexiko". "Gerade noch rechtzeitig" kam Colin Ross im Sommer 1914 über die U.S.A. (die zwar offiziell "neutral" waren, ihn aber wohl als Staatsangehörigen der Mittelmächte - anders als Angehörige der Entente-Staaten - in ein "Internierungs"-Lager gesteckt hätten) nach Deutschland zurück, um am Ersten Weltkrieg teilzunehmen - wiederum als Kriegsberichterstatter. Er war in Frankreich, in Polen, in Serbien, vor Verdun, in Rußland, im Baltikum und wieder in Frankreich, wurde Reserveoffizier und bekam das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse verliehen. Aber auch seine Erinnerungen an diese Reisen ("Vier Jahre am Feind. Meine Erlebnisse im Feld") sollte er erst mit 20 Jahren Verspätung veröffentlichen.

* * * * *

Schon 1919 zog Colin Ross wieder in die Welt hinaus, als einer der ersten Angehörigen der Verlierer-Staaten des Ersten Weltkriegs - also noch vor Alma Karlin, die so sehr über die Beschränkungen und Diskriminierungen durch die Siegerstaaten klagte. Von 1922 an veröffentlichte er jedes Jahr ein Buch über eines seiner Reiseziele: "Südamerika, der aufsteigende Kontinent" (Ross beschränkte sich freilich auf die für weiße Auswanderer geeigneten Länder Brasilien, Uruguay, Argentinien, Chile und - nein, nicht Paraguay, sondern Bolivien, und er bereiste sie auch in erster Linie unter diesem Gesichtspunkt); "Der Weg nach Osten" (Rußland, Ukraine, Transkaukasien, Persien, Buchara [Usbekistan] und Turkestan - man sollte meinen, daß Colin Ross auf den Spuren von Sven Hedin gereist sei - ist er aber nicht, das Buch entstand im damals für kurze Zeit von österreichischen Truppen besetzten Charkiw, der Hauptstadt der Ostukraine), "Das Meer der Entscheidungen" (gemeint war der Pazifik) und "Heute in Indien". Allerdings bereiste Colin Ross da nur Hinterindien, d.h. vor allem das heutige Indonesien (an das er - anders als Richard Katz und A. E. Johann - sein Herz nicht verlor; nur die "wuundervollen javanischen und balinesischen Gemelang-Orchester" beeindruckten ihn tief - was Dikigoros überhaupt nicht nachvollziehen kann, aber er ist wahrscheinlich zu musikalisch :-) und das heutige Malaysia (mit Singapur). Das gab ihm Anlaß zu Vergleichen zwischen der britischen und der niederländischen Kolonial-Politik - einem schönen Beispiel, wie man aus richtigen Beobachtungen die falschen Schlüsse ziehen kann: Die "eminent kluge Politik" der Niederländer lobte er sehr, da sie die Mischlinge als ihresgleichen behandelten, wohl in Erinnerung an "Peter Erberfeld"; sie habe dazu geführt, daß sich die Insul-Inder - entgegen einer Theorie von Professor Haushofer - nicht nach einer "Befreiung" durch die Japaner sehnten, zu denen "die Rassen-, Standes- und Sprachgegensätze" der Malaien "viel zu groß" seien. Den britischen Kolonien zwischen Australien und Vorderindien räumte er dagegen keine große Zukunft ein, da es die Engländer versäumt hätten, rechtzeitig für "eine vernünftige Rassenmischung" zu sorgen; so werde auch Australien nicht mehr lange als Land des weißen Mannes zu halten sein, und der "soziale Egoismus" des Commonwealth werde sich bitter rächen... So so.

Exkurs. Gewiß, es ist leicht, hinterher alles besser zu wissen; aber diese Fehleinschätzung zeigt nur eines: Colin Ross war kein Rassist, ja er verstand überhaupt nichts von Rassen. Wieviel schärfer sah das doch vor dem Krieg ein Richard Katz, der als guter Rassist (in dem Sinne wie Dikigoros das versteht) dem Rassismus der farbigen Völker Südostasiens durchaus Verständnis entgegen brachte (ein "Verständnis", das von "verstehen" kam, ohne ein Anhänger des dümmlichen Spruches "tout comprendre c'est tout pardonner" zu sein), oder nach dem Krieg ein Raymond Cartier! "Eminent klug" soll es gewesen sein, Mischlinge an der Regierung zu beteiligen? Aber gerade Pieter Erberfeld war doch der beste Gegenbeweis: Hätte er sich als "Weißer" gefühlt, hätte er keinen Aufstand angezettelt; und hätten die Malaien ihn als einen der ihren betrachtet, wäre er nicht verraten und an die Holländer ausgeliefert worden. Die von Haushofer prognostizierte "Südostasiatische Wohlstandssfäre" unter japanischer Führung war 1941-45 Wirklichkeit geworden und hätte noch heute in dieser Form Bestand, wenn die Amerikaner sie nicht in dem Bestreben, selber an die Stelle der Japaner zu treten, 1945 zerschlagen hätten. (Wirtschaftlich hat Japan sie längst wieder hergestellt, und die USA haben nicht nur die Märkte in den Filipinen, ihrer einstigen Kolonie, sondern auch in Malaysia und Indonesien verloren.) Die "vernünftigen" Rassenmischlinge sind fast überall ausgerottet worden, zerrieben zwischen den "reinrassigen" Volksgruppen und ihrem Haß - was "unvernünftig" gewesen sein mag, aber gleichwohl eine Tatsache. Die Herrschaft der Weißen in Niederländisch-Indien - der neben Belgisch-Kongo und Britisch-Indien reichsten Kolonie der Welt - wurde mit einem Schlag hinweg gefegt (wobei die USA die - formell mit ihnen verbündeten - Holländer de facto ebenso als Feinde behandelten wie zuvor die Japaner, und die den pseudo-revolutionären Terroristen und späteren Diktator Soekarno anfangs ebenso unterstützten wie danach Castro, Mobuto, Noriega oder Saddam Hussein). Der Aderlaß, die Opfer an wertvollem Gut und Blut waren ungeheuer (aber über diese traurige Geschichte schreibt Dikigoros an anderer Stelle); heute ist Indonesien ein islamischer Kanakenstaat am Rande des Zusammenbruchs (oder genauer gesagt: des Auseinanderbrechens), und die Menschen sind, nachdem sie das Erbe der Holländer (und der Japaner und der Chinesen) teils verfrühstückt, teils mutwillig zerstört haben, wieder bettelarm geworden, wie vor der Kolonialzeit - es hat sich gezeigt, daß der Reichtum "des Landes" nicht nur die flinken Finger der gelben Kaufleute, sondern auch die lenkende Hand der weißen Kolonialherren zur zwingenden (im wahrsten Sinne des Wortes :-) Voraussetzung hatte, und der ist nun perdu à jamais. Dagegen hat ausgerechnet Australien die ersten fünf Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg als "weißes Land" überlebt, weil - wie Raymond Cartier mit unverhohlenem Cynismus schrieb - die Vorfahren der Australier grausam genug waren, die Eingeborenen fast auszurotten und keine Fremdrassigen ins Land zu lassen. Diese - und nur diese - Politik trug reiche Früchte, die Australien freilich im Begriff ist, durch eine verfehlte, pardon "vernünftige" Eingeborenen- und Einwanderungspolitik, die das Land allen Rassen öffnet, zu verspielen, ohne auf die wenigen warnenden Stimmen zu hören; binnen einer Generation werden sich die "Erfolge" von so viel "eminenter Klugheit" zeitigen. Exkurs Ende.

[Nachtrag Dezember 2005: Dikigoros hat Recht behalten: Kurz nach den schweren Rassenkrawallen vom November 2005 in Frankreich - über die man sich vor allem in den USA und in Australien das Maul zerrissen hatte, wo man ja eine viel bessere Integration der Fremdrassigen betrieben zu haben glaubte - ging es auch auf dem fünften Kontinent los, wovon man freilich in deutschen Landen kaum Notiz nahm.]

Nach "Vorderindien", also das heutige Pākistān und das heutige Bhārat, ließen die Engländer Colin Ross so kurz nach dem Ersten Weltkrieg nicht einreisen. (Ross erwähnte einmal kurz, daß er auch in Jaypur gewesen sei; Dikigoros hat allerdings nicht heraus gefunden, wann und in welchem Zusammenhang das gewesen sein soll.) Nur auf Ceylon, dem heutigen Shrī Lankā, durfte er kurz Station machen, weil der Dampfer, mit dem er die Rückreise nach Europa antrat, routinemäßig in Colombo anlegte. (Bleibendster Eindruck - den er freilich schon vorher gewonnen hatte, beim Anblick halbnackter sinhalesischer Gastarbeiter in Hinterindien: Die jungen Männer hatten auffallend schöne Körper; nun ja, das ist Ansichtssache, Dikigoros findet sie eher etwas mickrig gebaut, aber er steht halt mehr auf Frauen und hat bei den Männern vielleicht nicht genau genug hingeschaut :-). Egal, Colin Ross traute sich zu, das "Problem Indien" auch so richtig zu analysieren - "schließlich beschränkt sich dieses ja nicht auf Bengalen und das Pandschab." Das zeigt, daß es ihm weniger um die "inneren" Probleme jener Länder ging, als vielmehr um ihr "Außenverhältnis", d.h. das zu ihren Kolonialherren; und da sah er aufgrund deren gegenseitiger Zerfleischung im Ersten Weltkrieg den Anfang vom Ende der weißen Vorherrschaft gekommen: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen." (Größenwahnsinnig? Vielleicht, liebe Leser, aber auch nicht mehr als Goethe, den Ross da zitiert; und im Gegensatz zu dem ollen Wahl-Ossi hat er diesen Satz jedenfalls nicht ein Vierteljahrhundert zurück datiert.)

[Singapur - Bangkok zur Zeit von Colin Ross] [Bahnlinie Singapur - Bankgkok heute]

Gewissermaßen als Ersatz für das ihm vorenthaltene Vorderindien war es Colin Ross gelungen, ein Visum für Syām [das erst 1939 in "Thailand" umbenannt werden sollte] zu ergattern, obwohl Deutsche und Deutsch-österreicher eigentlich auch dort noch nicht wieder einreisen durften. (Syām war dem Deutschen Reich und österreich-Ungarn 1917 in den Rücken gefallen und hatte ihnen den Krieg erklärt, um die Narren enteignen zu können, die dort investiert hatten, was Ihr heute in keinem Geschichtsbuch mehr findet, liebe Leser - die Dummen sollen doch nicht alle werden! :-) Er reiste dort mit der Eisenbahn (die von deutschen Ingenieuren gebaut und von deutschen Banken finanziert worden war - sehr zum Unwillen der Engländer und Franzosen, die das Land zwischen Britisch-Indien, Französisch-Indochina und Britisch-Malaya im 19. Jahrhundert nur deshalb nicht entlang des Menam zwischen sich aufgeteilt hatten, weil der Urwald allzu unwegsam schien) auf den Spuren seines "Kollegen" Alfred Harmsworth alias Lord Northcliffe, des großen Journalisten, Zeitungsverlegers und Deutschen-Hassers, der im Ersten Weltkrieg erst Kriegsberichterstatter war (er hatte wie Colin Ross auf der anderen Seite über die Schlacht von Verdun berichtet - darauf bezog sich wohl der "Kollege") und am Ende britischer Propaganda-Minister. Selbst einer seiner amerikanischen Verbündeten meinte einmal, daß seine Lügen schneller um die ganze Welt reisten als die Wahrheit sich auch nur auf den Weg machen konnte. Auf seiner eigenen "Reise rund um die Welt (Juli 1921 - Februar 1922)" holte er sich Streptokokken, denen er binnen weniger Monate erlag, weshalb aus ihm kein Reiseschriftsteller mehr wurde. Wahrscheinlich hätte er als solcher ebenso gelogen wie als Propaganda-Minister - Colin Ross äußerte jedenfalls am Wahrheitsgehalt einiger seiner Schilderungen ernsthafte Zweifel. Gleichwohl sang auch er selber am Ende das hohe Lob des Reisens im Zug (zum ersten- und letzten Mal, bevor er auf's Auto umstieg) - mit Recht: Die Bahnstrecke zwischen Singapur und Bangkok hat auch Dikigoros als eine der schönsten der Welt in Erinnerung, und sie dürfte das heute noch - oder wieder - sein, nachdem praktisch alle interessanten Strecken in Amerika und Europa still gelegt und in Indien modernisiert und auf Schnellzug-Verbindungen umgestellt worden sind. (über den Unterschied zwischen Reisen im Express und im Bummelzug beim Kennenlernen von Land und Leuten kann jeder, der noch nicht selber drauf gekommen ist, bei Colin Ross nachlesen oder bei Paul Theroux - Dikigoros hat dem nichts hinzu zu fügen.)

