Ferenc Fehér

Paria und Citizen

Zu Hannah Arendts politischem Denken 1


Aus dem Amerikanischen von Boris Blaha


Copyright (c) 1995 by Ferenc Fehér, all rights reserved. Dieser Text darf gelesen und verteilt werden, er darf archiviert und in elektronischer Form weiterverteilt werden, vorausgesetzt, er wird nicht verändert und nicht gegen Gebühr verkauft. Eine Archivierung, Weitervertreibung oder Neupublikation dieses Textes in veränderter Form oder einem anderen Medium bedarf der Zustimmunng des Autors.

Als Hannah Arendt Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft der Öffentlichkeit übergab, wurde das Buch mit allgemeiner Zustimmung aufgenommen. Der Kritik entging jedoch in jener Stimmung die wahrhaft staunenswerte Struktur des Werkes.2 Anstatt ihre Untersuchung mit den üblichen weitschweifigen Verallgemeinerungen zu beginnen, verwendete Hannah Arendt das erste Viertel ihres Buches darauf, gewissenhaft und detailliert die Chronik der jüdischen Emanzipation zu erzählen. Sie beginnt mit der Entfaltung des politischen Antisemitismus in minutiae. Aber gerade diese eigentümliche Struktur gewährt uns einen tiefen Einblick in ihre außergewöhnliche Denkweise. Die Geschichte des Totalitarismus beginnt mit der Geschichte des Parias, also mit der `Ausnahme´, mit dem `politisch Un- Normalen´. Von hier aus erläutert sie den `Rest´ der Gesellschaft, anstatt den umgekehrten Weg zu nehmen. Der Bedeutungsumfang des Paria-Begriffs weitet sich sowohl in diesem Buch als auch in Hannah Arendts anderen Schriften erheblich aus. Zunächst Paradigma für die Juden schließt der Begriff dann auch die Eingeborenen der Kolonien und die zahllosen Millionen von `Staatenlosen´ mit ein. Er eignet sich für das Verständnis der wahren Natur von Nationalstaaten weitaus besser als deren feierliche Erklärung der Bürger- Rechte. Er ermöglicht uns auch das Verständnis der Sklaven der Vor- Bürgerkriegsperiode und ihrer gesellschaftlich unemanzipierten Nachkommen der Nach-Bürgerkriegsperiode in den Vereinigten Staaten. Hannah Arendt vertrat sogar die Ansicht, daß die gesamte Bevölkerung Deutschlands zum Paria-Volk Europas geworden wäre, wenn sich die absurden Pläne für die Neuordnung des besiegten Deutschlands durchgesetzt hätten. Ungeachtet der allgemeineren Anwendung des Begriffs bleiben die Juden für Hannah Arendt das paradigmatische Beispiel des Parias. Gershom Scholem hielt diesen Begriff für unangemessen, denn er hörte zu Recht in Max Webers berühmter Analyse des jüdischen Parias, die Hannah Arendt als Hauptquelle ihrer Untersuchung diente, den herablassenden Ton heraus. Zwar gab sich Max Webers Morphologie des Parias den Anschein von Objektivität, aber er hatte natürlich Nietzsches Mythos der `Religion des Ressentiments´, die den Erfolglosen eigen sei, völlig internalisiert. Wäre Hannah Arendt mit diesem Vorwurf konfrontiert worden, sie würde gewiß ebensowenig Reue gezeigt haben wie angesichts der Vorhaltungen von Gershom Scholem im Fall Eichmann. Ihr Denken ist in einem bewundernswerten Maße frei von sentimentalen Neigungen. Für das Verständnis einer politischen Lösung des Paria-Schicksals tragen Liebe und Mitleid nämlich nichts bei; solche Sentimentalitäten behindern eher eine intellektuelle Reflexion. Viel wichtiger ist, daß sie von Max Weber nur eine denkerische Einsicht entlehnt: das Fehlen eines politischen Gemeinwesens in der langen Geschichte des jüdischen Parias in der Diaspora. Dies führte zu einem Mangel an politischem Selbstbewußtsein und (bis es bereits zu spät war) zu einem allgemeinen Desinteresse an den politischen Angelegenheiten ihrer Umgebung. Hannah Arendt hält religiösen Mystizismus für Pseudo-Politik; sie bezieht sich dabei auf die Pionierarbeit von Gershom Scholem zur Sabbatai Zevi Bewegung. Nach ihrem Urteil handelte es sich dabei nur um eine Ersatzhandlung, die erst nach dem Fiasko der Bewegung auftauchte, eine Geste, die mißlungene politische Leidenschaften in Messianismus ausagierte. (Es sollte in Parenthese erwähnt werden, daß Hannah Arendt paradoxerweise offenbar mit der vorausgegangenen Katastrophe nicht sonderlich vertraut war, welche die Sabbatai Zevi Bewegung ausgelöst hat, und deren klassisches Portrait der große jüdische Autor Isaak B. Singer gezeichnet hat. Wir denken dabei an den ersten Holocaust der Ostjuden, den sie unter Bogdan Khmelnitskys haidamaks erleiden mußten, ein Ereignis, das die sozialen und politischen Bedingungen der Paria-Existenz besonders deutlich machte.) In Hannah Arendts Darstellung erscheint der Webersche Paria, der Mensch des Ressentiments als ein Rebell. Aus einem ursprünglich mystischem Streben wird allmählich eine diesseitige Strategie, aus einer religiösen oder ethnischen Gemeinschaft wird, wenn auch nicht notwendigerweise im Rahmen eines Nationalstaates, ein Volk oder ein politisches Gemeinwesen. Wenn der Paria ein Rebell ist, - so argumentiert Hannah Arendt polemisch gegen den Mainstream der Aufklärung - dann handelt es sich bei seiner Emanzipation nicht um eine `gesellschaftliche´. Eine bloß gesellschaftliche Emanzipation bringt lediglich einen Parvenü hervor, der gesellschaftliches Ansehen mit der politischen Exkommunizierung und den politischen Einfluß mit der gesellschaftlichen Exkommunizierung bezahlt. Eine genuin `menschliche´ Emanzipation, mit der noch Marx in Der Judenfrage zufrieden war, gibt es nicht. Denn eine `menschliche´ Emanzipation - die weder politisch noch gesellschaftlich wäre - würde lediglich ein Wesen ohne politisches Dasein hervorbringen. Emanzipation muß politisch sein und muß folglich ein politisches Gemeinwesen aufbauen und ein Volk konstituieren, obwohl dies, um es noch einmal zu wiederholen, nicht notwendigerweise im Rahmen eines Nationalstaates geschehen muß.

