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5. Wenn nämlich auch die Fassungskraft unseres Verstandes weit hinter dem
gewaltigen Umfang der Dinge zurückbleibt, so haben wir doch noch Grund genug, den
gütigen Urheber unseres Daseins für jenen Grad und für jenen Anteil der Erkenntnis zu
preisen, den er uns in so viel höherem Maße als allen übrigen Bewohnern dieser unserer
Wohnstätte verliehen hat. Die Menschen haben allen Grund, mit dem zufrieden zu sein,
was Gott passend für sie erachtet hat, denn er hat ihnen alles, was für die Bequemlichkeit des Lebens und zur Unterweisung
in der Tugend erforderlich ist, gegeben und die Behaglichkeiten dieses Lebens sowie
den Weg zu einem besseren Dasein in den Bereich ihrer Erkenntnis gestellt. Wie weit
ihre Erkenntnis auch hinter einer universalen oder vollkommenen Erfassung dessen,
was es auch immer sei, zurückbleiben mag, so sind ihre wichtigen Interessen doch
dadurch gewahrt, daß das Licht, das sie haben, ausreicht, um sie zur Erkenntnis ihres
Schöpfers und zu einem Einblick in ihre Pflichten zu verhelfen. Die Menschen können
Stoff genug finden, um Kopf und Hand auf die verschiedenste Art angenehm und
befriedigend zu beschäftigen, wenn sie nur nicht in ungehöriger Weise mit ihrer
eigenen Natur hadern und die Geschenke, mit denen ihre Hände gefüllt sind,
wegwerfen, weil diese nicht groß genug sind, um alles zu erfassen. Wir werden nicht
viel Grund haben, uns über die Beschränktheit unseres Geistes zu beklagen, wenn wir
ihn nur zu den Dingen gebrauchen, die für uns von Nutzen sein können; denn dazu
ist er gut geeignet. Und es wäre eine ebenso unverzeihliche wie kindische
Empfindsamkeit, wenn wir den Nutzen unserer Erkenntnis unterschätzen und es
versäumen wollten, sie zu den Zwecken, zu denen sie uns verliehen wurde, zu
erweitern, nur weil es gewisse Dinge gibt, die aus ihrer Reichweite gesetzt sind. Es ist
für einen trägen und eigensinnigen Diener, der seine Arbeit bei Kerzenlicht nicht
verrichten mag, keine Entschuldigung, sich darauf zu berufen, daß er keinen hellen
Sonnenschein gehabt habe. Die Leuchte, die in uns entzündet ist2, strahlt für alle
unsere Zwecke hell genug. Die Entdeckungen, die wir mit ihrer Hilfe machen können,
müssen uns genügen. Und wir gebrauchen unseren Verstand dann richtig, wenn wir
alle Objekte in der Weise und in dem Maße betrachten, wie es unseren Fähigkeiten
entspricht, und wenn wir sie auf solche Gründe hin untersuchen, die uns zugänglich
sind, nicht aber unbedingt in maßloser Weise einen Beweis verlangen und Gewißheit
fordern, wo nur Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, die ausreicht, um alle unsere
Angelegenheiten zu besorgen. Wenn wir alles bezweifeln wollen, weil wir nicht alles
mit Gewißheit erkennen können, so handeln wir ungefähr ebenso weise wie derjenige,
der seine Beine nicht gebrauchen wollte, sondern still saß und zugrunde ging, weil er
keine Flügel zum Fliegen hatte.
6. Wenn wir unsere eigenen Kräfte kennen, werden wir um so besser wissen, was wir
mit Aussicht auf Erfolg unternehmen können; und wenn wir die
Kräfte
unseres
Geistes wohl überschaut und einigermaßen abgeschätzt haben, was wir von ihnen
erwarten dürfen, werden wir einerseits - aus Verzweiflung darüber, daß wir nicht alles
erkennen können- nicht geneigt sein, still zu sitzen und unsere Gedanken überhaupt
nicht in Tätigkeit zu setzen, noch werden wir andererseits alles in Frage stellen und
jegliche Erkenntnis verwerfen wollen, weil gewisse Dinge unbegreiflich sind. Es ist
für den Seemann von großem Wert, die Länge seiner Lotleine zu erkennen, auch
wenn er damit nicht alle Tiefen des Weltmeeres ergründen kann. Es ist gut, wenn er
weiß, daß sie lang genug ist, um an solchen Stellen den Grund zu erreichen, wo es
notwendig ist, um seinen Kurs zu bestimmen und ihn vor Untiefen zu bewahren, die
ihm verderblich werden könnten. Unsere Aufgabe in dieser Welt ist es nicht, alle
Dinv zu wissen, wohl aber diejenigen, die unser Verhalten betreffen. Wenn
wir die Maßstäbe ausfindig machen können, nach denen ein vernünftiges Wesen,
das in jene Lage versetzt ist, in der sich der Mensch auf der Erde befindet, seine
Meinungen und seine von denselben abhängigen Handlungen einrichten kann und
soll, so brauchen wir uns nicht darüber zu beunruhigen, daß sich manche anderen
Dinge unserer Erkenntnis entziehen.