Nun glaubte Colin Ross die Welt gesehen zu haben und schrieb 1925 - völlig verfrüht - seine Memoiren als Reiseschriftsteller: "Das Fahrten- und Abenteuerbuch". Dessen zweite Hälfte betitelte er "Der Weltreisende" und leitete es mit den Worten ein: "Die nachfolgenden Blätter geben Teile eines Lebens, das reich war an Erfüllung und an Abenteuer." (Gewissermaßen als Abschluß dieser seiner "Weltreisen" hatte er auch einen Film gedreht unter dem Titel "Mit dem Kurbelkasten um die Erde".) Als ob es das schon gewesen wäre! In den folgenden Jahren sollten noch zwei Dutzend Bücher über die Teile der Welt folgen, die Colin Ross seitdem bereiste - meist "mit Kind und Kegel", d.h. seine Familie nahm er mit, gewissermaßen um zu repräsentieren, denn er reiste, wie schon vor dem und im Ersten Weltkrieg, meist in offiziellem oder halb-offiziellem Auftrag. Er sah dabei noch einmal fast die ganze Welt - mit zwei bedauerlichen Ausnahmen: Das Manko, ["Vorder-"]Indien nicht gesehen zu haben, das schönste und schwierigste Reiseland der Erde, teilt er mit Kisch und Katz. (Nein, es gab keine Ausrede mehr; die Engländer hätten ihn inzwischen einreisen lassen; und es kann wohl kein ernsthafter Zweifel bestehen, daß es auch politisch eine der weltweit interessantesten Fragen war, was aus der britischen Kolonialherrschaft in Südasien würde.) Auch die Sowjet-Union bereiste er zunächst nicht. ("Der Weg nach Osten" beschreibt eine Reise während des Bürgerkriegs, vor der offiziellen Gründung der Sowjet-Union, als deren spätere Gebiete noch weitgehend in der Hand der "Weißen" waren.) Dabei hätte ihm als gelerntem Ingenieur Stalins Spruch "Schriftsteller sind Ingenieure der Seele" doch eigentlich gefallen müssen.

Doch Colin Ross fühlte sich als National-Sozialist, nicht erst seit 1933. (Er soll auch Mitglied der NSDAP gewesen sein, seit wann ist allerdings nicht heraus zu bekommen.) Wenn man seine Bücher genauer liest und mit denen seiner Zeitgenossen vergleicht, fragt man sich indes, warum. Antisemit war er wie gesagt nicht (er kritisierte Carl Lämmle - über den Dikigoros an anderer Stelle schreibt - ob seiner grellen Filmplakate, aber nie wäre es ihm eingefallen, ihn "den Filmjuden" zu nennen, wie es die Amerikaner taten), Rassist wie gesehen ebenso wenig (jedenfalls nicht mehr als Kisch, Katz, Edschmid oder A. E. Johann - eher weniger, denn er vermochte dem "Weltgefühl des primitiven Menschen" durchaus Sympathien abzugewinnen), sondern nur stolz, Deutscher zu sein; und bisweilen gewinnt man den Eindruck, der Hauptgrund dafür war, daß er das Glück hatte, auf einem deutschen Schiff oder in einem deutschen Mercedes fahren zu können - "Auf deutschem Boden um die Erde" nannte er eines seiner Bücher in Anspielung darauf. Nein, Dikigoros scherzt nicht, und er glaubt, daß es auch Colin Ross ganz ernst damit war. So schrieb er in "Heute in Indien", dem letzten Buch vor seinen vermeintlichen Reisememoiren: "Die tägliche Autofahrt ist erfrischender als das tägliche Bad. Das Auto verdoppelt die Leistungsfähigkeit des weißen Mannes, und vor allem auch der weißen Frau in den Tropen. Ich habe mich diesmal noch kümmerlich ohne eigenen Wagen beholfen, aber wirklich nur kümmerlich; denn das Auto gehört außerhalb Deutschlands nun einmal zum alltäglichen Leben." Und noch zehn Jahre später ist für Colin Ross das schönste am schönen Fluß Columbia in Oregon die "herrliche Autostraße", die an ihm entlang führt, "und weiter durch hohe, alte Wälder bis zu einem deutschen Apfelweinfabrikanten, der einen Ausschank am Wege hat..." (Ja, deutsche Autos und deutscher Apfelwein! Zumindest das letztere kann Dikigoros nachempfinden; er hat noch vierzig Jahre später den apple whine - der freilich inzwischen nicht mehr so heißen darf, da das ja viel zu deutsch klänge, sondern "cider", nach dem französischen "cidre" - als hochwillkommene Abwechslung von der ewigen Coca Cola kennen und schätzen gelernt :-) Welch ein Gegensatz etwa zu Richard Katz, der das Auto für eine Erfindung des Teufels hielt! Für Colin Ross war es eine Erfindung von Daimler, Benz, Diesel und Otto; und Henry Ford war für ihn, wiewohl persönlich alles andere als sozial empfindend, "ein großer sozialer Revolutionär... der den Millionen das Verkehrsmittel des Millionärs gab." (Ross selber hätte freilich Fords billige "Tin Lizzy [Blechliesel]" nicht fahren wollen - die war nur gut für die Emanzipation der "armen Leute"). Und was die technische Revolution anbelangt, so schrieb Ross in "Der Wille der Welt" ganz nüchtern: "Die Technik ist weder Gott noch Satan, sondern immer nur Mittel." Es ist gut, daß dieses Buch - ebenso wie "Die Welt auf der Waage" - vor 1933 erschienen ist; man kann Ross also nicht vorwerfen, von Hitlers Machtergreifung beeinflußt worden zu sein. "Der Wille der Welt" ist eigentlich eines seiner schwächsten Bücher - Colin Ross eignete sich nicht zum Schreibtisch-Filosofen, und es war an einem Schreibtisch in einem Alpendorf bei Ruhpolding entstanden. (Der Titel war übrigens nicht von "Der Wille zur Macht" inspiriert - jenem Friedrich Nietzsche zugeschriebenen Werk seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche -, sondern von "Willenswelt und Weltwille", einem heute fast vergessenen Werk des großen Afrika-Reisenden Carl Peters, und das ging wiederum auf "Die Welt als Wille und Vorstellung" zurück, das Hauptwerk des Danziger Filosofen Arthur Schopenhauer, über den Peters sich habilitiert hatte. Colin Ross hätte "Eine Reise zu sich selbst" - so der Untertitel - besser "Totem und Tabu" genannt; aber der Titel war schon durch ein Werk Sigmund Freuds belegt :-) Immerhin schrieb Ross ehrlich, daß diese "Reise" nur in Gedanken statt gefunden hatte; manche seiner Zeitgenossen nahmen dagegen tatsächliche Reisen zum Vorwand bzw. ihre "Reisebücher" als Aufhänger für Gedanken, die mit dem bereisten Land nur wenig oder gar nichts zu tun hatten, und die sie sich ebenso gut am Schreibrtisch hätten zurecht legen können - man denke nur an Waldemar Bonsels "Indienfahrt", Hermann Hesses "Siddharta" oder, ein paar Jahrzehnte später, Joachim Fests "Im Gegenlicht". Wie schrieb der letztere - auf seine Art auch ganz ehrlich: "Früher reiste man noch irgendwo hin; heute reist man von irgendwo weg." Ja, die meisten Reisenden von heute fliehen vor sich selber, in eine vermeintlich bessere Welt, die sie sich am Schreibtisch ausdenken und in ferne, möglichst exotische Länder mitzunehmen versuchen. Wenn sie taub und blind genug sind, kann das sogar klappen, und sie kehren begeistert heim; wenn nicht, weil ihnen irgend jemand oder irgend etwas unterwegs die Augen oder die Ohren öffnet, ist die Enttäuschung groß - aber sie suchen die Schuld dann nicht etwa bei sich selber, sondern bei den Leuten vor Ort: Wie schön wäre Italien ohne die Italiener, Kenya ohne die Neger usw. Und zu jener Sorte Reisenden gehörte Colin Ross eben nicht.

Colin Ross hatte eigentlich mit all den schönen (und unschönen :-) politischen Ismen seiner Zeit wenig am Hut - und zwar aus Erfahrung, denn in der Praxis hatte er sie halt überall in der Welt scheitern sehen, vor allem die Demokratie und den "privaten Kapitalismus" made in USA (die er in der schlimmsten Zeit der "großen Depression" erlebte, die ja noch viele Jahre nach dem Börsenkrach vom Schwarzen Freitag 1929 anhielt, als Industrie und Landwirtschaft ebenso darnieder lagen wie die meisten Dienstleistungs-Branchen), die uns heutigen als so selbstverständliche Ideale verkauft werden. Ross hielt dagegen: "Man darf nicht vergessen, daß die internationalen Ideen auf allen Gebieten versagten. Weder hat das Christentum einen alle Menschen erfüllenden Glauben bringen können, noch der Pazifismus den Weltfrieden. Die Demokratie hatte ebensowenig die allgemeine Gleichheit im Gefolge wie der Marxismus den Wohlstand aller. Die europäisch-amerikanische Zivilisation brachte durchaus nicht das größte Glück der größten Zahl, sondern zog im Gegenteil, je weiter sie sich über die Erde ausdehnte und je stärker sie sich mechanisierte, desto mehr Unruhe, Gefahr, Wirren und Leiden nach sich... Die großen internationalen Ideen... enden in Nationalismus auf allen Gebieten, in der Politik, in der Wirtschaft, im geistigen Schaffen und selbst in der Religion. An Stelle der Weltreligion treten die nationalen Religionen, an die Stelle des Gottes aller Menschen ohne Rücksicht auf Farbe und Rasse der nationale Gott eines bestimmten Volkes... So legte die faschistische Revolution Italiens den Nachdruck auf eine Wiederbelebung des alten Roms, seiner Macht wie seiner Kultur, während die deutsche national-sozialistische Revolution unter anderem in der Gedankenwelt der Rasse, die japanische dagegen in dem heiligen heimischen Boden als dem Sitz der Götter wurzeln... Die amerikanischen Demokraten irren in dem Glauben, die 'Gefahr des Nationalismus' durch den Internationalismus wirksam bekämpfen zu können. Gegen diese Gefahr hilft heute keine internationale Idee, weder eine religiöse wie das Christentum noch eine politische wie der Pazifismus, noch eine ökonomische wie der Marxismus, sondern nur eine übernationale, also eine, die alle nationalen Formen als gleichwertig anerkennt, ihnen allen Lebensraum gewährt und sich darauf beschränkt, sie sich möglichst ohne Reibung nebeneinander entfalten zu lassen." Wohl wahr - jedenfalls wüßte auch Dikigoros keine bessere Lösung.