Hannah Arendt unterscheidet vier Wege, die vermeintlich zur Emanzipation des Parias führen und alle vier gehen nach ihrer Ansicht gänzlich in die Irre. Es sind dies: der `organische´, der `existenzialistische´, der einer `willentlich vollzogenen Emanzipation´ und der Weg zur Emanzipation durch einen `erlösenden Akt´. Der organische Versuch einer Selbst-Emanzipation kann ein einziger individueller Akt ohne weitere Konsequenzen sein, eine plötzliche `befreiende Bewegung´ einer inneren Selbst-Erleuchtung, die keinen Einfluß auf jemandes Lebensstrategie hat. Etwas derartiges geschieht z.B. in dem Moment, wo ein assimilierter Jude in einer Zeit der Prüfung der jüdischen Gemeinschaft (testing period)* plötzlich erkennt, daß es da etwas in seinem/ihrem emotionalen Haushalt gibt, was das Leben nicht mehr lebenswert machen würde, wenn die jüdische Gemeinschaft, der er/sie bewußt niemals angehört hat, zu Grunde gehen würde. Oder aber jene `befreiende Bewegung´ äußert sich urplötzlich in der kollektiven Erfahrung einer `angeborenen Affinität´, was nur zu einem neuen Nationalismus führt. Ein solches Resultat ist in ihren Augen von eher zweifelhaftem Wert, weshalb Hannah Arendt gegenüber dem Mainstream des Zionismus auf kritische Distanz geht.

Der existenzialistische Weg läßt sich wohl am besten an Sartres berühmter These aufzeigen. Ihre pointierteste Fassung findet sich in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde. Die Selbst-Emanzipation des Eingeborenen wird dort im Begriff einer `therapeutischen´ Gewalt vorgestellt. Hannah Arendt bezieht hier eindeutig Stellung. Sie verabscheut Sartres These der `Radikalisierung des Bösen´, seine Empfehlung, der Eingeborene solle sich selbst wählen, indem er die anderen vernichtet. Eine derartige Glorifizierung der Gewalt qua `Selbst-Therapie´ werde unweigerlich in der Unfreiheit enden. Der dritte Weg kommt der tatsächlichen Situation am nächsten. Auf diesem Schauplatz erscheint der politische Paria, der sich selbst als Paria will. Dieser Willensakt wandelt seine Paria-Existenz in Freiheit um. Hannah Arendt zitiert Lafayettes Diktum: `Wenn eine Nation sich selbst will, ist sie bereits eine Nation´ und sie begreift diesen Weg als letzten Rest einer christlichen Politik, deren zentraler Begriff ja gerade der Wille ist. Mit großem Scharfsinn entdeckte sie die Spuren einer christlichen Politik in Rousseaus Begriff des allgemeinen Willens, ein Begriff, der zur Allegorie wurde, und, was sich noch fataler auswirkte, der durch Rousseaus bedeutendsten und gelehrigsten Schüler (wir meinen natürlich Robespierre) im Kult des höchsten Wesens zur Institution erhoben wurde. Vollends brachten ihre historischen Studien und ihre philosophischen Neigungen Hannah Arendt zu der Überzeugung, daß eine Politik der Erlösung keine adäquate Antwort auf die Unfreiheit des Parias sein könne und dies nicht nur ihres illusionären Charakters wegen. Weit gefährlicher noch, eine solche Antwort würde die Unfreiheit im Namen der Emanzipation verewigen.

Im Verständnis Hannah Arendts erwächst aus den genuin emanzipatorischen politischen Handlungen des Parias unvermeidlich ein Konflikt zwischen den Prinzipien der Freiheit und denen des Lebens. Der Konflikt zwischen diesen Prinzipien hat eine sehr positive und eine äußerst problematische Seite. Wenn die Sache des Parias überall siegreich sein soll, müßte die `menschliche Bedingtheit´ in der Moderne eine politische Freiheit sein, die auf den Menschenrechten basiert, wenn auch nicht in einem Sinn, den der Begriff einer `einheitlichen Menschheit´ implizieren würde. Das bedeutet, man müßte die christliche oder pseudo-christliche `Politik des Lebens´, die ja zugleich eine Politik der Bedürfnisse und der Notwendigkeiten und nicht eine der Freiheit ist, in den Hintergrund drängen. Andernfalls würden wir uns dem globalen Sieg des `totalitären Syndroms´ ausliefern, was zu einer Paria-Existenz für alle Menschen führen würde. Hannah Arendts leidenschaftliches Pathos für die Freiheit und gegen das Leben ist kein Anzeichen von Hysterie. Ausdrücklich lehnt sie den sogenannten `Masada Komplex´ ab und sieht im Aufruf zu einem heroischen kollektiven Selbstmord ein Symptom politischer Pathologie. Es kommt hinzu, daß ihre emphatische Betonung der Freiheit, mit der wir völlig übereinstimmen, auf einen weit höheren Typus des Politischen zielt, als das, was wir heute unter `korporatistischen´ Gesellschaften verstehen.

Wenn wir Hannah Arendts leidenschaftliches und nicht bloß theatralisches Plädoyer für Freiheit und Freiheiten mit Raymond Arons skeptischer Auffassung der gemeinsamen `menschlichen Natur´ vergleichen, die angeblich dem oligarchischen Pluralismus des Westens wie dem sowjetischen Totalitarismus im selben Ausmaß und derselben Form zugrunde liegt; wenn wir Hannah Arendts Denken weiterhin mit dem politischen Denken vergleichen, dessen vorherrschender Wert Gleichheit und nicht Freiheit ist, und dessen Hauptanliegen das `Leben´ und folglich die Förderung des Wachstums und die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse ist, dann tritt die Einzigartigkeit und Außerordentlichkeit der Würde, die sie der menschlichen Freiheit zuweist, deutlich zutage. Aus diesem Konflikt zwischen Freiheit und Leben entstehen aber auch die Probleme in Hannah Arendts Trennung des `Gesellschaftlichen´ vom `Politischen´, auf die ihre Kritiker hingewiesen haben. Wir werden darauf zurückkommen....