7. Dies war es, was den ersten Anstoß zu dieser
Abhandlung
über den Verstand gab.
Ich war nämlich der Meinung, der erste Schritt zur Beantwortung gewisser Fragen, in
deren Untersuchung sich der Menschengeist besonders gern vertiefe, bestehe darin,
daß wir unseren eigenen Verstand betrachten, unsere eigenen Kräfte prüften, um zu
sehen, welchen Dingen sie angemessen seien. Bis das nicht erfolgt sei, fingen wir, so
vermutete ich, am verkehrten Ende an und suchten vergeblich Befriedigung in einem
sicheren und ungestörten Besitz von Wahrheiten, die für uns von höchster
Wichtigkeit seien, da wir unseren Gedanken auf dem unermeßlichen Ozean des
Seienden freien Lauf lassen, als wäre jenes grenzenlose Gebiet der natürliche und
unzweifelhafte Besitz unseres Verstandes und enthielte nichts, was sich seinen
Entscheidungen entziehe und seiner Fassungskraft verschlossen sei. Wenn die
Menschen jedoch mit ihren Untersuchungen die Grenzen ihrer Kapazität
überschreiten und ihre Gedanken in jene Tiefen hinabdringen lassen, wo sie keinen
sicheren Boden mehr unter den Füßen finden können, so ist es kein Wunder, daß sie
Fragen aufwerfen und immer mehr Streitgespräche führen, die, weil sie nie klar
entschieden werden, nur dazu dienen, ihren Zweifeln neue Nahrung zu geben und sie
zu vertiefen und sie selbst schließlich in einem vollständigen Skeptizismus zu
bestärken. Wenn man dagegen die Kapazität unseres Verstandes wohl erwöge, den
Umfang unserer Erkenntnis einmal feststellte und die Grenzlinie ausfindig machte, die
den erhellten und den dunklen Teil der Dinge, das für uns Faßliche und das
Unfaßliche voneinander scheidet, so würden sich die Menschen vielleicht
unbedenklicher mit der eingestandenen Unkenntnis auf dem einen Gebiet zufrieden
geben und ihr Denken und Reden mit mehr Erfolg und Befriedigung dem anderen
zuwenden.
8. Soviel glaubte ich über die Veranlassung zu dieser Untersuchung des
menschlichen Verstands sagen zu müssen. Bevor ich dazu übergehe, meine
Gedanken über diesen Gegenstand darzulegen, muß ich den Leser wegen der
häufigen Verwendung des Wortes
Idee,
dem er in der nun folgenden Abhandlung
begegnen wird, gleich eingangs um Nachsicht bitten. Da nämlich dieser Ausdruck,
wie ich glaube, am besten dazu dient, für das zu stehen, was immer, wenn ein Mensch
denkt, das
Objekt
des Verstandes ist, so habe ich es gebraucht, um das
auszudrücken, was immer man unter
Phantasma, Begriff, Vorstellung
oder
was immer es
sei, das den denkenden Geist beschäftigen kann,
versteht; und so konnte ich es nicht
vermeiden, dieses Wort häufig zu gebrauchen.
Ich glaube, man wird mir bereitwillig zugeben, daß der menschliche Geist solche
Ideen
besitzt; jeder ist sich bewußt, daß sie bei ihm selbst vorhanden sind, und die Worte
und Taten anderer Menschen verbürgen ihm, daß sie sich auch bei ihnen finden.
Unsere erste Untersuchung soll deshalb der Frage gelten, wie sie in den Geist
hineingelangen.
LOCKE, JOHN: Versuch über den menschlichen Verstand. Band 1. Philosophische Bibliothek Band Nr. 75. Hamburg, 4. durchges. Aufl. 1981, S. 22-28.