Colin Ross vertrat eine "Drei-Wellen-Theorie" der Menschheits-Geschichte; und er sagte nach einer vergangenen Epoche des Kollektivismus und einer gegenwärtigen Epoche des Individualismus für die Zukunft einen Rückfall voraus - oder eine Rückkehr, wie man es nimmt: "Auf die Epoche der Individualität folgt wieder die Gemeinschaft. Sie ist das Wesentliche für den Menschen von heute, vor allem für den jungen Menschen. Diese Gemeinschaften sind Erinnerungen an den Totem-Verband von einst, in dem der Einzelne sicher geborgen war, und der ihm Platz und Rang anwies. Im Faschismus wie im Bolschewismus offenbart sich das am klarsten. In beiden kommt die Flucht des Einzelnen ins Kollektiv zum Ausdruck, das sich in einem möglichst ständisch, also wieder kollektiv gegliederten Staat zusammen zu schließen sucht. Bolschewismus wie Faschismus ist ein völlig aufs Diesseits gewandter Glaube. Hierin liegt die Größe und die Gefahr Moskaus wie Roms, daß sie den Versuch unternehmen, das Denken und Wollen von Millionen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Daß man in Sowjetrußland wie in Italien Gedanken gegen das System, gegen den herrschenden Glauben nicht äußern darf, ist viel zu selbstverständlich, um sich noch darüber zu entrüsten. Aber die Männer vom Kreml wie dem Palazzo Venezia machen den viel weiter gehenden Versuch, die Zollfreiheit für Gedanken aufzuheben. Nichts ist törichter, als sich über die Ungeistigkeit des Bolschewismus oder des Faschismus zu entrüsten und über die Glaubenslosigkeit in Sowjetrußland oder im faschistischen Italien. Man mag aus hundert berechtigten Gründen gegen Bolschewismus wie gegen Faschismus sein. Es ist aber gefährlichste Unterschätzung, nicht sehen zu wollen, daß in Rußland mit der Verwirklichung des Fünfjahresplanes, daß in Italien mit dem Aufbau des faschistischen Staates Unerhörtes geleistet wurde, daß hier ein Glaube am Werke ist, der Berge versetzt. So aufgefaßt ist der Bolschewik, der felsenfest davon überzeugt ist, daß der Kommunismus das Paradies verwirklichen wird, gläubiger als ein Mittel- oder Westeuropäer, der im Grunde weder an Gott noch an den Sozialismus glaubt, neuerdings auch nicht mehr an die Weltwirtschaft und den Liberalismus, und der seinen letzten Halt verliert, seitdem auch das Geld anfängt, ein unsicherer Begriff zu werden." Fällt Euch etwas auf, liebe Leser, vor allem liebe Politologen? Richtig: Erfinder der "Totalitarismus-Theorie" war - jedenfalls inhaltlich - nicht die Jüdin Hannah Arendt, die Deutschland 1933 verließ (sie sollte 1951 nur das Schlagwort prägen), sondern der "Nazi" Colin Ross, der 1933 nach Deutschland zurück kehrte! Und noch etwas: Colin Ross setzte Faschismus und National-Sozialismus ebenso wenig gleich wie etwa Kasimir Edschmid - aber aus entgegen gesetzten Gründen, wie wwir gleich sehen werden. [Der letzte Halbsatz wurde unter dem noch nachwirkenden Eindruck der Geldentwertung durch die Nachkriegs-Inflation und die Währungsreform von 1923 geschrieben - wollen wir hoffen, daß er nicht eines Tages in Teuro-Land wieder aktuell wird.]

Colin Ross war auch kein Militarist - wer war das schon, wenn er vier Jahre Krieg und eine schwere Verwundung hinter sich hatte? Er hetzte auch nicht zur Feindschaft oder Revanche, etwa gegen die Franzosen, wie A. E. Johann es tat, geschweige denn, daß er seitenweise darüber schrieb, daß Deutschland unbedingt "seine" Kolonien zurück bekommen müsse - im Gegenteil: Er hatte den Mut zu schreiben, das einzig Gute am Ausgang des Ersten Weltkriegs sei gewesen, daß Deutschland seine Kolonien los geworden sei! Ja, Colin Ross war ein Anti-Imperialist, und er warnte dringend davor, sich mit England zu verbünden (obwohl er die scheinbare Versöhnung in den 30er Jahren durchaus begrüßte) und sich vor den Karren seiner kolonialpolitischen Interessen spannen zu lassen, wie Hitler das vorhatte. A propos: Hitler hat Colin Ross mal empfangen (auf Vermittlung Baldur v. Schirachs), seine Bücher aber wohl nicht gelesen - oder sie jedenfalls nicht verstanden -, sonst wäre die Geschichte des 20. Jahrhunderts vielleicht anders verlaufen. Colin Ross wollte nichts von Antisemitismus, Kolonialismus und einem Bündnis mit England wissen, auf das Hitler bis zuletzt hoffte. In allen drei Punkten hatte Ross rückblickend Recht, aber leider konnte er trotz guter Argumente in keinem einzigen seine Meinung durchsetzen - vor allem nicht in dem verhängnisvollen letzten, der Europas Schicksal besiegelte, als Hitler, das naïve, romantische Schaf im Wolfspelz, das in einer Welt von Hyänen von einer "Pax Germanica" träumte, im Mai 1940 bei Dünkirchen in unbegreiflichem Leichtsinn und nicht wieder gut zu machender Dummheit die Engländer laufen ließ, im Juni 1940 seine Soldaten nach Hause schickte, die Rüstungsprogramme einmottete und damit die Chance auf einen schnellen Frieden ohne Rußlandfeldzug, ohne Kriegseintritt der USA und ohne Holocaust verspielte.

Vordergründig hat sich Colin Ross immer positiv über Hitler geäußert: "ein wahrhaft großer Mann und ein wahrhaft guter Mensch" sei der Führer, schrieb er einmal. Aber man muß auch zwischen den Zeilen lesen, denn auch dies ist wieder ein Beispiel für sein besonderes Geschick, aus richtigen Beobachtungen die falschen Schlüsse zu ziehen: "Hitler ist im Grunde ein überaus weicher Mensch... Es ist dies wohl auch seine Stellung dem Krieg gegenüber. Ich bin fest davon überzeugt, daß niemand mehr bemüht war, den Krieg zu vermeiden als er..." Wohl wahr; aber was Ross im Juli 1940 zu schreiben vergaß war, daß Deutschland damals einen kompromißlosen Kriegsherrn gebraucht hätte, einen Kerl wie Churchill, Roosevelt oder Stalin, um den Sieg zu erringen und damit den Frieden zu sichern. Ein Regiment Panzer vor Dünkirchen geopfert, je ein Bataillon Fallschirmjäger über Gibraltar, Malta, Alexandria und Baģdād, und der Krieg wäre im Sommer 1940 nach neun Monaten beendet gewesen, ohne zum Weltkrieg zu werden, und hätte vielleicht 50.000 Tote gekostet statt 50 Millionen. [Dikigoros hat früher einmal geschrieben, daß seine Leser sich das nicht hätten wünschen sollen; aber je länger er darüber nachdenkt... Schlimmer als unter der Gewaltherrschaft der alliierten Besatzer nach 1945 hätte es für die meisten Europäer unter Hitler und seinen mutmaßlichen Nachfolgern auch nicht kommen können, und eine schlechtere Politik als sie heuer die Sozis machen hätten die Nazis auch kaum machen können, weder außenpolitisch mit den militärischen Abenteuern von Somalia bis Afģānistān, noch innenpolitisch mit dem Abbau, pardon Umbau der sozialen Sicherungssysteme (und dem Verpulvern der dabei "eingesparten" Gelder für "Investitions"-Förderung à fond perdu in aller Welt, unbeschränkter Aufnahme und Alimentierung von Wirtschaftsflüchtlingen und "politisch verfolgten" Terroristen aus aller Welt und "Entwicklungshilfe" für alle Welt, angefangen bei der maroden und korrupten EU - die inzwischen größer ist als das von einigen Nazis erträumte "Großgermanische Reich" - bis zur noch schlimmeren UNO und ihren Unterorganisationen). Und ob die Unerwünschten nun im Konzentrationslager getötet werden oder schon im Mutterleib... Parteienherrschaft ist halt Parteienherrschaft (ohne das richtige Parteibuch macht man heute im Staatsdienst ebenso wenig Karriere wie im Dritten Reich); der einzige gravierende Unterschied ist, daß damals rund 90% der Bevölkerung uneingeschränkt hinter der Politik der Nazis, heute dagegen nicht einmal mehr 10% hinter der Politik der Sozis - was Colin Ross wohl über diese Art von "Demokratie" geschrieben hätte, wenn man ihn gelassen hätte? Vielleicht, nein bestimmt wäre ihm das "Dritte Reich" als das geringere übel erschienen.]

Noch verhängnisvoller aber war, daß Hitler die USA völlig falsch ein- und daher unterschätzte. Hätte er nur einen Berater gehabt (und auf ihn gehört!) wie Colin Ross, der viele Jahre in Chicago gelebt hatte, dessen Sohn Ralph dort zur Schule gegangen war, dem "Das Meer der Entscheidungen" so wichtig war, daß er 1936 eine 2. Auflage heraus gebracht hatte, zusammen mit "Unser Amerika". Bereits ein Jahr zuvor hatte er "Amerikas Schicksalsstunde" veröffentlicht, mit dem bezeichnenden Untertitel: "Die Vereinigten Staaten zwischen Demokratie und Diktatur." Franklin D. Roosevelt - der seit 1933 an der Macht war und den Ross etwas boshaft den "Sonnenkönig" nannte - hatte durch seinen "New Deal" (ein Begriff, der bezeichnenderweise vom Kartenspiel stammt - Roosevelt war ein Zocker und Hasardeur, innen- wie außenpolitisch) die amerikanische Wirtschaft völlig an die Wand gefahren; und immer deutlicher zeichnete sich ab, daß er die Depression nur durch diktatorische Maßnahmen würde überwinden können - und womöglich durch einen Krieg, in dem sich jedes andere Land schon wegen der ungeheuren amerikanischen Rüstungs-Maschinerie, die gerade anlief, hüten mußte, sein Gegner zu werden. Mehr als deutlich warnte Ross in diesem Zusammenhang davor, auf die Hilfe der so genannten "Deutsch-Amerikaner" zu bauen: Die gebe es gar nicht (mehr), so schmerzhaft es sei, sich das einzugestehen; es gebe vielmehr nur noch Amerikaner deutscher Abstammung, und die fühlten sich voll und ganz als US-Bürger; Hitlers Politik der Förderung der deutsch-national orientierten "Bünde" in den USA bewirke genau das Gegenteil von dem, was er sich erhoffte. Ein paar Zitate (alle aus dem Jahre 1935) als Kostproben gefällig? Bitte sehr: "Verstandesmäßig gibt es keinen Grund, der Amerika in einen Krieg treiben könnte. Aber Völkerschicksale werden ja nicht nur rational, sondern stärker noch emotional bestimmt... Amerikas Millionen stehen unter dem Einfluß des einheitlichen Propaganda-Apparates von Washington... Diese Menschenmassen sind erregbar und beeinflußbar wie kaum ein anderes Volk... Amerikas gewaltige und gefährliche Macht kann jeden Tag wieder zum Einsatz gebracht werden. Es heißt, daß unkontrollierbare Kräfte und dunkle Mächte ein ganzes großes Volk von heute auf morgen dahin bringen können, wo sie es haben wollen. Darin aber liegt eine ungeheure Gefahr nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt; es bedeutet unter Umständen Katastrophe und Krieg... Die Erklärung dafür liegt in der außerordentlichen Polarität der amerikanischen Volksseele, in der unerhörten Labilität und im 'Ballyhoo', in der Möglichkeit, mittels eines Propaganda-Apparates das Pendel in jeder gewünschten Richtung zum Ausschlag zu bringen. Das gleiche kann heute wiederum geschehen, leichter noch als im Jahre 1917; denn inzwischen ist die hohe Kunst des Ballyhoo ja erst zur Vollendung gebracht worden... Vergessen wir es nicht! Amerika war es, das den Weltkrieg entschied... Wer verbürgt uns, daß das gleiche morgen nicht wieder geschieht? Oder in Asien (mit Folgen, die nicht weniger unabsehbar sind, auch für uns)? Amerika als Nation gibt es nicht. Vielleicht ist das der tiefste Grund der ständigen Spannungen gegenüber Japan; denn Japan ist der einzige Gegner, der den Amerikanern den Dienst erweisen könnte, sie durch einen Krieg zu einem Volke zusammen zu schweißen. Die Vereinigten Staaten befinden sich heute in einer schweren Krise... Es handelt sich um einen neuen Abschnitt in ihrer Volkwerdung. Vielleicht ist die restlose Umschmelzung von einer Agglomeration zu einer Nation nicht möglich ohne Krieg, und vielleicht deshalb dieses Kriegsballyhoo, das Amerika zeitweise in so Besorgnis erregender Weise durchpulst." [Dikigoros hat sich erlaubt, Colin Ross in diesem Punkt so ausführlich zu zitieren, weil er meint, daß sich daran bis heute nichts geändert hat, daß die USA vielmehr weiter denn je davon entfernt sind, "ihre" unterschiedlichen Völker und Rassen, die Schwarzen, die Weißen und die Latinos, "zusammen zu schweißen", weshalb sie mehr denn je äußere Feindbilder benötigen, gegen die halt von Zeit zu Zeit Kriege geführt werden müssen. Solche zeitlosen Erkenntnisse - die heute niemand mehr ungestraft zu Papier bringen dürfte - machen manche "alte" und scheinbar überholte Reisebücher in seinen Augen so wertvoll.]

