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JOHN LOCKE (1632 - 1704)

Versuch über den menschlichen Verstand.
Einleitung
1. Da es der Verstand ist, der den Menschen über alle übrigen empfindenden Wesen erhebt und ihm die ganze Überlegenheit und Herrschaft verleiht, die er über sie besitzt, so ist er sicherlich ein Gegenstand, der eben durch seine hohe Würde die Mühe einer Untersuchung lohnt. Wie das Auge läßt uns der Verstand alle anderen Dinge sehen und wahrnehmen, ohne doch dabei seiner selbst gewahr zu werden, und es erfordert Kunst und Mühe, um einen gewissen Abstand von ihm zu gewinnen und ihn zu seinem eigenen Objekt zu machen. Welche Schwierigkeiten jedoch auch immer auf dem Wege dieser Untersuchung liegen mögen, was es auch sein mag, das uns über uns selbst so sehr im Dunkeln läßt, so bin ich mir doch sicher, daß alles Licht, das wir auf unseren Geist fallen lassen können, jede Einsicht, die wir in unsern eigenen Verstand gewinnen können, nicht nur sehr erfreulich sein wird, uns vielmehr auch großen Nutzen bringt, indem sie unsere Gedanken auf der Suche nach anderen Dingen lenkt.
2. Da es also mein Ziel ist, Ursprung, Gewißheit und Umfang der
menschlichen Erkenntnis zu untersuchen, nebst den Grundlagen und Abstufungen von Glauben, Meinung und Zustimmung, so will ich mich gegenwärtig nicht auf eine naturwissenschaftliche Betrachtung des Geistes einlassen oder mir die Mühe machen zu prüfen, worin sein Wesen bestehe oder durch welche Bewegungen unserer Lebensgeister oder durch welche Veränderungen in unserem Körper wir dazu gelangen, irgendwelche Sensationen vermittels unserer Organe oder Ideen in unserem Verstand zu haben, und ob diese Ideen bei ihrer Bildung teilweise oder sämtlich von der Materie abhängig sind oder nicht. Das sind Spekulationen, die ich, so fesselnd und unterhaltend sie auch sein mögen, beiseite lassen werde, weil sie außerhalb des Bereiches der Aufgabe liegen, die mich zur Zeit beschäftigt. Für meinen gegenwärtigen Zweck wird es genügen, wenn ich die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, so wie sie sich an den ihnen vorkommenden Objekten betätigen, ins Auge fasse. Und ich glaube, daß ich mir mit den Gedanken, die ich in diesem Zusammenhang aussprechen werde, nicht ganz verfehlte Mühe gemacht habe, wenn ich durch diese historische, einfache Methode irgendwelchen Aufschluß über die Art und Weise zu geben imstande bin, wie unser Verstand sich jene Begriffe von den Dingen, die wir haben, aneignet; und ich glaube, daß ich Maßstäbe für die Gewißheit unserer Erkenntnis oder Gründe für diejenigen Überzeugungen namhaft machen kann, die in so vielgestaltiger, verschiedenartiger und völlig widersprechender Form unter den Menschen zu finden sind und dabei doch da und dort so bestimmt r und zuversichtlich geltend gemacht werden, daß jemand, der sich von den Meinungen der Menschen ein Bild macht, der ihre Gegensätzlichkeit wahrnimmt und gleichzeitig die blinde Liebe und Hingebung beobachtet, mit der sie erfaßt, die Entschlossenheit und den Eifer, mit dem sie festgehalten werden, vielleicht zu dem Argwohn Grund haben wird, daß es entweder so etwas wie die Wahrheit überhaupt nicht gebe oder daß die Menschen nicht über ausreichende Mittel verfügen, um eine sichere Kenntnis von ihr zu erlangen.
3. Darum ist es wohl der Mühe wert, Meinung und Erkenntnis voneinander abzugrenzen und zu untersuchen, nach welchen Maßstäben wir bei Dingen, von denen wir keine sichere Kenntnis besitzen, unsere Zustimmung zu geben und unsere Überzeugungen zu bemessen haben. Zu diesem Zweck werde ich folgenden Weg einschlagen:
I. Werde ich den Ursprung jener
Ideen, Begriffe - oder wie Du sie sonst zu nennen beliebst - untersuchen, die der Mensch in seinem Geist wahrnimmt und die ihm als dort vorhanden bewußt sind, sowie die Wege, auf denen der Verstand dazu gelangt, mit ihnen ausgerüstet zu sein.
II. Werde ich mich bemühen, zu zeigen, was für eine Erkenntnis der Verstand durch diese Ideen gewinnt, sowie Gewißheit, Augenscheinlichkeit und Umfang dieser Erkenntnis darzulegen.
III. Werde ich Natur und Grundlagen von
Glauben und Meinung ein wenig untersuchen, worunter ich jene Zustimmung verstehe, die wir einem Satz als wahr erteilen, von dessen Wahrheit wir noch keine sichere Kenntnis haben. Hierbei wird sich uns Gelegenheit bieten, die Gründe und Abstufungen der Zustimmung zu prüfen.