II

Jeder, der mit Hannah Arendts Bewunderung der antiken Polis vertraut ist, wird unmittelbar verstehen, daß die folgenden Worte aus Vita Activa mehr bedeuten als lediglich eine historische Charakterisierung; sie haben programmatische Bedeutung: „Für die Antike war entscheidend, daß alles Private ein nur Privates ist, daß man in ihm, wie schon das Wort anzeigt, in einem Zustand der Beraubung lebte, und zwar beraubt der höchsten Möglichkeiten und der menschlichsten Fähigkeiten. Wer nichts kannte als die private Seite des Lebens, wer wie der Sklave keinen Zutritt zum Öffentlichen hatte oder wie die Barbaren ein allen gemeinsames Öffentliches gar nicht erst etabliert hatte, war nicht eigentlich ein Mensch.“ 3 Unser Mündig-Werden, unser Menschlich-Werden geschieht zeitgleich mit der Einrichtung der freien Institution einer Republik. In ihrem ganzen Werk hat Hannah Arendt als entschiedene Gegnerin der Naturrechtslehre immer wieder darauf insistiert, daß Freiheit (sowohl im Sinn der `Freiheiten´ als auch der `Freiheit´ bzw. im Sinn der `negativen´ und `positiven´ Freiheit) niemals `natürlich´ ist. Sie hat uns auf den entscheidenden Unterschied zwischen der französischen und der griechisch-amerikanischen Tradition aufmerksam gemacht. Während die eine in ihrer Menschenrechtserklärung von dem Menschen spricht, der frei geboren ist, behauptet die andere, mehr durch ihren `Geist´ als durch den Buchstaben der Verfassungstexte, daß wir weder frei noch unfrei geboren sind, aber unsere Freiheit in und durch die Institutionen der Republik schaffen und einrichten.

Wir können Hannah Arendts zentralen Begriff der `revolutionären Tradition´ und ihr beständiges Interesse daran nur im Lichte ihrer nicht-natürlichen Vorstellung von Freiheit verstehen. In ihrem Verständnis muß Freiheit geschaffen und in außergewöhnlichen Zeiten wieder neu geschaffen werden. Wären Freiheit und Freiheiten lediglich natürliche Ausstattungen des menschlichen Daseins, so wäre es völlig unmöglich, das Ereignis von Revolutionen zu verstehen. Wir könnten gar nicht verstehen, weshalb sie Freiheit bis zu dem Maße ermöglichen, in dem sie in ihnen wiedergeschaffen wird, und vor allem könnten wir nicht verstehen, weshalb sich Revolutionen in besonderen Perioden ereignen. Wie man sich denken kann, gibt es für Hannah Arendt keine kausale Erklärung von Revolutionen, denn Freiheit hat niemals einen `zureichenden Grund´ und kann niemals von einem äußeren Ereignis her vollständig deduziert werden. Ein evolutionäres oder Hegelsches Verständnis von Universalgeschichte als Prozeß, der von der Entfaltung historischer `Gesetzmäßigkeiten´ beherrscht wird, lehnt sie kategorisch ab. Diese beiden negativen und kritischen Thesen bilden die Prämissen ihrer ambivalenten Kampagne gegen Marx. Hannah Arendts Kritik an Marx scheint uns zweideutig zu sein. Einerseits wirft sie ihm vor, durch seine Politisierung der Ökonomie und durch seine Einführung der `sozialen Frage´ in das Problem der Freiheit die Zentralität der Freiheit preisgegeben zu haben, denn Freiheit kann nur Zweck an sich selbst sein. Dieser Vorwurf ist selbstverständlich irreführend, denn wir halten auch die soziale Frage für eine substanzielle Frage. Marx ist Zeit seines Lebens ein Philosoph der Freiheit geblieben, sogar in einem Ausmaß, das Hannah Arendt nicht akzeptiert hätte. Er haßte Autoritäten jeder Art so sehr, daß er den Staat zusammen mit allen Göttern abschaffen wollte. Andererseits weist Hannah Arendt zu Recht auf jenes spezifische Merkmal hin, das der Marxschen Theorie einen so irreführenden Anstrich und eine so täuschende Erklärungskraft verleiht. Marx, der größte Hegelianer hat fest an den evolutionären und prozessualen Charakter der Weltgeschichte geglaubt, die nach historischen `Gesetzen´ verlaufe.

Hannah Arendt, eine Anti-Hegelianerin, bevorzugte eine weniger überzeugende Erklärung der historischen Entwicklung und hat so eine große Zahl von relevanten Fragen offengelassen. Gerade ihre Konzeption einer `revolutionären Tradition´ gibt uns einen wesentlichen Schlüssel für das Verstehen der Moderne, der noch viel überzeugender hätte sein können, wenn sie das `Gesellschaftliche´ und das `Politische´ miteinander verbunden hätte, anstatt es strikt voneinander zu trennen und es sogar einander entgegenzusetzen.

Revolution erscheint in ihrem Denken als ein modernes Phänomen par excellence, als etwas, das in früheren sozialen und politischen Unruhen völlig unbekannt war. Revolution bedeutet einen `Neu-Anfang´, d.h. die Menschen verbinden sich durch das öffentlich versprochene Ziel, der Freiheit eine Stätte zu geben. Revolution bedeutet den selbst-bewußten Akt einer Gründung.

Diese revolutionäre Tradition verzweigt sich in drei Linien. Das spektakulärste Ereignis dieser Tradition, die Französische Revolution, hat in der Tat ein äußerst problematisches, wenn nicht gar verhängnisvolles `Muster´ eingeführt: die `Vergesellschaftung´ der Sache der politischen Freiheit. Wobei sowohl die gesellschaftliche Befreiung (Hannah Arendt wäre natürlich bei diesem Begriff äußert skeptisch) als auch die politische Freiheit eine Niederlage erlitten haben, deren Echo noch oft in der folgenden Geschichte zu hören war. Es kommt hinzu, daß die falsche Tradition überlebt hat und viele Nachfolger und Nachahmer angezogen hat. Selbst wenn jedoch aus diesem Zweig der Tradition nicht unmittelbar ein vor-totalitäres System hervorgegangen ist, das Ergebnis war im besten Fall eine Demokratie und keine Republik. Der amerikanische Zweig der `revolutionären Tradition´ stand unter einem günstigeren Stern. In der amerikanischen Revolution brachten deren `gründende Väter´** etwas bis dahin völlig Unbekanntes zustande; sie etablierten mit ihrem hingebungsvollen Werk die bislang vollendetste Ge- staltung der politischen Freiheit. Das amerikanische Beispiel blieb jedoch aus Gründen, die bei Hannah Arendt nur unzureichend behandelt werden, ohne Nachfolger. Überdies wurde das größte der revolutionären Versprechen, eine Republik, die auf allen Ebenen der Gesellschaft und der Tätigkeiten Tag für Tag die Freiheit aktualisiert, auch im amerikanischen Experiment nicht erfüllt. Eine wenn auch unvollständige Schließung dieser Lücke kann man vom dritten, dem sozusagen untergründigen Zweig der `revolutionären Tradition´ erwarten: den zumeist anonymen und kollektiven Kämpfen für direkte Demokratie. Das angeblich partizipatorische System, das in den Pariser Sektionen 1793-94 vorherrschte, die Pariser Kommune 1871, die russischen revolutionären Sowjets von 1905 und 1917 und schließlich die ungarische Revolution von 1956, deren historische Größe und Weisheit Hannah Arendt zeitlebens bewundert hat, sind die wichtigsten Stationen auf diesem langen und noch nicht abgeschlossenen Weg. Die historische Gelegenheit, in der das anfängliche Versprechen seine Erfüllung finden kann, steht noch aus. Ist jedoch dieser untergründige Trend, der sowohl von Revolutionen wie von Konterrevolutionen mißbraucht und unterdrückt wurde, einmal vollendet, wird daraus die höchste Form einer freien Republik entstehen.

