Seit über 250 Jahren begleiten geheime Gesellschaften die Moderne. Sie versprechen Erleuchtung, bespitzeln ihre Mitglieder und bekriegen ihre Kritiker


von Karl-Heinz Göttert


 

Scientologus Illuminatus

Mitten in der sogenannten Wissensgesellschaft tritt Scientology auf: eine selbsternannte Kirche in Form einer straffen, weltweit operierenden Organisation. Merkwürdig - sollte dies nicht das Zeitalter der Individualisierung sein? Der Abkehr von disziplinierenden Gemeinschaften?

Indes, mehr Individualisierung scheint Gemeinschaftsbildung nicht etwa ersatzlos zu beseitigen, sondern sie vielmehr zugleich hervorzurufen. Die Kultur der Kritik geht einher mit einem Bedarf an neuen Dogmen, das freie Fluktuieren der Meinungen produziert als Pendant die endgültigen Antworten. So erweist sich unversehens nicht das Mittelalter als die Zeit der ultimativen Versprechungen, sondern ausgerechnet die Moderne. Und das schon seit geraumer Zeit; ein Blick in die Geschichte kann da lehrreich sein und Scientology & Co. in anderem Licht erscheinen lassen.

Die Gründung von Vereinigungen mit exklusiven weltanschaulichen Zielen begegnet in Europa seit der Aufklärung, ja die Teilnahme an Bünden wurde schon von den damaligen Zeitgenossen als "Krankheit des Jahrhunderts" apostrophiert. Wenn wir, wie üblich, die Aufklärung im frühen 18. Jahrhundert in England - dem damals politisch und wirtschaftlich fortschrittlichsten Land Europas - beginnen lassen, stoßen wir sofort auf die erste große Alternative zu den alten Formen weltanschaulicher Bindung: die Freimaurerei.

Statt als Abspaltung (Sekte) mit neuen Glaubensinhalten, wie es jahrhundertelang zuvor typisch war, verstand sich die Freimaurerei eher als Organ der Umsetzung vorgefundener Inhalte: Die moralischen Ideale der gerade aufgekommenen Aufklärung sollten eben nicht bloße Theorie bleiben, sondern praktisch werden - daher die Symbolik des Menschheitsbaus im Hier und Jetzt, wie ihn weder die Religionen noch der Staat je unternommen, geschweige vollendet hatten.

Im Jahre 1717 wurde die erste Großloge in London gegründet. Der Funke sprang aufs Festland über; allenthalben bildeten sich Mutter- und Tochterlogen, kam es zu Vereinigungen wie 1761 in Deutschland mit der Strikten Observanz, in der wenige Jahre später 26 fürstliche Mitglieder als Teilnehmer bezeugt sind.

Bald setzte ein Wandel ein. Es blieb nicht bei den aufklärerischen Idealen. Mehr und mehr wurden die Lehren mit Verheißungen überfrachtet - etwa der vollkommenen Erleuchtung oder gar der Kunst, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Überdies hatte das Gleichheitspathos die Unterprivilegierten angelockt: Der hehre Bund wandelte sich zum Karriereverein.

In den 1770er Jahren schlug die Stunde der Radikalisierer. Es bildeten sich straffe Organisationen, die die zerstrittene Maurerei ersetzen wollten und sich untereinander einen erbarmungslosen Verdrängungswettbewerb lieferten. 1776 etablierten sich die - sozusagen - linken Illuminaten mit ihren radikalen Ideen einer Befreiung der Menschheit von entwürdigender Bevormundung im Absolutismus, 1779 die - um den hinkenden Vergleich noch einmal zu bemühen - rechten Rosenkreuzer mit ebenso radikalen Ideen einer Belebung des mittelalterlichen Ständestaates und seinen oktroyierten Normen.

Beide Bünde reagierten in je anderer Weise auf die Aufklärung: schiere Beseitigung oder kompromißlose Vollendung ad absurdum.

Was für die einen alle Ordnung untergräbt, geht den andern nicht schnell genug. Das Ziel aber ist durchaus gleich: die geeinte Menschheit unter Führung - endlich! - der Richtigen. Die Rosenkreuzer konnten immerhin bis ins Kabinett des preußischen Königs vordringen; die Illuminaten dagegen wurden früh als Verschwörer gegen die bürgerliche Gesellschaft denunziert, verboten und verfolgt. Und wurden fortan zum Prototyp des Geheimbundwesens.