4. Wenn ich durch diese Untersuchung der Natur des Verstandes ermitteln kann, welches seine Kräfte sind, wie weit sie reichen, welchen Dingen sie einigermaßen angemessen sind und wo sie nicht mehr ausreichen, so dürfte das vielleicht von Nutzen sein, um den regen Geist des Menschen zu bewegen, in der Beschäftigung mit Dingen, die seine Fassungskraft übersteigen, größere Zurückhaltung zu üben, um ihm Halt zu gebieten, wenn er am äußersten Rande des ihm zugewiesenen Bereiches angelangt ist, und sich gelassen mit seiner Unwissenheit abzufinden, wenn es sich um Dinge handelt, bei denen eine Prüfung erweist, daß sie jenseits des Bereiches unserer Fähigkeiten liegen. Wir würden dann vielleicht nicht so vorschnell sein, aus einem Streben nach allumfassender Erkenntnis heraus Fragen aufzuwerfen und uns selbst und andere mit Streitgesprächen zu verwirren über Dinge, denen unser Verstand nicht gewachsen ist und von denen wir in unserem Geist keinerlei klare und deutliche Wahrnehmungen zu gewinnen vermögen oder für die wir (wie es vielleicht nur allzu oft der Fall gewesen ist) überhaupt keine Begriffe haben. Wenn wir ermitteln können, wie weit der Verstand seinen Gesichtskreis ausdehnen kann, in welchem Umfang er die Fähigkeiten besitzt, Gewißheit zu erlangen, und in welchen Fällen er nur urteilen und vermuten kann, so werden wir vielleicht lernen, uns mit dem zu begnügen, was in dieser Lage von uns zu erreichen ist.
5. Wenn nämlich auch die Fassungskraft unseres Verstandes weit hinter dem gewaltigen Umfang der Dinge zurückbleibt, so haben wir doch noch Grund genug, den gütigen Urheber unseres Daseins für jenen Grad und für jenen Anteil der Erkenntnis zu preisen, den er uns in so viel höherem Maße als allen übrigen Bewohnern dieser unserer Wohnstätte verliehen hat. Die Menschen haben allen Grund, mit dem zufrieden zu sein, was Gott passend für sie erachtet hat, denn er hat ihnen alles, was für die Bequemlichkeit des Lebens und zur Unterweisung in der Tugend erforderlich ist, gegeben und die Behaglichkeiten dieses Lebens sowie den Weg zu einem besseren Dasein in den Bereich ihrer Erkenntnis gestellt. Wie weit ihre Erkenntnis auch hinter einer universalen oder vollkommenen Erfassung dessen, was es auch immer sei, zurückbleiben mag, so sind ihre wichtigen Interessen doch dadurch gewahrt, daß das Licht, das sie haben, ausreicht, um sie zur Erkenntnis ihres Schöpfers und zu einem Einblick in ihre Pflichten zu verhelfen. Die Menschen können Stoff genug finden, um Kopf und Hand auf die verschiedenste Art angenehm und befriedigend zu beschäftigen, wenn sie nur nicht in ungehöriger Weise mit ihrer eigenen Natur hadern und die Geschenke, mit denen ihre Hände gefüllt sind, wegwerfen, weil diese nicht groß genug sind, um alles zu erfassen. Wir werden nicht viel Grund haben, uns über die Beschränktheit unseres Geistes zu beklagen, wenn wir ihn nur zu den Dingen gebrauchen, die für uns von Nutzen sein können; denn dazu ist er gut geeignet. Und es wäre eine ebenso unverzeihliche wie kindische Empfindsamkeit, wenn wir den Nutzen unserer Erkenntnis unterschätzen und es versäumen wollten, sie zu den Zwecken, zu denen sie uns verliehen wurde, zu erweitern, nur weil es gewisse Dinge gibt, die aus ihrer Reichweite gesetzt sind. Es ist für einen trägen und eigensinnigen Diener, der seine Arbeit bei Kerzenlicht nicht verrichten mag, keine Entschuldigung, sich darauf zu berufen, daß er keinen hellen Sonnenschein gehabt habe. Die Leuchte, die in uns entzündet ist2, strahlt für alle unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können, müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten entspricht, und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewißheit fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere Angelegenheiten zu besorgen. Wenn wir alles bezweifeln wollen, weil wir nicht alles mit Gewißheit erkennen können, so handeln wir ungefähr ebenso weise wie derjenige, der seine Beine nicht gebrauchen wollte, sondern still saß und zugrunde ging, weil er keine Flügel zum Fliegen hatte.