Hannah Arendts scharfe Unterscheidung zwischen Demokratie und Republik bleibt eine ihrer bemerkenswertesten Einsichten, auch wenn gerade in jüngster Zeit die Vorstellung einer `republikanischen Tadition´ vor allem durch die Aufmerksamkeit, die kürzlich publizierte Neuinterpretationen von Machiavelli*** erregt haben, in unserem politischen Denken wieder Raum gewinnen konnte. Das wird besonders deutlich, wenn wir bedenken, was dieser Unterschied nicht bedeutet. Er bezieht sich z.B. nicht auf die technische Bedeutung des Begriffs `Demokratie´: Für Hannah Arendt sind sowohl die britische Monarchie als auch die französische Republik Demokratien. Zum zweiten betrifft der Unterschied zwischen `Republik´ und `Demokratie´ nicht das zentrale Dilemma einer dem liberalen Denken verpflichteten Theorie: die Differenz zwischen positiver und negativer Freiheit. Hannah Arendt betrachtet jede rein negative Freiheit zwangsläufig als eine bloße Übergangsphase der `Befreiung´, die entweder zur Errichtung der Freiheit in einer positiveren Form oder zur Tyrannei führen muß. Außerdem sollte man nach ihrem Verständnis weder Republik noch Demokratie mit Hilfe jener Begrifflichkeit auffassen, die Tocqueville seiner Beurteilung der amerikanischen Demokratie zugrunde gelegt hat. In deren Zentrum findet sich nämlich der Schlüsselbegriff der `Gleichheit´. (Auch Raymond Arons gesamte Theorie baut darauf auf). So weit es um die Zentralität der Freiheit geht, ist Hannah Arendts Republikanismus in der Tat kompromißlos. Die Unterschiede, die ein - wenn auch problematisches - pluralistisches System von einem totalitären trennen, können also nicht auf bloße Differenzen reduziert werden, die sich daran orientieren, in welchem Maße die Staats-Verwaltung schon in die Gesellschaft eingreift, wie es z.B. in Arons Theorie der Fall ist.