Ein perfektes System der Anwerbung und Überwachung

Der Werdegang der Illuminaten ist aufschlußreich. Die Initialzündung gab fast durch Zufall (nämlich weil er die hohen Aufnahmegebühren für eine Freimaurerloge nicht bezahlen konnte) ein 28jähriger Professor des Natur- und Kirchenrechts namens Adam Weishaupt, und sein wichtigster Helfer wurde der zu Unrecht nur als Anstandspapst bekanntgewordene Freiherr Knigge, ein kurz zuvor seiner Güter verlustig gegangener Adliger. Wenn man so will: zwei Hungerleider, die ihre hochgestochenen Weltverbesserungspläne mit handfesten Karriereerwartungen verbanden. Das Entscheidende aber lag darin, daß das den Freimaurern entlehnte Modell des Geheimen mit seiner Funktion des Anreizes und der Steigerung der Gruppensolidarität überboten wurde durch ein Spiel mit gezinkten Karten: Um das Vernunftreich durchzusetzen, sollten die Mitglieder nämlich getäuscht, zu ihrem Glück förmlich gezwungen werden.

Das Ziel der Befreiung der Menschheit vom Sklavenjoch der Unvernunft Weishaupts Logenname lautete Spartacus - schien nur eine Frage der Zeit, die Aufklärung vor ihrem letzten Gefecht. Doch es bedurfte nach dieser Auffassung des Zwangs als Vorstufe, als Notlösung unter der Voraussetzung allzu verbogener Charaktere und allzu widriger Umstände - eine geschichtsphilosophische Idee, die uns Heutigen nicht unbekannt vorkommen sollte.

Im praktischen Leben wurde daraus ein perfektes System der Anwerbung und Überwachung der Mitglieder. Schon die Werbung, angebahnt von Geheimen, war aggressiv und suchte ausdrücklich an die Leidenschaften der Kandidaten (ausdrücklich: Geiz oder Wollust) anzuknüpfen. Zum Einstieg gehörte die Ausforschung der Neulinge in einem Anfangstest mit 25 Fragen (etwa zur Vermögenslage), nach Eintritt folgte gegenseitige Bespitzelung mit Denunziationszwang.

Der (ebenfalls der Maurerei abgesehene) Aufstieg über den Illuminatus minor und major zu den höheren Graden bis hin zum Priester war als Anreiz gedacht: eine Art Ersatzhierarchie für in der rauhen Wirklichkeit Gescheiterte oder zu kurz Gekommene. Schließlich sollten Druckereien und Buchhandlungen kontrolliert und Gegner bei Bedarf öffentlich "ausgeschrieen" werden.

Daß das Ganze trotz völlig dilettantischer Durchführung, in der selbst die Postgebühren ein Problem darstellen konnten, für einige Jahre tatsächlich funktionierte, kann man sich nur aus der damaligen Melange aus Enttäuschung über die Realität und aus der Unerfahrenheit im praktischen Umgang mit ihr erklären. Im übrigen blieb die Mitgliederzahl für heutige Maßstäbe mehr als bescheiden; insgesamt 1255 Personen sind recherchiert worden. Allerdings lassen die Namen aufhorchen: Ferdinand von Braunschweig, Bruder des regierenden Herzogs, ist neben vielen andern Adligen dabei, ebenso Graf Montgelas, der nachmalige Reformer in der bayerischen Landesregierung, oder Karl Theodor von Dalberg, später Fürstprimas von Mainz. Unter den Bürgerlichen wäre das Berliner Haupt der Aufklärer Friedrich Nicolai zu nennen oder Johann J. Chr. Bode als bedeutender Übersetzer und Verleger, unter den Professoren der Antikantianer Johann G. H. Feder ebenso wie der Kantianer Karl L. Reinhold und als noch heutige Berühmtheit Johann Heinrich Pestalozzi.

Der Marsch durch die Institutionen hatte also immerhin begonnen - doch dann brach alles fast über Nacht zusammen.