6. Wenn wir unsere eigenen Kräfte kennen, werden wir um so besser wissen, was wir mit Aussicht auf Erfolg unternehmen können; und wenn wir die
Kräfte unseres Geistes wohl überschaut und einigermaßen abgeschätzt haben, was wir von ihnen erwarten dürfen, werden wir einerseits - aus Verzweiflung darüber, daß wir nicht alles erkennen können- nicht geneigt sein, still zu sitzen und unsere Gedanken überhaupt nicht in Tätigkeit zu setzen, noch werden wir andererseits alles in Frage stellen und jegliche Erkenntnis verwerfen wollen, weil gewisse Dinge unbegreiflich sind. Es ist für den Seemann von großem Wert, die Länge seiner Lotleine zu erkennen, auch wenn er damit nicht alle Tiefen des Weltmeeres ergründen kann. Es ist gut, wenn er weiß, daß sie lang genug ist, um an solchen Stellen den Grund zu erreichen, wo es notwendig ist, um seinen Kurs zu bestimmen und ihn vor Untiefen zu bewahren, die ihm verderblich werden könnten. Unsere Aufgabe in dieser Welt ist es nicht, alle Dinv zu wissen, wohl aber diejenigen, die unser Verhalten betreffen. Wenn wir die Maßstäbe ausfindig machen können, nach denen ein vernünftiges Wesen, das in jene Lage versetzt ist, in der sich der Mensch auf der Erde befindet, seine Meinungen und seine von denselben abhängigen Handlungen einrichten kann und soll, so brauchen wir uns nicht darüber zu beunruhigen, daß sich manche anderen Dinge unserer Erkenntnis entziehen.
7. Dies war es, was den ersten Anstoß zu dieser
Abhandlung über den Verstand gab. Ich war nämlich der Meinung, der erste Schritt zur Beantwortung gewisser Fragen, in deren Untersuchung sich der Menschengeist besonders gern vertiefe, bestehe darin, daß wir unseren eigenen Verstand betrachten, unsere eigenen Kräfte prüften, um zu sehen, welchen Dingen sie angemessen seien. Bis das nicht erfolgt sei, fingen wir, so vermutete ich, am verkehrten Ende an und suchten vergeblich Befriedigung in einem sicheren und ungestörten Besitz von Wahrheiten, die für uns von höchster Wichtigkeit seien, da wir unseren Gedanken auf dem unermeßlichen Ozean des Seienden freien Lauf lassen, als wäre jenes grenzenlose Gebiet der natürliche und unzweifelhafte Besitz unseres Verstandes und enthielte nichts, was sich seinen Entscheidungen entziehe und seiner Fassungskraft verschlossen sei. Wenn die Menschen jedoch mit ihren Untersuchungen die Grenzen ihrer Kapazität überschreiten und ihre Gedanken in jene Tiefen hinabdringen lassen, wo sie keinen sicheren Boden mehr unter den Füßen finden können, so ist es kein Wunder, daß sie Fragen aufwerfen und immer mehr Streitgespräche führen, die, weil sie nie klar entschieden werden, nur dazu dienen, ihren Zweifeln neue Nahrung zu geben und sie zu vertiefen und sie selbst schließlich in einem vollständigen Skeptizismus zu bestärken. Wenn man dagegen die Kapazität unseres Verstandes wohl erwöge, den Umfang unserer Erkenntnis einmal feststellte und die Grenzlinie ausfindig machte, die den erhellten und den dunklen Teil der Dinge, das für uns Faßliche und das Unfaßliche voneinander scheidet, so würden sich die Menschen vielleicht unbedenklicher mit der eingestandenen Unkenntnis auf dem einen Gebiet zufrieden geben und ihr Denken und Reden mit mehr Erfolg und Befriedigung dem anderen zuwenden.
8. Soviel glaubte ich über die Veranlassung zu dieser Untersuchung des menschlichen Verstands sagen zu müssen. Bevor ich dazu übergehe, meine Gedanken über diesen Gegenstand darzulegen, muß ich den Leser wegen der häufigen Verwendung des Wortes
Idee, dem er in der nun folgenden Abhandlung begegnen wird, gleich eingangs um Nachsicht bitten. Da nämlich dieser Ausdruck, wie ich glaube, am besten dazu dient, für das zu stehen, was immer, wenn ein Mensch denkt, das Objekt des Verstandes ist, so habe ich es gebraucht, um das auszudrücken, was immer man unter Phantasma, Begriff, Vorstellung oder was immer es sei, das den denkenden Geist beschäftigen kann, versteht; und so konnte ich es nicht vermeiden, dieses Wort häufig zu gebrauchen.
Ich glaube, man wird mir bereitwillig zugeben, daß der menschliche Geist solche
Ideen besitzt; jeder ist sich bewußt, daß sie bei ihm selbst vorhanden sind, und die Worte und Taten anderer Menschen verbürgen ihm, daß sie sich auch bei ihnen finden.
Unsere erste Untersuchung soll deshalb der Frage gelten, wie sie in den Geist hineingelangen.

LOCKE, JOHN: Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1. Philosophische Bibliothek Band Nr. 75. Hamburg, 4. durchges. Aufl. 1981, S. 22-28.