Schließlich verkörpert die Alternative `Republik´ oder `Demokratie´ die genaue Umkehrung der bekannten Positionen von Montesquieu und Rousseau. Letzterer plädiert eindeutig für die Demokratie und nicht für die Republik und für beide, speziell aber Rousseau, scheint ein demokratisches System nur in einem kleinen und tugendhaften politischen Körper realisierbar zu sein. Was also sind die Merkmale der Demokratie, die Hannah Arendts Mißtrauen erregen?
Hannah Arendt nennt als erstes die Vorherrschaft des Konsenses (oder besser die Vorherrschaft all dessen, was zum Konsens führt oder dahin tendiert) und beurteilt eine solche Zielsetzung als unvermeidbar tyrannisch. Meinungen sind alles andere als übereinstimmend, und in einem freien politischen Gemeinwesen sollten alle Meinungen eine öffentlich vernehmbare Stimme haben.
Ein Konsens läßt sich zum zweiten nur durch ein Mehrheitsprinzip herstellen, das ein unterdrückendes Prinzip ist. Dieses darf nicht mit dem rein formalen Verfahren aller freien politischen Prozeduren in einer begrenzten Zeit verwechselt werden: Mehrheits-Entscheidung. Die Vorherrschaft der Mehrheit impliziert die Unterdrückung von Minderheiten, entweder in Gestalt einer systematischen gesellschaftlichen Diskriminierung oder in der Weise, daß eine abweichende Minderheit politisch zum Schweigen gebracht wird.
Sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis eines Konsenses kann drittens nur ein homogener Wille sein, jener ominöse Rousseau-Robespierresche Allgemeinwille, der den freien politischen Prozeß in ein System der Tyrannei und der organisierten Treibjagd umwandelt.
Viertens gründet sich die Demokratie auf Volkssouveränität, eine zwar scharfsinnige aber äußerst fragwürdige französische Institution. Im Verständnis von Hannah Arendt kommt das amerikanische System ihrem republikanischen Ideal bis heute am nächsten (worüber sich trefflich streiten ließe). Dort spielte der Begriff `Volkssouveränität´ einfach deshalb niemals eine Rolle, weil es in Amerika keine der Verfassung vorausgehende Souveränität gab. Es gab in den `britischen Kolonien´ intern freie politische Gemeinwesen, die nur noch äußerlich mit dem Mutterland zusammenhingen.
Ganz anders dagegen Frankreich. Die Konstitution des neuen politischen Systems um die Schlüsselbegriffe Volk und Nation herum war so angelegt, daß diese an die Stelle der bestehenden absoluten Souveränität treten sollten. Dadurch wurden schon zu Beginn wesentliche und unlösbare Komplikationen in das neu konstituierte französische politische Leben mit übernommen. Trotz der Tatsache, daß der Begriff `Souveränität´ tatsächlich in den von den amerikanischen `gündenden Vätern´ unterzeichneten Dokumenten fehlt, halten wir diese Einschätzung in zweierlei Hinsicht für falsch. Selbstverständlich gab es einen Souverän, gegen den sich der neue amerikanische politische Körper konstituierte, nämlich den britischen. Desweiteren bedeutet die Idee der Volkssouveränität nicht nur eine Sicherheit gegen den König, sondern auch gegen eine potentiell unterdrückende Regierung der vom Volk selbst gewählten Repräsentanten. Folglich läßt sich das Prinzip der Volkssouveränität ebensogut auf das amerikanische politische System anwenden. Es kommt hinzu, daß die mögliche oder wirkliche Gefahr einer `Korruption der Republik´ auch in Hannah Arendts eigener Theorie stets gegenwärtig ist. Sie leugnet nicht, daß selbst die am besten verfaßte Republik, die amerikanische (von den `bloßen Demokratien´ ganz zu schweigen) zu einer Oligarchie degeneriert ist, in der die sogenannte `politische Elite´ herrscht und das `Volk´ seine Freiheit nur jeweils am Wahltag praktiziert. Im Ergebnis hat sich Regierung in Verwaltung umgewandelt. Wegen der Anonymität der Entscheidungen und dem Fehlen jeglicher persönlicher Verantwortlichkeit bezeichnet Hannah Arendt diese pervertierte Regierungsform als `Herrschaft von Niemand´. Dies zugestanden, behält der Begriff `Volkssouveränität´ seine Stichhaltigkeit und Bedeutung und dient als Ausgangspunkt für all jene, die dennoch kritisch bleiben.
Das letzte Merkmal der Demokratie, an dem sich Hannah Arendts Mißtrauen entzündet, betrifft den Charakter der Macht. In einer `Demokratie´ nämlich wird die Macht vollkommen anders gehandhabt als in einer `Republik´. In einer Demokratie besteht die Macht in nichts anderem als dem Gewaltmonopol des Staates. Hannah Arendt lehnt diese Webersche Konzeption kategorisch ab und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die außerordentlich merkwürdige Übereinstimmung zwischen Weber und Trotzki in diesem Punkt. In einer Republik dagegen bedeutet Macht Partizipation. Man kann die unterschiedlichen Konzeptionen von Macht am besten verdeutlichen, indem man sich die zugrundeliegenden spezifischen Theorien von `Gesellschafts-Vertrag´ und `Bund´**** genauer ansieht. Wenn wir in der Tradition der Bundes-Vorstellungen einmal jenen besonderen Typus von `Vertrag´ beiseite lassen, der in Hannah Arendts Sicht für eine Theokratie typisch ist, verbleiben zwei unterschiedliche theoretische Versionen von `Gesellschafts-Vertrag´ und `Bund´. In der ersten Version wird der Gesellschaftsvertrag zwischen individuellen Personen geschlossen; er gründet sich auf gegenseitiges Übereinkommen (Versprechen) und Gleichheit; der `Bund´ errichtet eine `Sozietät´ im römischen Sinn einer societas, (d.h. ein Gemeinwesen oder eine Vereinigung). Diese Version eines Vertrages kennt keine Unterscheidung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Dieser Bund wird ausdrücklich und willentlich geschlossen. Er gilt als Voraussetzung. Die zweite Version geht davon aus, daß bereits ein Vertrag zwischen der Bevölkerung und der `gegebenen´ (prä-existenten) Herrschaftsordnung geschlossen ist, und daß der Vertrag eine legitime Regierung etabliert. Hier wird ein stillschweigendes Bündnis vorausgesetzt, das folglich von den Herrschenden frei interpretiert werden kann. Der erste Typus gehört bei Hannah Arendt zur Republik (auch das amerikanische Modell), der zweite zur Demokratie. Sie fügt hinzu, daß sogar jener Teil der Vertragstheorie, der gewöhnlich und nicht zu unrecht für einen Mythos gehalten wird, nämlich der legendäre anfängliche Gründungsakt einer societas im Fall der Vereinigten Staaten zur historischen Realität geworden ist.
Und schließlich hat die Gründung, `der erste anfängliche historische Akt´ immer mehr als nur symbolische Bedeutsamkeit für die Republik. Die grundlegenden Prinzipien `der Republik´ beziehen ihre anhaltende Gültigkeit vom Akt der Gründung. Gerade die anhaltende Qualität (von Traditionen, Institutionen, Gesetzen) markiert für Hannah Arendt eines der Unterscheidungsmerkmale einer Republik, ganz im Gegensatz zu dem sorglosen Geist des ständigen Wechsels, der in Demokratien so typisch ist. Diese folgen mit ihren unaufhörlichen Revisionen aller Gesetze und Prinzipien den ewig wandelnden `Stimmungen der Massen´. Diese Schlußfolgerung läßt in Hannah Arendts wirklich radikalem Denken der Republik einen gewissen konservativen Ton anklingen. Sie wiederholt damit Jeffersons anfängliches Dilemma, ohne allerdings darauf eine Antwort geben zu können. Jefferson hatte sich mit der Frage beschäftigt, ob nicht ein freies Volk auch die Freiheit haben sollte, die grundlegende Verfassung zu revidieren, wann immer es sich das wünscht? Würde aber auf der anderen Seite eine ständige Revision der Verfassung nicht zu einer selbst-verschuldeten Entwertung eben dieser Verfassung führen?
Es sollte genügend deutlich geworden sein, daß die Dichotomie `Demokratie-Republik´ nicht in Hannah Arendts begrifflichem Rahmen der zwei unterschiedlichen Ordnungen von bestehenden oder `wünschenswerten´ Institutionen aufgeht. Vielmehr nimmt sie Republik als regulative theoretische Idee eines freien Gemeinwesens im Sinne Kants, dergegenüber moderne Demokratien nur als äußerst unvollendete Verwirklichungen erscheinen. Regulative theoretische Ideen sind per definitonem niemals realisierbar, sie müssen vom Himmel der Theorie auf die Erde unserer politischen Kämpfe herabsteigen. Der Handelnde, in dem dieser Fall sich verkörpert und durch den er realisiert wird, ist der Citizen. Als leidenschaftliche und oft voreingenommene Kritikerin von Marx hält Hannah Arendt gleichwohl die Marxsche Dichotomie von `Citoyen versus Bourgeois´ (citizen/citoyen versus bourgeois) voll aufrecht. Sie sieht im Sieg des Bourgeois (der konkurrierenden Privat-Person) über den Citoyen die zentrale Katastrophe, die über den politischen Menschen im 19. Jahrhundert hereingebrochen ist. Dieser katastrophale Sieg bereitet in der Tat den Schauplatz für den Triumph des `totalitären Syndroms´.