Noch deutlicher warnte Colin Ross 1941 in "Die westliche Hemisphäre" vor dem Kriegseintritt der USA - der indes beim Erscheinen des Buches bereits erfolgt war. Es war ohnehin ein Dokument der Hilflosigkeit und des Scheiterns, Produkt einer halbjährigen Good-will-tour, die Ross von Oktober 1938 bis März 1939 durch Nordamerika (die U.S.A., Kanada und Mexiko) unternommen hatte, wobei er auf eine ihm unerklärliche Mauer des Hasses auf Deutschland und alles Deutsche gestoßen war, auf eine "antifaschistische Psychose". Er machte dafür die Presse verantwortlich, "die Freibeuter der öffentlichen Meinung". Mit "Pressefreiheit" habe das alles gar nichts zu tun, denn was abdruckenswerte "News" sind, bestimme die nicht-staatliche Polit-Zensur (wie heute bei uns :-). Ein ihm bekannter Chikagoer Professor habe mal einen Bericht über eine Reise ins Dritte Reich veröffentlichen wollen und zur Antwort bekommen: "Was du da bringst sind keine News. Und wenn du ein Jahr lang durch Deutschland gereist bist und dort nirgends belästigt wurdest, im Gegenteil die besten Eindrücke zurück bringst, so sind das alles noch keine News. News sind, wenn ein einziger Mr. Smith nur ein einziges Mal von einem SA.-Mann angerempelt wird, Und das bringen wir natürlich auch entsprechend groß!" Die amerikanische "Demokratie" war für Ross nur noch "Korruption, Bestechung, Gangstertum und Mißbrauch der Parteimaschine". (Kommt Euch das alles irgendwie bekannt vor, liebe Kinder des 20. Jahrhunderts? Tja - das galt halt nicht nur für die "Demokratie" der USA vor dem Zweiten Weltkrieg!) Und was steckte dahinter? Nun, Roosevelt hatte es doch ganz offen gesagt, als er den Begriff der "Westlichen Hemisfäre" prägte: Die U.S.A. erstrebten zwar nicht die Weltherrschaft, sondern "nur" die Herrschaft über die westliche Welt, aber darüber hinaus auch ein allgemeines "Weltschiedsrichtertum".

Colin Ross verstand die Welt nicht mehr, nicht nur nicht "unser" Amerika. Zugegeben, es war nicht einfach für jemanden, der sich zwar auch als "Geopolitiker" fühlte, der aber letztlich doch "nur" Reiseschriftsteller war, und kein Hellseher, mit seinen politischen Einschätzungen und Prognosen immer richtig zu liegen. Ross spürte es selber mit Unbehagen: "Wo sind die schönen Zeiten," schrieb er einmal, "wo man nur Land und Leute zu beschreiben brauchte, wo die überseeische Welt ein Bilderbuch war, das wir staunend betrachteten. Heute sind nicht nur wir zu dieser Welt gekommen, sondern auch sie zu uns. [Geschrieben sechs Jahrzehnte, bevor der Begriff "Globalisierung" aufkam!] Der restlos entdeckte Globus ist durch unsere Erfindungen so klein geworden, daß er gewissermaßen über uns herein bricht. Das gilt bildlich und wörtlich... Was gestern allenfalls Gegenstand unserer unbeteiligten Neugier zu sein brauchte, und wovon wir vorgestern noch keine Ahnung hatten, sind heute ernst zu nehmende, uns in unserm Wohl und Wehe treffende Wirklichkeiten." Was war bloß geschehen, z.B. in Lateinamerika? Als "die aufsteigende Welt" hatte Ross Südamerika nach dem Ersten Weltkrieg gesehen (ebenso wie einige andere Reiseschriftsteller nach dem Zweiten) - und dann war es nur der kurzfristige Boom einiger Kriegsgewinnler, deren Gewinne bald verfrühstückt waren und die anschließende Krise nur umso schlimmer machten. (Zwölf Jahre später sollte Ross seine Prognose zwar nicht gänzlich revidieren, aber doch stark relativieren: "Ja, Südamerika steigt auf; allein es wird noch viele Jahrzehnte, wahrscheinlich ein volles Jahrhundert dauern, ehe Südamerika als gleichberechtigter Faktor seinen Platz neben den andern Erdteilen einnehmen wird.")

Dagegen sollte sich Mittelamerika, das Colin Ross den "Balkan Amerikas" und einen "Begriff ohne Inhalt" nannte ("Mit Kind und Kegel durch Mexiko zum Panamakanal" - aus unerfindlichen Gründen eines seiner erfolgreichsten Bücher: es erreichte von 1937 bis 1941 zehn Auflagen, wurde also noch mitten im Krieg neu aufgelegt), als viel stabiler erweisen denn sein europäisches Gegenstück und als nicht annähernd so verhängnisvoll. Dennoch entwickelte es sich ganz anders als Colin Ross noch 1929 gedacht hatte, als er schrieb, daß der "ständige amerikanische Einfluß, der in Sprache, Sitten und Gewohnheiten den Charakter der nördlichen Provinzen langsam amerikanisiert" habe, sich bald ganz Mexikos, ja ganz Mittelamerikas bis zum Panamakanal bemächtigen werde. Weniger als ein Jahrzehnt später sah er eine genau gegenteilige Entwicklung: Fühlte sich die Führungsschicht der Mexikaner vor dem Ersten Weltkrieg noch einseitig als "Weiße" (auch wenn sie objektiv Mischlinge waren); so kehrten nun dieselben Mestizen ebenso einseitig ihr "rotes" Erbe hervor und bezeichneten sich als "puro Indio". Ross sagte voraus, daß die Herrschaft der Weißen in Lateinamerika zu Ende ging - freilich ohne daß sich darob für die Unterschichten etwas bessern würde: "Das System Callas ist doch geblieben," schrieb er über Mexiko, "auch wenn es heute Cardenas heißt. Es bedeutet, daß eine kleine Schicht von 'Revolutionären' trotz reichlicher Verwendung proletarischer und bolschewistischer Schönrednerei für sich persönlich das System Diaz beibehalten oder wieder eingeführt hat, das heißt, sich in den Besitz großer Reichtümer und Ländereien brachte..."

Aber die Wurzeln dieses übels lagen viel tiefer als in den Ereignissen seit 1911 - und immerhin das sah Colin Ross richtig: Es war - in ganz "Lateinamerika" - ein Fehler der "Criollos", der in Amerika geborenen Spanier, gewesen, daß sie sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewaltsam vom Mutterland lösten; es sollte in letzter Konsequenz den Untergang ihrer eigenen Kultur bedeuten. (Dikigoros hat die Endfase dieser Entwicklung hautnah mit erlebt, aber darüber schreibt er an anderer Stelle.) Daß die spanische Kultur dann freilich nicht wieder durch eine indianische Kultur - geschweige denn durch die alte prä-kolumbianische - ersetzt würde, sondern durch eine "Mischkultur" sui generis der Mestizen, und eben doch nicht ganz ohne Einfluß des mächtigen Nachbarn USA, sah Colin Ross nicht. Vielleicht lag es daran, daß er gegen seine eigenen - eingangs zitierten - Grundsätze verstieß und "Der Balkan Amerikas" weitgehend durch Blättern in alten Geschichtsbüchern entstand. So stellt er durchaus interessante Betrachtungen an über den Charakter des Aztekenreichs, die spanische Herrschaft und vor allem über den gescheiterten Versuch der Franzosen, Kaiser Maximilian von österreich an der Macht zu halten, der in seiner Naïvität schon von einem neuen Habsburgerreich vom Rio Grande del Norte bis zum Rio Grande do Sur (in Südbrasilien) träumte, um dann vor einem Erschießungs-Kommando zu enden. Doch daß die großen Umwälzungen der Revolution, die er so beklagte - von der Enteignung der Kirchen und Großgrundbesitzer bis zur Verstaatlichung ausländischer ölquellen, Minen und Fabriken - nicht von Dauer sein konnten, sah Colin Ross nicht. Kein Wunder, er sprach nach eigenem Bekunden kein Wort Spanisch (das einzige, was er auch so verstand, waren die Rufe - die auch Dikigoros noch zu hören bekam, als er als 19-jähriger zum ersten Mal mit einer auf seinen Bw-Rucksack gemalten deutschen Flagge durch Mexiko reiste - "Viva Alemania" und "Viva Hitler") und empfand die Mexikaner folglich als "feindlich" - nicht ohne Grund, denn der Mexikaner vertraut sich niemandem an, der nicht sein Idiom spricht, und betrachtet insbesondere den Englischsprechenden a priori als "Feind". (Einige Fehler sind aber auch zu peinlich: So bezeichnet Colin Ross die "Gachupines" [Schimpfwort der Lateinamerikaner für die Spanier] penetrant als "Gapuchines" - nicht etwa ein einmaliger Druckfehler, sondern ein ärgernis, das sich durch das ganze Buch zieht -, und den Mestizen Porfirio Diaz als "halben Zapoteken" - tatsächlich war er halber Mixteke, Zapoteke war sein Vorgänger Benito Juárez.) Wer aber nicht nur Augen hatte um zu sehen sondern auch und vor allem Ohren (und Sprachkenntnisse), um zu hören, dem konnte nicht verborgen bleiben, daß Mexiko nicht auf Dauer ohne ausländische Hilfe auskommen würde, sei es an Kapital, sei es an Know-how - ebenso wenig wie andere Länder der "Dritten Welt".