Der äußere Grund: das weiter oben schon en passant erwähnte, im Jahre 1785 ausgesprochene Verbot im bayerischen Ursprungsland der Bewegung, das auf ganz Deutschland ausstrahlte. Doch die späteren Rechtfertigungsschriften der Initiatoren zeigen, daß die inneren Gründe für das Ende schwerer wogen: Knigge hatte "mit unbeschreiblich großen Revolutionen" geworben, mit einem "Welt und Menschen umschaffenden System" - und mußte sich damals schon von einem Unwilligen sagen lassen, daß eine "lichtscheue Maschine" niemals den freien Willen ersetzen könne. Später sah er dies selbst ein, und auch Weishaupt gab in einer umfangreichen Abhandlung zu, einen Abweg gegangen zu sein. Was als "sinnlicher Anreiz" für Aufklärung geplant war, habe in Wirklichkeit deren wichtigste Errungenschaft untergraben: die Selbstbestimmung.

Schon die Freimaurer hatten ihre humanitären Ideale mit dem Versprechen von endgültigem Wissen verbunden. Die Welt sollte aus einem ebenso einfachen wie einsichtigen Prinzip erklärt werden, wozu man den Anschluß an Magie und Alchemie suchte und sogar die Legende von den Tempelrittern erfand, die das Wissen Adams bewahrt hätten. Was wie ein Stück Verrat an der Aufklärung wirkt, läßt sich andererseits auch als deren Folge interpretieren: die Befreiung von Traditionen löst die Suche nach neuem Halt aus. An die Stelle "permanenter Aufklärung", wie sie Lessing in seiner Kritik an den Freimaurern forderte, trat der "Despotismus der Aufklärung" (Körner an Schiller), der gewollte Stillstand mit seinen letzten Gewißheiten.

Es hat eine breite Auseinandersetzung in Romanen und Theaterstücken gegeben, die angesichts der letztlich harmlosen Fakten - man hat mit Recht von einem "papiernen Radikalismus" gesprochen - einigermaßen erstaunt. Schillers Figur des Marquis Posa im Don Carlos (1787) beispielsweise repräsentiert den fehlgeleiteten Idealisten, der die Befreiung der Niederlande nicht politisch-argumentativ anstrebt, sondern mit Hilfe des verliebten Prinzen, der im Spiel der Mächte zum bloßen Werkzeug wird. In Wielands Peregrinus Proteus (1788/89) sind die verschiedenen Typen der Menschheitsverbesserer portraitiert: der Idealist, der sich ruiniert, ehe er den Irrtum einsieht, der Realist, der den Betrug durchschaut und sich rechtzeitig absetzt, schließlich der Zyniker, der die Weltherrschaft plant und mit vorgetäuschten Versprechungen seine Zöglinge um ihr Vermögen bringt. Auch im Wilhelm Meister (1795-1821) von Goethe, der selbst zusammen mit seinem Herzog Illuminat war (Logenname: Abaris), spielt die Manipulation des Titelhelden durch die Turmgesellschaft auf das Geheimbundwesen an. Mozarts Zauberflöte (1791) wäre schließlich ein Beispiel offener Sympathiewerbung für die Szene.

Seit 1789 sind aber auch ganz andere Töne zu hören gewesen: Von reaktionärer Seite wurden die Illuminaten als Vorbereiter der französischen Revolution bezeichnet, Knigge als "Volksaufwiegler" in eine Reihe mit Marat und Robespierre gestellt. Ein ehemaliger Insider sprach von "Ungeheuern", vom "Krebsschaden der Völker" und zählte "satanische Kunstgriffe" auf. Mit "antimonarchischen Schriften ganz Deutschland zu vergiften", das ist noch ein harmloser Vorwurf, auch "Kopf abschneiden, intrigieren, morden, sengen und brennen und - Menschenfleisch fressen" kommt vor, nebenbei ein Beleg dafür, daß die heutige Sensationsberichterstattung nicht unbedingt einen Verfall darstellt. Während des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts spielt die Verschwörungstheorie weiter ihre Rolle, und noch die Nationalsozialisten weideten sie aus: Alfred Rosenberg bezeichnete Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als verkappte Illuminaten.