III

Die Unterscheidung zwischen dem `Gesellschaftlichen´ und dem `Politischen´ hat für Hannah Arendts Denken eine ganz präzise Bedeutung. Sie findet sich in ihrem ganzen Werk, am ausgeprägtesten aber in Vita Activa. In der antiken Erfahrung war das Soziale gleichbedeutend mit der Welt der Lebensnotwendigkeiten, der Bedürfnisse. Der eigentliche Schauplatz dieser Welt war das eigene Haus; sein größter Denker wurde Aristoteles, der klassische Autor einer un-politischen Ökonomie. Die auf das eigene Haus begrenzte Welt der Lebensnotwendigkeiten galt seinerzeit als vor-politische Welt. Wer durch das `Unglück´ der Geburt oder durch äußere Umstände gezwungen war, auf ewig dort zu sein. galt als Paria, nicht als Citizen, er galt als jemand, der nicht voll und ganz Mensch sein konnte. Von dem, der Polis- Bürger werden wollte, erwartete man, daß er die von den Lebens- notwendigkeiten diktierten Probleme erledigt hatte. Dies war die Vorbedingung, um des Politischen teilhaftig zu werden, d.h. um im wahrsten Sinne Mensch zu werden. Das Soziale blieb demnach untrennbar mit dem Privaten verschmolzen, oder genauer, die Trennung stand noch bevor. Der zweifelhafte Fortschritt der Moderne besteht in der räumlichen und zeitlichen Abtrennung des `Sozialen´ - der Welt der Lebensnotwendigkeiten - von seinem ursprünglichen und eigentlichen Reich, dem Privaten. Dieser `Fortschritt´ der modernen Verknüpfung von technologischer Innovation und Arbeitsteilung führte zur Umwandlung einer Sorge, die sich in der Antike auf den privaten Haushalt bezog, in die allgemeine Sorge der `Gesellschaft´ und letztendlich in eine `Vergesellschaftung des Politischen´. Hannah Arendt kennzeichnet damit einen Politik-Typus, dessen hauptsächliche und immer ausschließlichere Sorge das `soziale Problem´ ist, und der sich nicht um die freie Selbstregierung kümmert, die ein Zweck an sich selbst ist. Anders gesagt, die ökonomischen Probleme werden zu öffentlichen politischen Angelegenheiten erhoben.
Aus diesem Wandel heraus entsteht eine neue Wissenschaft, die politische Ökonomie, deren größter philosophischer Vertreter immer noch Marx ist. Als er die Produktivkraft zum Inbegriff des menschlichen `Gattungswesens´ erhob, führte Marx nicht etwa die Zentralität des Sozialen in das Politische neu ein, wodurch er in gefährlicher Weise das Prinzip der politischen Freiheit substanzialisierte. Er brachte ganz einfach mit der unbeirrbaren Einsicht seines philosophischen Genies konsequent die Verschiebungen zum Ausdruck, die in der Moderne zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen stattgefunden hatten. Dadurch habe er, so Hannah Arendt, das freie Handeln zu einem Mittel degradiert.

Während dieser Transformation ereignete sich ein Bedeutungswandel im Begriff des `Eigentums´. Hannah Arendt macht darauf aufmerksam, daß Eigentum ursprünglich und primär nicht mit Vermögen verknüpft worden ist. Zumindest im antiken Griechenland stand das Eigentum in Bezug zur Partizipation: ein Hauseigentümer erlangte das Recht am politischen Leben der Stadt teilzunehmen. Die Gleichsetzung von Eigentum und Vermögen ist erst eine Erfindung der Moderne, mit all den Nebenerscheinungen, die der Kult von Produktion und Wachstum mit sich bringt. Eine `vergesellschaftete Politik´ operiert mit Hegels Dichotomie von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Implizit aber dennoch kategorisch lehnt Hannah Arendt diese Dichotomie ab. Sie hält sie für eine falsche Verewigung einer Situation, die freies politisches Handeln schwer beeinträchtigt.
Diese zweifelhaften Fortschritte der Moderne werden letztendlich durch die freiheitszerstörende politische Tradition der Französischen Revolution noch mehr verfestigt. Die von Rousseaus Gestus des `Mitleids für die Elenden´ angeregten Jakobiner haben die `soziale Frage´ in die politische Sprache übersetzt. Um das `soziale Problem´ zu lösen, haben sie die Sache der Freiheit, nämlich freie Institutionen zu schaffen, fallengelassen und das wegen eines Problems, das durch eine Revolution nicht zu lösen ist, und das man besser in seinem eigentlichen Bereich, dem Haushalt, hätte angehen sollen. (Der letzte Teil der Einschätzung scheint uns reichlich absurd zu sein. Hannah Arendts eigene Theorie zählt die vergesellschaftete Produktion, Konsumption und Distribution, welche die ältere Ökonomie des Haushalts ersetzt, zu den charakteristischen Merkmalen der Moderne). Hier und jetzt wurde das `totalitäre Syndrom´ geboren. Das französische politische Theater, auf dessen Bühne das Elend zum alleinigen Spektakel und zur ausschließlichen politischen Streitsache wurde, hatte die russischen Revolutionäre weit mehr beeindruckt als die Texte von Marx. Hier lernten sie ihre grundlegenden - und verhängnisvollen - Lektionen von Rousseaus Schülern. Und selbst wenn die politischen Angelegenheiten nicht auf die Ebene des Totalitarismus herabsinken; sie bleiben in der Moderne an die Vorrangigkeit des `sozialen Reichs´ gekettet. Ein Wohlfahrts-Staat ist im Denken von Hannah Arendt ein Widerspruch in sich.

Die Unterscheidung zwischen dem `Gesellschaftlichen´ und dem `Politischen´ im Denken von Hannah Arendt hat auf den ersten Blick bei vielen ihrer Leser Anstoß erregt und wurde oft als elitäre Arroganz abgetan. Doch bevor wir uns auf eine solche Kritik einlassen, sollte man folgendes im Auge behalten. Daß Hannah Arendt dem sozialen Problem keine Relevanz für das Politische beimißt und es gelegentlich in den Bereich des Haushalts abschiebt, andererseits das ganze Problem ungelöst läßt, hat nichts damit zu tun, daß sie eine besondere Sympathie für den Kapitalismus hegen würde. Kapitalismus bedeutet für sie in erster Linie Enteignung, einen gewaltsamen Akt, durch den die Masse der Bauern ihres Eigentums und ihrer Freiheit beraubt wurde. Zweitens führt Kapitalismus allein schon durch seine Existenz und sein expansives Wesen zum Kolonialimperialismus. In den Kolonien wurden zum ersten Mal die rassistischen und prä-totalitären Regierungsmethoden des Kolonialismus erprobt. Hannah Arendts Einschätzung der freien Marktwirtschaft läßt sich nur als äußerst skeptisch bezeichnen. Sie meint, daß dieses Phänomen nur in den Vereinigten Staaten eine unzweifelhaft gute Sache sei. Jedenfalls lehnt sie alle Arten von Politik ab, die den Bereich ihres politischen Handelns unter den gemeinsamen Nenner der freien Marktwirtschaft bringen und das dann `freie Welt´ nennen.
Zu guter Letzt kritisiert sie explizit den Wachstumskult und die universelle Herrschaft der Konkurrenz des freien Marktes. Theorie und Praxis eines grenzenlosen Wachstums gefährden die Beziehung von Mensch und Natur. Lobend erwähnt Hannah Arendt die Kibuzim, eine gemeinschaftliche Lebensweise, die, obgleich sie ihrer privaten Natur so fremd waren, doch für sie einen neuen Typus von nicht-konkurrenzorientierter menschlicher Beziehung fördert.