Exkurs. Woran das liegt, liebe Leser? Doch sicher an der gnadenlosen Ausbeutung durch die bösen Kolonialherren und der Zinsknechtschaft der internationalen Banken bzw. deren Folgen: Die Europäer (bzw. später die Nordamerikaner) kamen nach Mexiko, zwangen die Indios in den Bergwerken, auf den Plantagen und später in den Fabriken zu schuften, d.h. zu harter, in ihren Augen schändlicher, da körperlicher Arbeit, und transferierten die Gewinne ins Ausland; dadurch verarmte Mexiko, und dadurch verarmten auch all die anderen Länder, denen es heute schlecht geht. Glaubt Ihr das wirklich? Natürlich gibt es in einem Staatswesen immer Leute, die man als "Ausbeuter" oder "Schmarotzer" bezeichnen kann und solche, die "ausgebeutet" werden. Die Frage ist nur: Was wäre die Alternative? Der große Psychologe und Kulturfilosof Sigmund Freud schrieb einmal, daß die meisten Menschen ohne Zwang wahrscheinlich nicht einmal soviel arbeiten würden, wie zur Aufrechterhaltung der bescheidensten Existenz notwendig wäre, und Dikigoros ist geneigt, das zu glauben. Die Organisation der Arbeit - sei es durch Politiker, Wirtschaftsbosse oder wen auch immer - ist eine anspruchsvolle Aufgabe, deren Erfüllung eine Leistung darstellt, die man gar nicht hoch genug honorieren kann und die man meist erst dann zu schätzen lernt, wenn jene Organisatoren versagen - wie heute bei uns. Was immer "die" Europäer und "die" Amerikaner aus Mexiko - und anderen Ländern - heraus geholt haben, an Rohstoffen, Produkten, Gewinnen usw., man muß doch immer fragen, ob dabei für die "Ausgebeuteten" nicht auch etwas übrig geblieben ist - und vielleicht mehr als sie ohne diesen äußeren Zwang für sich alleine erarbeitet hätten: Die Bergwerke, Fabriken und Büros, die Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen, Häfen), das Know-how, all das bleibt doch im Lande - nur deshalb kann es ja "enteignet" und "verstaatlicht" werden! Sobald es dann von den staatlichen Beamten und sonstigen Pfründen-Inhabern herunter gewirtschaftet worden ist, beginnt wieder das Geschrei nach ausländischen Investoren, die es von neuem aufbauen sollen. Und die kommen natürlich nur, wenn sie Gewinnchancen sehen - je höher das Risiko, desto höher müssen auch diese Chancen sein. Und wenn sie nicht kommen? Dann gibt es halt von alledem nichts, keine Gewinne zwar für die bösen Ausländer, aber auch nichts, was für die Einheimischen abfällt - außer der zweifelhaften Errungenschaft, "frei" von Arbeit zu sein, also den lieben langen Tag in der Hängematte verbringen zu können. Das mag zwar allemal bequemer sein, als hart zu malochen; aber abbeißen kann man davon nicht - ebenso wenig wie von Silber, Gold, Erdöl und vielen anderen schönen Dingen, wenn man selber nichts Gescheites damit anzufangen weiß; dann muß man sie nämlich, auch wenn sie einem formell endlich "gehören", ins Ausland verkaufen, d.h. gegen solche Dinge eintauschen, die sonst vielleicht in weit größerem Umfang als "Nebenprodukte" der ausländischen Investition für das Land abgefallen wären. Und spätestens wenn das Volk zu hungern beginnt (im Zeitalter der Massenmedien übrigens nicht nach Brot allein), fragen sich kluge Politiker doch wieder, ob es nicht klüger wäre, sich (bzw. ihre Untertanen) ein bißchen "ausbeuten" zu lassen und den "Mehrwert" abzugeben, als überhaupt nichts mehr zu produzieren. Zumal, wie Colin Ross sinngemäß schrieb, die Ausbeutung der indianischen Unterschichten Mexikos etwa zur Zeit des ob seiner Kollaboration mit den USA im Nachhinein viel geschmähten Porfirio Diaz nicht halb so schlimm war wie einst zur Zeit der Azteken-Herrschaft. Exkurs Ende.

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Die schlimmste Fehleinschätzung leistete sich Colin Ross jedoch in Fernost ("Das neue Asien", Produkt einer einjährigen Reise von März 1939 bis Februar 1940): Er hielt - wie heute wieder viele, die nie dort waren - China für die kommende Großmacht, und das nicht nur wegen seiner riesigen Bevölkerung, sondern auch wegen seiner "kühnen Konzeption von Staat und Gesellschaft", die ihm wie ein "rocher de bronze" erschien. (Keine zehn Jahre später sollte dieser vermeintliche "bronzene Felsen" zerbrechen und die chinesische Kultur für immer untergehen - sah Colin Ross die Zeichen an der Wand nicht?) In Japan fand er dagegen - von der auffallenden Deutschfreundlichkeit (die wohl auch eine gute Portion allgemeine Höflichkeit gegenüber ausländischen Gästen beinhaltete) einmal abgesehen, nichts Besonderes: "Im Grunde scheint es kein farbiges Volk zu geben, das nicht das selbe wie die Japaner zu leisten imstande ist" schrieb er einmal. (Dikigoros hat allerdings noch kein anderes gesehen :-) Dieser Reisebericht bewies aber zugleich seine politische Unvoreingenommenheit; denn statt sich auf die Kontakte zu Deutschlands Verbündeten zu beschränken, reiste er auch zu den Truppen ihres Gegners Tschang Kai-shek und machte sich letztlich dessen Sicht zu eigen. Vielleicht fehlte Ross einfach der Abstand, weil er zu selten zuhause war, denn die meiste Zeit trieb er sich ja in der weiten Welt herum, hielt Vorträge und schrieb Bücher, bisweilen in zwei Versionen über ein- und dieselbe Reise, einmal ausführlich und weltanschaulich, einmal "abgespeckt" für den Normalverbraucher, zum Beispiel "Die erwachende Sphinx" (unter dem gleichen Titel brachte Colin Ross einen abendfüllenden Film in die Lichtspielhäuser - gemeint war Britisch Afrika) und "Mit Kamera, Kind und Kegel durch Afrika", oder "Zwischen USA und dem Pol" (Kanada) und "Mit Kind und Kegel in die Arktis".

Das vierte Buch dieser Reihe, "Mit Kind und Kegel durch die Südsee", schrieb Colin Ross nicht doppelt, sondern verschob diesen Satz in den Untertitel und nannte es in letzter Minute "Haha Whenua, das Land das ich gesucht". Während sich seine Zeitgenossen Katz und Johann in Insul-Inde (das damals noch nicht "Indonesien" genannt wurde) verliebten, verlor Colin Ross sein Herz an die Südsee. Warum, wird auch nach Lektüre des Buches nicht ganz klar. Fest steht nur, daß er die "Insel der Glückseligen" (das soll "Haha Whenua" bedeuten) nicht fand und auch sah, daß es mit dem einstigen Paradies nicht (mehr?) gar so weit her war, wie andere Reisende behauptet hatten. Aber er hatte etwas anderes gefunden: eine andere Vorstellung von - oder Einstellung zu - den "Wilden" und den "Zivilisierten", zur Gleichwertigkeit der "primitiven" und "modernen" Lebensformen. Gewiß, gerade der Mercedes-Fahrer Colin Ross, der sich über jedes schlechte Hotel und jede unbequeme Schiffspassage aufregte und nicht müde wurde zu betonen, wieviel mehr die Deutschen in dieser Hinsicht doch als Kolonialherren geleistet hatten als ihre Nachfolger, die Völkerbund-Treuhänder im allgemeinen und die Australier im besonderen, hätte mit keinem Eingeborenen tauschen wollen; aber er ging - wohl mit Recht - davon aus, daß es sich umgekehrt genauso verhielt und daß jeder nach seiner eigenen Façon [glück]selig werden sollte. Zum Glück schrieb Ross auch dieses Buch vor seiner Rückkehr ins inzwischen national-sozialistische Deutschland, nämlich Anfang 1933 in Kanada, so daß man ihm auch in diesem Punkt nicht vorwerfen kann, Hitler nach dem Mund geschrieben zu haben, der ja in "Mein Kampf" ebenfalls die Auffassung vertreten hatte, man sollte die Eingeborenen der Kolonien in ihrem eigenen Saft schmoren lassen und nicht versuchen, sie auf das Niveau der westlichen Zivilisation anzuheben. Leider beschränkte sich Ross bei seiner Reise auf Australien, Neuseeland, Neuguinea und den einstigen Bismarck-Archipel. Den Rest des ehemaligen "Deutsch-Ozeaniens", also die Marianen, die Karolinen und die Marschall-Inseln (das heutige "Mikronesien") besuchte er nicht, wobei nicht ganz klar wird, ob ihn die Japaner - die nach 1919 das Völkerbund-Mandat für diese Inseln bekommen hatten und auch nach ihrem Austritt aus jener Organisation gar nicht daran dachten, die Inseln zu räumen - ihn nicht hinein ließen, oder ob er selber nicht wollte; denn gegenüber den Japanern hatte er die gleichen Vorbehalte wie anderthalb Generationen später Paul Theroux, der nach ihm sicher beste Kenner der Südsee, der die "glücklichen Inseln" gründlich demaskieren sollte - aber das ist eine andere Geschichte.

Seine letzte Reise führte Colin Ross im Jahre 1942 nach Nordafrika, in die spanischen und französischen Kolonien Marokko, Algerien und Tunesien. Seit den beiden "Marokko-Krisen" von 1905 und 1911 - offenbar den beiden ersten außenpolitischen Ereignissen, die er als junger Mensch bewußt "mitbekommen" hatte - war es sein geheimer Traum gewesen, einmal mit der "Sahara-Eisenbahn" durch die Wüste zu fahren, und immer hatten die Franzosen es verhindert. [Colin Ross hatte ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zu Deutschlands "Erbfeinden": Am Ende legte er sich eine praktische Zweiteilung zurecht: Die großen Abenteurer und Entdeckungsreisenden, die er ganz offen bewunderte, waren normannischer, bretonischer oder baskischer Abstammung (da war sogar etwas dran! :-), die anderen, miesen Franzosen, die sich für die "echten" hielten und Deutschland haßten, waren die anderen, voilà.] Während Ross sein letztes Buch, "Umkämpftes Afrika" schrieb, gingen diese Länder der Achse verloren, d.h. sie wurden von den Angelsachsen erobert; und als das Buch im Jahre 1944 endlich erschien (Papier war knapp, und selbst dem "pädagogisch wertvollen" Werk eines linientreuen Schriftstellers wurde nur noch ein qualitativ wie quantitativ bescheidenes Kontingent zugeteilt, und auch das erst mit erklecklicher Verzögerung ), war es schlicht überholt: 1944 war nicht mehr Nordafrika umkämpft, sondern längst Mitteleuropa. Und dennoch... bisweilen erweisen sich seine Voraussagen (auf die Colin Ross so stolz war: "Man muß die Zukunft voraussagen, um sie zu gestalten, falls dies möglich ist, zum mindesten, um auf das gefaßt zu sein, was sich ereignen mag," schrieb er einmal) doch als zutreffend, und es zeigt sich, daß die "deutsche Katastrofe" (so titelte der Historiker Friedrich Meinecke, und noch zu Dikigoros' Studienzeiten wurde dieses unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Werk blindlings von seinen Universitäts-Professoren empfohlen, die es offenbar ebenso wenig gelesen - oder ebenso wenig verstanden - hatten wie die Zensoren der alliierten Besatzungsbehörden und einige heutige Zeitungsschreiber, denn Meinecke meinte nicht etwa das Dritte Reich, sondern, wie zwischen den Zeilen deutlich wird, dessen Niederlage) uns, die wir nach dem Krieg geboren und zur staatlichen Verblödungsanstalt, pardon Schule gegangen sind, nur kurzfristig den Blick verstellt hat auf die langfristigen Entwicklungen. Hat Ross nicht Recht behalten, als er der angelsächsischen Herrschaft über Nordafrika nur eine kurze Zeitspanne prognostizierte? Und daß die unter dem Druck der Amerikaner "befreiten" Völker es ihnen schlecht danken würden? "'Die Zeit der Piratenflagge über Algerien' - das wird das Stichwort sein, unter dem die Epoche der amerikanischen Besetzung Algeriens in die Geschichte eingehen wird," schrieb er unter Anspielung auf die Ereignisse von 1830, als es in Europa - und Algerien - fast ebenso chaotisch zuging wie 1944/45. Nun, er hatte sich vielleicht ein wenig in der Hausnummer geirrt - so verteufelt sollten die Amerikaner eigentlich nur in Libyen werden; aber auch Algeriens Schicksal, genauer gesagt das seiner weißen Siedler, war nicht besser, und auch da lag Ross richtig, denn seine Einschätzung De Gaulles als Verräter an seinem eigenen Volk sollte sich nur allzu bald bestätigen - aber das ist eine andere Geschichte.