All dies scheint auf den ersten Blick weit weg von unseren heutigen Problemen zu liegen. Die Scientologen setzen nicht - wie die Illuminaten - am Sozialen an, sondern an der Psyche. Es geht weniger um Menschheitsrettung denn um Selbsterlösung. Und von Naivität kann keine Rede sein, vielmehr stellt sich eher die Frage, inwieweit die weltanschaulichen Programme nicht bloß der Profitmaximierung eines Wirtschaftsunternehmens untergeordnet sind. Wenn wir die Mitgliederzahlen und Werbestrategien betrachten, setzt ohnehin jeder Vergleich aus.

Aber spätestens bei der Programmatik selbst und auch bei manchen Zügen des Aufbaus stoßen wir eben doch auf deutliche Parallelen.

Dazu gehört zuerst der Anspruch auf endgültiges Wissen. Jeder Selbstdefiniton der Scientologen liegt die Inaussichtstellung grundlegender Wahrheiten in Verbindung mit dem Versprechen auf Befreiung und Erlösung zugrunde. Vom Angebot einer anwendbaren und funktionierenden Wahrheit ist die Bezeichnung Scientology direkt abgeleitet. Schon die frühere Fassung der Lehre (als sogenannte Dianetik) spielte auf die Einübung eines perfekten Verstandesgebrauchs, auf die Freisetzung der wahren geistigen Kräfte eines jeden einzelnen an, wozu der Anschluß an die Psychotherapie gehört, deren Methoden im sogenannten "Auditing" auftauchen - in verballhornter Form, versteht sich.

All dies wiederum ist eingebunden in einen Weg des Aufstiegs, der den Adepten auf sichere Weise ans Ziel zu bringen verspricht. Er führt vom Persönlichkeitstest zunächst zum "Clear", der seine bislang undurchschauten geistigen Sperren ("Engramme") abzubauen lernt. Weisheitsgut aller Religionen und aller Zeiten sorgen für einen weiteren Aufstieg zum "operierenden Thetan", der sein Geistwesen hin und wieder darin zeigt, daß er auch außerhalb des Körpers zu operieren versteht. Damit nicht genug, sind höhere Grade in Aussicht gestellt - bis zum Priester.

Übrigens könnte man den Mythos des Thetan - ein außerirdischer Fürst brachte die ersten Exemplare einst auf die Erde, um seine Bevölkerungsprobleme zu lösen - als nur in umgekehrter Zeitrichtung angelegtes Remake der Tempelritterlegende lesen.

Die moderne Welt wird die Geheimbünde nicht mehr los

Viele Versprechungen also, viel Anspruch auf Perfektion - und viel Verbrämung: taufähnliche Initiation und allerlei Zeremonien erinnern ebenfalls an die Praxis der Geheimbünde. Eine Diskussion en détail dürfte freilich kaum lohnen. Zum Ausgangspunkt von Scientology gehört die Absetzung von jeder rationalen Diskussion, ja gerade darin zeigt sich die neue Glaubensgemeinschaft als Fortführung jener Alternative, die mit der Aufklärung von Anfang an verbunden war. Scientology ist so gesehen auch kein peinlicher Betriebsunfall, sondern Produkt der Moderne - einer Moderne, die nicht nur Segnungen bietet, sondern ebenfalls enorme Belastungen.

Deshalb werden die Scientologen oder ähnliche Bünde vorläufig nicht aus der Welt verschwinden. Wer glauben sollte, daß die Moderne ihr Ziel erreicht habe, hat am Erfolg von Scientology - nicht zuletzt im Internet! - ein Indiz dafür, daß die Rechnungen nicht beglichen sind.

Geheime Bünde sind der Schatten, den die moderne Welt nicht los wird. Doch sie waren auch niemals gefährlicher als ein Schatten: ein schwarzes Abbild, störend vielleicht, nicht zu greifen - aber ohne Wirkung.
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Karl-Heinz Göttert lehrt am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln

(C) DIE ZEIT 07.05.1998 Nr.20
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Vergleiche auch: "Braune Esoterik" (KH)
Außerdem: "Psychotrip eines Hackers" - Die Geschichte zum Film "23"
Es empfiehlt sich auch den Roman von
Umberto Eco, "Das Foucaultsche Pendel", zu lesen.
Ein weiterer Lesetipp ist:
Lawrence Norfolk, Lemprière’s Wörterbuch. (KH)