Es gibt zwei typische Weisen, Hannah Arendts Trennung von Privatem, Gesellschaftlichem und Öffentlichem zu kritisieren. Da ist erstens der Typ des dogmatischen Liberalen; er glaubt, daß die Trichotomie falsch ist, keiner Realität entspricht und potentiell totalitär ist. Für ihn gibt es den öffentlich- politischen Bereich, den des Staates oder der Regierung mit ihren außen- und innenpolitischen Angelegenheiten: Diplomatie, Kriegführung, Strafverfolgung und ein Mindestmaß an organisierter Wohlfahrt. Der ökonomische Bereich hingegen sollte eigentlich und idealiter privat bleiben, ohne jede kollektive oder staatliche Einmischung. Nach dieser Auffassung ist oder sollte das `Soziale´ mit Ausnahme der Sozialgesetzgebung eine private Angelegenheit sein; d.h. eine Sache freier individueller Unternehmungen. Seit Karl Polanyi wissen wir, daß diese idyllische Auffassung von moderner Ökonomie und sozialen Belangen von nichts anderem herrührt als von dem Mythos eines sich-selbst- regulierenden Marktes. In keiner einzigen Periode der Moderne war das `Soziale´ (im Sinne des Ökonomischen, wenn auch nicht ausschließlich) sich selbst überlassen, eine angeblich selbst-regulierte Dynamik. Es wurde ständig sowohl vom Staat als auch von der öffentlichen Meinung kontrolliert, aufgehalten, abgebogen und überwacht.
Der andere Kritik-Typus ist radikal. Er läßt sich am besten anhand eines kürzlich erschienenen Textes von Richard Bernstein darstellen. Bernstein behauptet, die Trichotomie sollte auf eine Dichotomie zwischen dem Politischen und dem Privaten reduziert werden. Er hält die Einführung eines dritten Bereiches - des `Gesellschaftlichen´ - für methodisch irreführend und politisch gefährlich. Bernstein erkennt an, daß nicht alle Fragen politisch sind, denn das würde in der Tat zum Totalitarismus führen. Aber alle Fragen können politische werden. Er greift ein Beispiel auf, das Arendts Kritiker ihr seinerzeit auf einer Konferenz vorgehalten haben, nämlich die Wohnungsfrage. Für Hannah Arendt war das Problem `gesellschaftlich´, denn es gibt, so ihr Argument, heute einen Konsens darüber, daß jedem `annehmbare Wohnverhältnisse´ zustünden. Bernstein jedoch insistierte zu Recht darauf, daß das Problem nicht darin bestünde, ob es eine öffentliche Übereinstimmung über die abstrakten Prinzipien gebe, die Wohnungsfrage zu regeln. Das Problem liege vielmehr darin, auf welche Weise diese Übereinstimmung in praktische Resultate umgesetzt werden könne. In der Zeit nämlich, in der darüber öffentlich gestritten werde, sei die ganze Sache zu einer politischen geworden. Quod erat demonstrandum: In der Art, wie Hannah Arendt den Begriff verwende, könne es eine `gesellschaftliche´ Sache gar nicht geben. Bernsteins eigene Argumentation unterläuft jedoch sein Bestreben, die Trichotomie auf eine Dichotomie zu reduzieren, und er nähert sich, ohne es zu wollen, in einer modifizierten Weise wieder Arendts Konzeption an. Wenn es Angelegenheiten gebe, die zwar gegenwärtig nicht politisch seien, aber politische werden könnten (die demnach potentiell politische Angelegenheiten seien), dann gilt für ihn der Satz: „das `Gesellschaftliche´ existiert nicht“ nur dann, wenn die `potentiell politischen Angelegenheiten´ ausschließlich private Angelegenheiten sind. Folglich haben diese Angelegenheiten in Bernsteins Beispiel bereits ihren ausschließlich privaten Charakter in der Moderne verloren, denn allgemeine (im Sinne von gesellschaftlichen) Prinzipien werden selbst dann darauf angewandt, wenn es sich nur um deren privates Vorkommen handelt, d.h. wenn sie nicht als politische Angelegenheiten diskutiert werden. Die abstrakten Prinzipien wie z.B.: `Jeder hat Anspruch auf angemessenen Wohnraum´ deuten darauf hin, daß in der Moderne im deutlichen Unterschied zur antiken Welt gewisse öffentliche und allgemeine Prinzipien auf viele (aber natürlich nicht auf alle) private Angelegenheiten selbst dann bezogen werden, wenn sie noch gar nicht auf der Ebene einer privat-öffentlichen Diskussion aufgetaucht sind. Dieses `nicht länger nur privat´ und `noch nicht - oder für die Zeitgenossen noch nicht vollständig - politisch´ sondern `nur potentiell politisch´ konstituiert genau denjenigen Bereich, den Hannah Arendt den `gesellschaftlichen´ nennt. Mit ihrer Beurteilung dieses Bereichs stimmen wir allerdings nicht überein.