[Exkurs. Aufmerksame Leser der "Reisen durch die Vergangenheit" haben sicher längst bemerkt, daß Dikigoros die Welt mit anderen Augen gesehen hat und deshalb einer anderen Weltanschauung huldigt als Colin Ross. Und dennoch schätzt er den letzteren als Reiseschriftsteller so hoch ein? Ja, denn zum einen ist er überzeugt, daß diese Unterschiede vor allem darin begründet liegen, daß sich die Welt in dem Menschenalter, das diese beiden Reiseleben voneinander trennt, tatsächlich stark gewandelt hat, so daß die Abweichungen nicht gegen, sondern für die richtige Weltsicht beider sprechen. Colin Ross mag die Mexikaner tatsächlich mit den Schriften von Carlo Marx unter dem Arm herum laufen gesehen haben, während Dikigoros dort vor allem "Así hablaba Zaratustra" von Federico Nietzsche und "Mi lucha" von Adolfo H. gesehen hat - alles zu seiner Zeit. Zum anderen beschleicht ihn, je länger er lebt und reist, das ungute Gefühl, daß Colin Ross nicht nur in Nordafrika Recht behalten könnte und daß nicht er, sondern Dikigoros in vielen Punkten geirrt hat. Nein, in Fernost will er das noch immer nicht glauben - trotz Japans scheinbarem Niedergang und Rotchinas scheinbarem Aufstieg setzt er immer noch auf die Inseln der aufgehenden Sonne und nicht auf den Papiertiger vom Festland; und er glaubt auch weiterhin, daß Indien seinen Aufstieg eher machen wird als China, während er Afrika und Lateinamerika, zwei Kontinente, auf die Colin Ross noch so große Hoffnungen gesetzt hatte, endgültig abgeschrieben hat. Aber das Land, mit dem sie beide am meisten verbunden waren, die letzte Weltmacht USA, gibt ihm zunehmend Rätsel auf: Er hat etwa so lange in den Südstaaten gelebt wie Colin Ross in den Nordstaaten; er hat die Nordstaaten länger und intensiver bereist als Colin Ross die Südstaaten; und dennoch... Colin Ross hatte nach dem Scheitern des "melting pot [Schmelztigels]" der Rassen eine Renaissance der unterschiedlichen Volksgruppen voraus gesagt, aus denen sich die Bevölkerung der USA zusammen setzte; Dikigoros hat hautnah miterlebt, wie die Reste ihrer Kulturen eingeschmolzen, eingeebnet, platt gemacht, kurzum zerstört wurden, und er hat lange nicht an die Möglichkeit einer Wiederbelebung geglaubt. Es hat ja auch in diesem Sinne keine gegeben - jedenfalls nicht unter den Weißen. Umso mehr aber haben sich die Gelben, Schwarzen und Roten abgekapselt, und die besinnen sich nun wieder zunehmend auf ihre Eigenarten. Dikigoros hatte sie ausgerechnet in der relativ kurzen Zeitspannen "kennen" gelernt hat, als "Integration" das große Modewort war, das staatlich vorgegebene Ziel - und vielleicht auch der private Ehrgeiz vieler Betroffener. Colin Ross hätte darüber nur gelacht: Integration der unterschiedlichen Rassen? Das ist unmöglich, schon das neben-, erst recht das miteinander Leben ein Problem. Sein Lösungsvorschlag: Separate but equal, d.h. getrennt leben, aber dafür in Frieden. Die Neger zurück nach Afrika schicken, wie es die Anhänger der Liberia-Bewegung wollten? Unsinn: Die Neger der USA kamen doch meistenteils ganz woanders her und würden sich dort sicher nicht wohl fühlen; und überhaupt lebten die meisten schwarzen Völker doch schon viel länger in Amerika als die meisten weißen - die man ja auch nicht nach Europa zurück schicken wollte. Die Süd- und Osteuropäer waren doch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die USA gekommen, als billiger Ersatz für die nach dem Sezessionskrieg "befreiten" schwarzen Sklaven! Nein, denen sollte man ein paar der Südstaaten geben, die sie durch ihrer Hände Arbeit mit geschaffen hatten, und noch ein paar Inseln in der Karibik dazu, so wie den Mormonen Utah und den Franko-Kanadiern Quebec... Früher hätte Dikigoros über solche Ideen gelacht; heute ist er sich nicht mehr so sicher, ob er das nicht eines Tages noch miterleben wird - angefangen mit einer Gegend, an die Colin Ross offenbar nicht gedacht hatte, nämlich dem Südwesten, der an die Latinos fallen dürfte -, und ob das nicht tatsächlich für alle Beteiligten die beste Lösung - auch im Sinne von Auf-Lösung (der USA) und Los-Lösung (der zwangs-integrierten Völker und Rassen von einander) - wäre. Exkurs Ende.]

Eine Parallele sah Ross freilich nicht - konnte sie vielleicht nicht sehen, da sie damals noch nicht als Parallele empfunden wurden; und auch heute schweigen sich die offiziellen Geschichtsbücher tunlichst über sie aus: Als die Briten 1940 die französische Mittelmeerflotte durch einen überraschenden Luftangriff auf Mers-el-Kebir vernichteten, winselte der greise Staatspräsident Pétain zwar ein wenig, zog dann aber bald den Schwanz ein und beließ es bei einem müden Protest - was läßt man sich von seinen "Befreiern" in spe nicht alles gefallen! Als dagegen die Japaner ein gutes Jahr später einen Teil der amerikanischen Pazifikflotte durch einen Luftangriff auf Pearl Harbor vernichteten, brachte das die Amerikaner derart auf, daß Roosevelt endlich eine Handhabe hatte, den - insgeheim längst begonnenen - Krieg gegen Deutschland nun auch offen zu führen. Gewiß gab es da Unterschiede: England und Frankreich waren doch gute Verbündete, so daß die Franzosen jederzeit mit einem Angriff rechnen mußten - selber schuld, wenn ihre Schiffe völlig unbewaffnet und manövrierunfähig im Hafen herum lagen. Die USA dagegen führten längst einen offenen Wirtschaftskrieg gegen die Japaner (die unverschämterweise dabei waren, ihnen die chinesischen und indo-chinesischen Märkte weg zu schnappen, die sie selber so gerne gehabt hätten), u.a. indem sie sie von der öl- und Alteisenzufuhr abschnitten; außerdem kam der Angriff für die USA keineswegs überraschend, sondern sie konnten ihre Flugzeugträger rechtzeitig in Sicherheit bringen und nur die alten Pötte mit den meist deutschstämmigen Besatzungen opfern - das schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. Dennoch hätte Dikigoros von Colin Ross, der in "Umkämpftes Afrika" dem Angriff auf Mers-El-Kebir mehrere Absätze widmet, ebenso wie dem Ausbau von Pearl Harbor und den amerikanischen Flottenmanövern, welche die Abwehr eines japanischen Angriffes simulierten, in "Amerikas Schicksalsstunde", einen - diesen - Vergleich erwartet. Was soll's, trägt Dikigoros das halt an dieser Stelle nach...

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In einem der letzten Kapitel von "Umkämpftes Afrika" sinnierte Colin Ross über den Untergang Karthagos nach und erwähnte, daß Scipio beim Anblick der brennenden Metropole die Verse des Hómeros über Troia zitierte: "Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilias hinsinkt, Priamos selbst, und das Volk des lanzenkundigen Königs!" Und er fuhr fort: "Als aber die Flamme ihr Werk getan hatte und der Pflug über die Brandstätte hinweggegangen war, sprach der Sieger, dem Befehl des Senats gemäß, den Fluchüber sie aus. Ich hocke auf einem der Trümmer, als ich die Sätze dieser Verfluchung leise vor mich hinspreche..." Ob er wirklich meinte, auf einem jener Trümmer zu sitzen? Wenn ja, dann irrte er ganz gewaltig: Die Römer hatten keinen Stein des alten, fönizischen Karthagos auf dem anderen stehen lassen, sondern selbst die Trümmersteine abtransportiert und anschließend sogar den Boden mit Nitraten chemisch verseucht, damit dort nie wieder ein Mensch leben konnte. Jahrzehnte später bauten sie in der Nähe ein neues, römisches Karthago, das mit dem alten nichts mehr zu tun hatte, obwohl es länger existierte als das Original, denn auch als Jahrhunderte später die Wandalen kamen, zerstörten sie dort - entgegen ihrem schlechten Ruf - nichts, sondern übernahmen es einfach. Erst unter den muslimischen Arabern wurde Karthago wieder zur Ruine - und auf deren Überresten dürfte Ross gesessen haben. Na und? Kommt es auf diese Art Ruinen an? Doch wohl kaum! Was wäre besser gewesen, wenn die Römer die Mauern der alten Stadt Karthago hätten stehen lassen - oder sie so wieder aufgebaut hätten, wie sie einmal waren? Auch die Polen haben die Gebäude von Danzig - und vieler anderer im Krieg zerstörter deutscher Städte - wieder aufgebaut. Ist es deshalb noch Danzig? Nein, eine Stadt lebt nicht von ihren Gemäuern, sondern von ihren Menschen; deshalb ist Danzig nicht mehr Danzig, und Karthago war nach der Ausrottung der Fönizier nicht mehr Karthago. Ja, es bedarf nicht mal einer Zerstörung der Mauern! Die Stadt, in der Dikigoros' Vater geboren wurde - heute ein Stadtteil von Hamburg - ist nicht mehr jene Stadt, obwohl sie im Krieg relativ wenig gelitten hatte (für Hamburger Verhältnisse, d.h. es war "nur" etwa 50% der Bausubstanz zerstört), denn es leben dort nicht mehr die Menschen, die sie einst gebaut und bewohnt hatten. Und das gilt nicht nur für gewisse Vororte von Hamburg und anderen ehemals deutschen Großstädten wie Berlin, Köln, Frankfurt, Stuttgart usw., sondern auch für gewisse Vororte von Amsterdam, Genua, London, Lyon, Madrid, Marseille, Paris, Wien und anderen ehemals europäischen Großstädten, wo inzwischen mehr muslimische Araber und andere Afrikaner leben als in Karthagos Nachbarstadt Tunis. Da es sich nicht um eine plötzlich herein brechende Katastrofe handelt, sondern um einen allmählichen, schleichenden Vorgang, bemerken ihn viele Einwohner gar nicht (erst recht nicht die Poltiker, die weitab vom Schuß, pardon von den Schüssen, die dort immer häufiger fallen, in ihren Elfenbeintürmen sitzen und Luftschlösser aus "Integration" und anderen schönen Träumen bauen), und wenn, dann ziehen sie weg und halten brav den Mund. Aber der Reisende, der nur alle paar Jahre vorbei kommt - und noch immer kommt man ja, zumal als Bahnreisender, im wahrsten Sinne des Wortes nicht an Paris und London vorbei, wenn man irgendwohin in Frankreich oder England reisen will -, bemerkt es und verfolgt diese Entwicklung mit wachsendem Entsetzen. Ihr meint, es könnte ihm doch egal sein, was da im Ausland geschieht? Schon möglich; aber wenn er dann nach Hause kommt, stellt er plötzlich fest, daß es da genauso aussieht, und daß er vielleicht bald in einer ganz anderen Stadt leben wird, auch ohne wegzuziehen... (Ja, es gibt immer mehr Leute, die nicht nur aus "ihrer" Stadt weg ziehen, wenn sie erkennen, daß das gar nicht mehr ihre Stadt ist, sondern gleich aus "ihrem" Land, wenn sie erkennen, daß das gar nicht mehr ihr Land ist. Aber wenn sie dann nach Amerika, Australien oder sonstwohin emigriert sind - früher war auch Südafrika sehr beliebt -, dann werden sie bald feststellen, daß es auch dort nicht besser ist, sondern vielfach sogar noch schlimmer; und auf den Mond oder den Mars auswandern, weil die Erde nicht mehr "ihre" Welt ist, können sie auch nicht. Nein, Weglaufen hilft nichts; wenn wir uns und unseren Kindern unsere Welt bewahren wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sie uns nicht von anderen weg genommen und kaputt gemacht wird, sonst sind wir selber schuld, wenn wir eines Tages vor den Trümmern unserer Existenz stehen - Trümmern, die weit schlimmer sind als die von Karthago. Heute ist nicht mehr Afrika von Europäern umkämpft, sondern Europa von Afrikanern - auch wenn einige Europäer das noch nicht begriffen haben!)

Wie dem auch sei, bald nachdem "Umkämpftes Afrika" erschienen war, brauchte Colin Ross nicht mehr nach Karthago zu reisen, um Ruinen zu sehen - er konnte ebenso gut aus dem Fenster schauen. Als seine erste Heimatstadt Wien von den Russen erobert, seine zweite Heimatstadt München von alliierten Luftangriffen zerstört, sein Sohn Ralph, noch nicht 18 Jahre alt, in der Ukraine umgekommen und seine Tochter Renate von aliierten Terror-Bombern getötet worden war, wollte Colin Ross nicht mehr weiter leben. [Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, Renate Ross habe den Krieg überstanden und sei noch am Leben; aber das bedeutet wohl nur, daß man nicht genau weiß, wann und wo sie umgekommen ist; Dikigoros hat sie jedenfalls trotz ausgiebigen Suchens nie ausfindig machen können.] "Eigentlich bin ich zu neugierig zum Sterben," sagte er seiner Freundin Henriette v. Schirach (auf deren Memoiren, die sie ihm gewidmet hat, Dikigoros sich hier stützt), "ich wüßte zu gern, was in zehn Jahren passiert, wie sich China entwickelt, was aus Indien wird und wie Amerika mit seinem Sieg fertig wird." Seinen persönlichen Tipp hatte er schon 20 Jahre zuvor abgegeben: "Man muß sehr blind durch die Welt gehen, um nicht zu sehen, daß, wenn nicht das nächste, so doch sicher das übernächste Problem für Europa und Amerika die Auseinandersetzung der weißen mit der farbigen Rasse sein wird... Eine jede Schlacht wird zuerst im Herzen, dann auf dem Felde gewonnen oder verloren... Die weißen Nationen haben den unerschütterlichen Glauben an ihr inneres, gottgegebenes Recht, die farbigen Rassen zu unterdrücken, verloren, und sie haben die unumgänglich notwendige Brutalität nicht mehr, für die Aufrechterhaltung dieser Herrschaft gegebenenfalls Hunderttausende hinzuschlachten. Diese Brutalität haben höchstens noch bis zu einem gewissen Grad die Amerikaner und dann die Russen und die Chinesen. Darum wird ihnen auch die zukünftige Weltherrschaft gehören." Das waren profetische Worte, liebe Leser, die sich 1925 durchaus noch nicht aufgedrängt hatten. Allein, gut ein halbes Jahrhundert nach Colin Rossens Freitod müssen wir sie noch einmal relativieren. Dikigoros' Vater hat das Auseinanderbrechen der Sowjet-Union, gegen die er, noch nicht 18 Jahre alt, in den Krieg geschickt worden war, noch mit erlebt; und Dikigoros wird das Auseinanderbrechen Rot-Chinas noch mit erleben - weder die Russen noch die Chinesen hat ihre Brutalität also davor bewahrt, an ihrem Imperialismus zugrunde zu gehen. Dagegen haben die Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg just diese Brutalität vermissen lassen - sowohl in Korea als auch in Vietnam als auch im Irāq haben sie zwar ihre Schlachten auf dem Felde gewonnen, aber mit dem Herzen waren sie - anders als noch im Zweiten Weltkrieg - nur halb dabei, deshalb sind sie letztlich immer wieder gescheitert. Aber das konnte man angesichts ihres brutalen Vorgehens 1945 wohl noch nicht voraus sehen (Dikigoros ist es bis heute unerklärlich).

Noch etwas hätte Colin Ross sicher gerne gewußt (wiewohl er 1945 die Hoffnung aufgegeben haben dürfte, daß seine diesbezüglichen Prognosen sich einmal bewahrheiten sollten - im Guten wie im Bösen): wie es mit Europa weiter ging. Anders als Hitler hielt Ross nichts von einem Bündnis mit den "artverwandten" Angelsachsen oder den "systemverwandten" Sowjet-Russen; vielmehr plädierte er nachdrücklich für ein Bündnis mit dem "Erbfeind" Frankreich - ohne den der "Stahlpakt" mit dem fascistischen Italien wertlos sei - ihm schwebte ein Staatenbund (oder sogar ein Bundesstaat) in den Grenzen der ursprünglichen EWG von 1957 vor. Und obwohl auch diese Passagen zu denjenigen gehören, die nicht auf Reisen, sondern am Schreibtisch entstanden sind (sie stammen aus "Die Welt auf der Waage") will Dikigoros angesichts ihrer durch die EU-Erweiterung im Mai 2004 brennenden Aktualität nicht versäumen, sie hier zu zitieren: "Paneuropa [...] schrumpft auf einen Kern zusammen, der aus Deutschland, Frankreich und Italien besteht. Man muß sich klar sein, daß alle Bemühungen, ein Paneuropa zu schaffen, weniger als Seifenblasen sind, solange es nicht gelungen ist, zwischen dem deutschen und [dem] französischen Volk eine ganz enge Fusion zu schaffen. Sieht man einmal in die Zukunft, dann ist diese deutsch-französische Fusion das europäische Problem und auch vom deutschen Standpunkt unvergleichlich wichtiger als der österreichische Anschluß oder irgendeine andere politische Frage, wie sie uns jetzt bewegen. Die deutsch-französische Fusion - wohlgemerkt Fusion, nicht nur Verständigung - erscheint mir eine unabwendbare Voraussetzung jeder paneuropäischen Konstruktion." Ein Bündnis mit China oder Japan? "Bei aller Würdigung und Hochschätzung des ostasiatischen Charakters zeigt dieser solche Züge von Grausamkeit und Gleichgültigkeit gegen Menschenleid, daß man als Weißer bei der Vorstellung, die Gelben könnten einmal Macht über die Weißen gewinnen, nur bis ins Innerste erbeben kann." Das alles in der 1. Auflage von 1929 zu schreiben, mag noch angehen; es aber bis in die 32. Auflage von 1938 so stehen zu lassen, war vom Autor (und vom Verlag - Brockhaus) mutig, von der national-sozialistischen Zensur tolerant - auf diese Toleranz kommen wir gleich noch einmal zurück. Colin Ross würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was Adenauers Epigonen aus dieser Pan-Europa-Idee gemacht haben: einen Wasserkopf aus verkommenen, korrupten Eurokraten, die alle möglichen und unmöglichen Staaten aufnehmen, deren Politiker daher kommen und die Hand aufhalten, um Subventionen zu erbetteln (die sie dann meist in die eigenen Taschen stecken) - wenn sie nur billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen (Stichwort Lohndumping), und Absatzmärkte, deren Angehörigen es so dreckig geht, daß man ihnen jeden Schrott verkaufen kann.

"Internierungslager ist kein guter Schluß für ein Reiseleben," fuhr Colin Ross fort, "man wird uns wie wilde Tiere in Käfigen ausstellen." Er kannte die Amerikaner so gut wie kaum ein anderer Deutscher seiner Generation, und er sollte Recht behalten: Amerikas damals bekanntester Lyriker Ezra Pound wurde in einen Käfig gesperrt, aufgehängt und öffentlich zur Schau gestellt; anschließend sperrte man ihn 12 Jahre lang in ein Irrenhaus in Washington D.C., wo er schlimmer mißhandelt wurde als seine Leidensgenossen zur gleichen Zeit in sowjetischen Institutionen dieses Namens, weil er ein bekennender Anhänger Mussolinis gewesen war - wie Kasimir Edschmid, dem freilich darob nichts geschah, da er gleich nach Kriegsende alles bestritt und das Gegenteil behauptete. Der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun, der mit seinen Amerika-Büchern weltberühmt geworden war (was Dikigoros freilich nicht so recht nachvollziehen kann - sie waren fast so schlecht wie Pound's Lyrik) wurde entehrt, enteignet und ebenfalls für "geisteskrank" erklärt (was damals - lange bevor Hitler in Deutschland an die Macht kam und bis weit in die 60er Jahre hinein - in allen skandinavischen Staaten ein "Rechtsgrund" zur Euthanasie war!); andere, wie Joachim Fernau, konnten untertauchen. Aber der 60-jährige Colin Ross hätte das nicht mehr geschafft - die Amerikaner führten die Schirachs, in deren Haus in Urfeld am Walchensee er mit seiner Frau Elisabeth ("Lisa") untergekrochen war, mit ganz oben auf ihrer "Kriegsverbrecher"-Liste und hätten sie und ihre Mitbewohner nicht so ohne weiteres entkommen lassen, ebenso wenig wie den Fysiker Werner Heisenberg, den es in dasselbe Kaff verschlagen hatte und der in seinem Tagebuch noch seine letzte Begegnung mit ihm schildert. Colin Ross wäre bestenfalls mit 20 Jahren Gefängnis davon gekommen, wie sein Freund Baldur v. Schirach - bis heute bezeichnen ihn einige Spinner jenseits des Atlantiks als "deutschen Spion", der in den 30er Jahren nur deshalb durch Nordamerika gereist sei, um dort die Invasion der Nazis vorzubereiten, sich also des Verbrechens der Vorbereitung eines Angriffskrieges schuldig gemacht hatte.

So nahmen sich die Eheleute Ross Ende April 1945 gemeinsam das Leben - in einem Abschiedsbrief bezeichneten sie das als ihre letzte gemeinsame Reise. [Anschließend rächten sich die amerikanischen Besatzer an seinen Zinnsoldaten - er war ein leidenschaftlicher Sammler derselben gewesen -, indem sie diese im Walchensee ertränken, pardon versenken ließen, als "Nazi-Spielzeug".] Vielleicht ahnte Ross auch, daß es künftig in Deutschland das, was ihm persönlich im Leben das Wichtigste war, nie mehr geben würde: die Freiheit des gesprochenen und geschriebenen Wortes, wenn es der herrschenden Meinung zuwider lief. An Hitler und am Dritten Reich hatte ihn - der die anderen Staaten der Welt kannte - am meisten dessen Toleranz gegenüber anders Denkenden beeindruckt, zu denen Ross auch sich selber zählte, denn wie wir gesehen haben, vertrat er in wesentlichen Punkten eine der herrschenden Meinung unter den Nazis völlig entgegen gesetzte Auffassung, die er zwar nicht durchsetzen konnte, aber immerhin, so Ross: "Nie ist versucht worden, meine Meinungs- und Betätigungsfreiheit zu unterbinden." Darin sah Ross den wesentlichen Unterschied des deutschen National-Sozialismus zum italienischen Faschismus und zum russischen Sowjet-Kommunismus. Andere mögen es aus ihrer Sicht anders empfunden haben, wie z.B. Kasimir Edschmid; aber solche Aussagen anderer, die gemacht wurden, nachdem die alliierten Besatzer und ihre deutschen Marionetten nicht nur die Zollfreiheit, sondern viel weiter gehend den Import und Export von Ideen Andersdenkender total[itär] aufgehoben hatten, sind mit Vorsicht zu genießen. Darf Dikigoros in diesem Zusammenhang einmal zitieren, was der sicher jeglicher Sympathie für das Dritte Reich unverdächtige Heinz Höhne 1967 in "Der Orden unter dem Totenkopf" - Jahrzehnte lang das Standardwerk über die SS - ungestraft schreiben durfte, und was bisher auch aus diversen Neuauflagen nicht gestrichen wurde: "Das Dritte Reich ähnelte nicht im entferntesten dem, was Theoretiker den totalitären Staat nannten. Hitler proklamierte die 'Errichtung der Totalität des Staates'... [aber] die Wirklichkeit nach dem 30. Januar 1933 sah völlig anders aus [...] Der Traum vom starken Staat blieb eine Halluzination. Der Dritte Reich war kein totalitärer Staat, wohl aber dessen Karikatur - Karikatur all der Träume, Hoffnungen und Ideen, die einst die NS-Führer in den Aufbau des autoritären Staates investiert hatten." (Dikigoros sieht darin eine Parallele zu Hitlers ständig wiederholter Behauptung, das Reich rüste militärisch ungeheuer auf - Stichwort "Kanonen statt Butter" -, was ebenso wenig stimmte; in Wahrheit stand es fast wehrlos da, als ihm Großbritannien und Frankreich - die tatsächlich ungeheuer aufgerüstet hatten, von den USA und der Sowjetunion ganz zu schweigen - 1939 den Krieg erklärten; aber über diese verbrecherische Unterlassung des Friedensnarren Hitler, die den Untergang des Deutschen Reiches herbei führen sollte, schreibt Dikigoros an anderer Stelle mehr.) Und neuerdings darf sogar offen geschrieben werden - wenngleich verklausuliert und mit geradezu entschuldigenden Erklärungen -, daß es um den Datenschutz im "Dritten Reich" weit besser bestellt war als heutzutage in der BRD - und zwar auf persönliche Veranlassung Hitlers, der sich stets weigerte, den Entwurf eines "Archivschutzgesetz" genannten Beschnüffelungsgesetzes zu unterschreiben - aber das nur am Rande.

Dagegen hatte Ross schon nach dem Ersten Weltkrieg über die USA geschrieben: "Nirgends ist das Recht der Meinungsäußerung und die persönliche Freiheit so brutal und niederträchtig geknebelt worden wie in dem 'Land der Freiheit'." Er ahnte wohl, daß die Amerikaner und ihre Alliierten es in dem besetzten Mitteleuropa von 1945 noch viel schlimmer treiben sollten. Und selbst wenn Ross nicht als "Kriegsverbrecher" verurteilt worden wäre - die Zeit, in der ein Deutscher (zumindest einer mit seiner "Vergangenheit" und seiner mutmaßlichen "Entnazifizierungs"-Kategorie) nach 1945 wieder einen Paß erhalten und frei in der Weltgeschichte hätte umher reisen dürfen, hätte er wohl schon aus biologischen Gründen nicht mehr erlebt. Noch im Jahre 1957 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß Artikel 11 des Grundgesetzes, der auf geduldigem Papier die "Freizügkeit" garantierte, nicht für Auslandsreisen galt und daß die Ausreise bzw. der für diese erforderliche Reisepaß denjenigen Leuten, deren Ansichten und Gesinnung nicht mit der Politik der Bundesregierung überein stimmten, völlig zurecht verweigert werden durfte. (Habt Ihr Euch Jahrzehnte lang über die DDR-Praxis in Sachen "Republikflucht" aufgeregt, liebe Wessis? Dann schlagt mal in einem Lehrbuch der Verfassungs-Geschichte unter "Elfes-Urteil" nach!) Insoweit hat Colin Ross wohl nicht mehr viel versäumt.

Einen unersetzlichen Verlust hat sein Tod jedoch mit sich gebracht: Ross hatte die anderthalb Jahre, in denen Hitler und Stalin Verbündete waren, zu einer mehrmonatigen Reise in die Sowjet-Union genutzt. Man darf annehmen, daß sein Reisebericht eine einzigartige Quelle gewesen wäre für das damalige Leben in der SU; denn da schrieb ein leidlich neutraler Beobachter, ein Bündnispartner, aber kein kommunistischer Lobhudler, und auch kein Kritikaster - denn die hatte Stalin längst (mund-)tot gemacht. Aus nahe liegenden Gründen wurde dieser Reisebericht (dessen Manuskript verschollen ist) nicht mehr veröffentlicht, weder im Dritten Reich (da war statt dessen Dwingers "Wiedersehen mit Sowjet-Russland" aufgelegt worden - ein Kriegstagebuch aus dem Jahre 1941) noch danach; 1948 wurde statt dessen ein Buch des Journalisten Karl Heinz Abshagen veröffentlicht mit dem Titel "Im Lande Arimasen [japanisch für 'gibtesnicht']". Was er darin über Japan schrieb, mag ungerecht sein - im Krieg herrschte nun einmal Mangelwirtschaft vor, nicht nur in Japan -, aber noch ungerechter ist, was er über die Sowjet-Union schrieb: So wie A. E. Johann die USA nach deren Kriegseintritt 1941 "Land ohne Herz" nannte, so nannte Abshagen die Sowjet-Union - durch die er in der ersten Aprilwoche 1941 mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Japan gereist war - 1948 nach Beginn des kalten Krieges, noch der Zensur der amerikanischen Besatzungszone unterworfen, im Eingangskapitel "Land ohne Lachen", ja sogar das "Land ohne Lächeln" (was ihm natürlich im Vergleich zu Japan, dem Land des pausenlosen Lächelns, besonders auffallen mußte): Alle Sowjet-Menschen hätten düster, griesgrämig, mürrisch, verschlossen, schwermütig und abgehärmt aus der verschlissenen Wäsche geguckt, was nur am politischen System und der schlechten wirtschaftlichen Situation gelegen haben könne. Schon möglich, liebe Leser - aber was hätte Abshagen wohl gesagt, wenn er heute von einer Fernost-Reise nach Deutschland zurück käme, mit seiner herrlichen Demokratie, in der es den Leuten immer noch viel weniger schlecht geht als den meisten Menschen Asiens? Nun, vielleicht hätte sich inzwischen auch bis zu ihm herum gesprochen, daß das fernöstliche Lächeln kein Gefühlsausdruck ist, sondern nur eine [un]verbindliche Maske, hinter der sich alles und nichts verbergen kann. Schade, daß auch er nie in Indien war - wenn man von dort in den Westen zurück kehrt, gibt es wohl keinen auffälligeren Unterschied als den zwischen dem ehrlichen Lächeln armer Menschen in Südasien und dem verbiesterten, immer unzufriedenen Gesichtsausdruck der eigenen "Mitbürger", der sich vor allem nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erschreckend schnell und in erschreckendem Maße dem im einstigen Ostblock angepaßt und ihn eingeholt hat - verglichen mit ländlichen Gebieten der einstigen Sowjet-Union hat er ihn vielleicht sogar schon überholt. Aber ein paar andere Kleinigkeiten, die Abshagen eher nebenbei erwähnt, die aber sicher auch Colin Ross aufgefallen waren - verdienen hier unser Interesse. Zum Beispiel, daß deutsche Juden im April 1941 noch problemlos ausreisen konnten, und daß es viele taten, um in Charbin oder sonstwo in den mehr oder weniger rechtsfreien Zonen Ostasiens illegale Geschäfte zu machen. Oder daß die deutsche Regierung ihre Auslands-Korrespondenten nicht etwa mit Reichsmark, Rubl oder Yen in die Sowjet-Union und nach Japan schickte, sondern - mit US-Dollars! Warum auch nicht - die USA waren doch damals offiziell noch neutral, oder? Auch darauf gibt uns jenes Kapitel eine - wohl mit Rücksicht auf die Zensur bewußt knapp gehaltene - Antwort: Von wegen... Abshagen trifft in der Transsib eine junge Frau, die von Japan nach Perú weiter reisen will, um dort einen Auslandsdeutschen zu heiraten. Leute, die sich auskennen, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: Die angeblich "neutralen" USA haben gerade Venezuela und Kolumbien gezwungen, alle deutschen Staatsbürger zu enteignen und zu internieren, und es sei nur eine Frage der Zeit, wann die anderen südamerikanischen Länder folgen würden - sie sollten Recht behalten, aber das hat der Zensor wohl verpennt. Vielleicht hat auch Colin Ross solche Schicksale kennen gelernt, und vielleicht war das mit ein Grund für seinen Freitod.

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Wenigstens in einem Punkt hatte Colin Ross mehr Glück als seine Zeitgenossen Richard Katz und Kasimir Edschmid: Er hinterließ kein einziges Buch, daß irgend ein politisch-korrekter Gutmensch fünfzig Jahre nach seinem Tod neu hätte auflegen können, um der Nachwelt einen falschen, "harmlosen" Colin Ross vorzugaukeln. So geriet er denn für mehr als ein halbes Jahrhundert völlig in Vergessenheit - es war ihm sicher lieber so. Er hätte es wohl selber nicht für möglich gehalten, daß er 1996 beim 9. Internationalen Filmhistorischen Kongreß in Hamburg wieder entdeckt werden sollte, wobei ihm sogar einigermaßen Gerechtigkeit widerfuhr mit den Worten des Veranstalters: "Bei aller zuweilen herrenmenschenhaften Attitüde und Indignation vor menschlichem Elend, das ihm in den Slums indischer (indonesischer - s.o.) oder chinesischer Städte begegnete, betonte Ross stets, auch in der Zeit nach 1933, die Gleichrangigkeit aller Rassen und die Legitimität ihrer Lebensformen. Mit einer Parteinahme für den Nationalsozialismus konnte Ross seinen Kulturrelativismus mühelos vereinbaren." Dikigoros schließt sich dieser Aussage an - und überläßt die sich aufdrängende boshafte Frage, ob das für oder gegen Colin Ross und/oder den National-Sozialismus spricht, seinen Lesern.

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