Wir werden im folgenden eine Kritik an Hannah Arendts Trichotomie versuchen, die ihren eigenen Ansprüchen gerecht wird. Im Sinne Arendts ist der Anspruch, von der Trichotomie zur Dichotomie zurückzukehren, indem man den sozio-ökonomischen Bereich an den Bereich des Hauses zurückbindet unter den Bedingungen der Moderne unmöglich. Es wäre regelrecht reaktionär, wenn man das direkt in die politische Sprache übersetzen würde. Es würde zur Selbstaufgabe des Citizen führen, jenes Protagonisten, der im Arendtschen politischen Denken im Mittelpunkt steht. In ihrer sehr originellen `Parallel- Biographie´ der amerikanischen und der französischen Revolution verortet Hannah Arendt die graduelle Lähmung der direkten Demokratie in der räumlichen Organisation der Städte, So ist z.B. der Raum einer Stadthalle nicht groß genug, um alle Stadtbürger aufzunehmen. Die `Eingrenzung des Raumes´ wurde in der Folge zum architektonischen Stil der `Townhalls´. Darin spiegelt und verdichtet sich das Prinzip der `begrenzten Anzahl´. Es gelang Hannah Arendt jedoch nicht, die viel wichtigeren zeitlichen Faktoren aufzugreifen, die in der französischen Revolution zum Vorschein gekommen waren: Die freie Zeit des arbeitenden Citoyen reicht nicht aus, um an der assemblée en permanence teilzunehmen. Danton hat das Problem in brillanter Weise erfaßt und eine trügerische Lösung gefunden. In einem modernen politischen Körper, in dem außerdem die Mehrheit der Mitglieder die meiste Zeit mit Arbeiten verbringe, sei jeder dem Prinzip nach ein Citoyen. Um das Politische zu sichern, kann jedoch das `soziale Problem´ nicht in die Privatsphäre abgeschoben werden. Seine Lösung hat universelle Bedeutung.
Hannah Arendts Trichotomie könnte und sollte auch unserer Meinung nach `gerettet´ werden, wenn wir diese wichtige Einschätzung, die in der Dynamik von modernen differenzierten Gesellschaften wurzelt, im Kopf behalten. Gegen Marx verficht sie die These, daß das Politische, das ja nicht einfach mit dem `Staat´ identisch ist, weder `abgeschafft´ noch `verschwinden´ sollte. Es muß bewahrt werden und es hat Priorität. Sofern politisches Handeln nicht völlig auf eine Bedürfnisgrundlage gestützt werden kann (d.h. indem man es vollständig auf die Verfolgung bestimmter ökonomischer Ziele reduziert) oder besser noch, sofern politische Freiheit im Namen von `Wirtschaftswachstum´ und `Lösung der Elendsprobleme´ geopfert oder sogar `aufgeschoben´ wird, geraten wir in den Totalitarismus, der uns unserer Freiheit beraubt und nicht notwendigerweise die Armut mindert. Hannah Arendts provozierende Aussage, daß Revolutionen niemals das soziale Problem lösen können, bringt genau diese Überzeugung zum Ausdruck.
In einer Republik wird der `gesellschaftliche Bereich´ eine relativ abgetrennte Sphäre gemeinsamer Aktionen (ökonomisches Management, kommunale Wohlfahrt, Kultur, Ausbildung und Erziehung) bleiben. Die Aktionen innerhalb dieses Bereichs orientieren sich an allgemeinen Prinzipien, über die man sich zuvor geeinigt hat. Diese Prinzipien würden auf ihr eigenes `Reich´ beschränkt bleiben und nicht den Anspruch erheben, die Strategien des politischen Körpers insgesamt umzuwandeln. Sobald jedoch aus dem gesellschaftlichen Bereich heraus der allgemeine Wunsch nach einem strategischen Wandel geäußert wird, haben wir bereits die Schwelle vom `Gesellschaftlichen´ zum `Politischen´ überschritten. Bis dahin verbleiben wir im Bereich des `potentiell Politischen´, d.h. des Gesellschaftlichen. Folglich gibt es für die Separierung einen sehr guten Grund. Geht man davon aus, daß die ökonomischen, kulturellen, erzieherischen u.a. Praktiken - kurz, die gesellschaftlichen Streitfragen - auch einen bestimmten way of life etablieren, würde häufiger Wechsel, ein unvermeidliches Resultat der Politisierung sozialer Probleme, den politischen Körper von innen her zerrütten. Eine Person, die sich in einem Zustand ständigen Wandels oder einer `permanenter Revolution´ befindet, wird entweder gewalttätig oder hysterisch. Wenn wir dagegen davon ausgehen, daß praktische Entscheidungen im modernen Leben unter Zeitdruck getroffen werden, wie ist es dann möglich, zwischen einer `gesellschaftlichen´ und einer `politischen´ Handlung eine klare Trennnungslinie zu ziehen? Die Antwort lautet: Es ist oft unmöglich. Aber genau besehen bekommen wir mit dieser unklaren Unterscheidung nur dann Probleme, wenn wir die zwei Bereiche als `getrennnte Reiche´ oder Sphären betrachten. Wenn wir jedoch, wie Agnes Heller in `The great republic´ von den unterschiedlichsten `Fähigkeiten´ der gesellschaftlichen Akteure ausgehen und nicht von eindeutig voneinander trennbaren Reichen oder Sphären, läßt sich das Gewicht der Probleme reduzieren.4 Revolutionen, diese `Neu-Anfänge´, können die `soziale Frage´ gewiß nicht lösen, insbesondere nicht das Problem der Armut. Das können nur die Handelnden versuchen, die Citizen der `Republik´ in freien Institutionen, wenn auch nur in einer eher vorläufigen als in einer endgültigen Weise. Auch hier gilt Hannah Arendts These: es gibt kein `Ende der Geschichte´, auch im `Reich der Gesellschaft´ nicht. Nichtsdestotrotz sollte der Citizen handeln, um die soziale Frage zu lösen und zwar aus drei Gründen. Es ist ein Skandal für die Freiheit, wenn das Elend in der Weise toleriert wird, wie dies gegenwärtig geschieht. Dies gilt noch stärker für das Elend in seinem strikt biologischen Sinne. Darüber hinaus kann die Verewigung der Armut nur zu einem Selbstmord der Freiheit führen: Massenelend bringt nur die Elite und den Mob hervor, aber keine frei handelnden Menschen. Für Aristoteles, die Autorität, die Hannah Arendt oft als Quelle heranzieht, war das selbstverständlich. In seinen Augen bedeutete verhältnismäßige Gleichheit des Vermögens eine Vorbedingung der Freiheit. Zu guter Letzt: Wir halten die Aufteilung der Tätigkeiten in einerseits Handlungen, die aus Sorge um die Freiheit geschehen und andererseits in Aktionen zur Bedürfnisbefriedigung, die folglich dem Reich der Notwendigkeit verhaftet bleiben, für eine falsche Idealisierung der Freiheit. IV `Die Politik der Sterblichen´, ein Begriff, den Hannah Arendt zwar nicht ausdrücklich gebraucht, den man aber implizit aus ihrem Text heraushört (meines Wissens wird der Begriff unter Bezug auf Heidegger zuerst von Reiner Schürmann gebraucht), bezieht seine Bedeutung aus der banalsten `Tatsache´ menschlichen Daseins: Wir alle sind Sterbliche, und wir sind uns der Begrenztheit all unseres Tuns schmerzlich bewußt. Diese Bewußtheit ruft ein mal heimliches, mal offenkundiges Bedürfnis nach Überschreitung unserer Begrenztheit hervor. Sowohl dem antiken wie auch dem christlichen Menschsein waren jeweils Spielräume und Handlungsweisen offen, worin jenes Transzendieren möglich war. Der Mensch der Antike konnte jene Transzendenz in reiner Kontemplation erfahren, der Christ in religiöser Andacht. Solange diese Spielräume und Handlungen `rein und unverdorben´ blieben, ging es um Zwecke an sich selbst und nicht um Mittel, etwas anderes zu erlangen. Es waren auch nicht bloß Mittel zur Erleichterung oder zur Verklärung. Derartige Transzendierungen stehen uns nicht mehr offen. Das Erfahren der Kontemplation unterlag einer Metarmorphose und wurde zur bloßen Erkenntnistheorie (was vielleicht wiedergutzumachen wäre), wohingegen religiöse Andacht auf Konvention und Heilungsrituale reduziert wurde (was wahrscheinlich nicht mehr wiedergutzumachen ist). Nur das Politische als ein Zweck an sich, nur das freie öffentliche Handeln in `der Republik´ bleibt den Menschen der Moderne, um sich und die sonst `begrenzten Unternehmungen´ ihres Lebens in die Unsterblichkeit zu erheben. In einem unerwartet zärtlichen und feinfühligen Ton läßt uns Hannah Arendt ausführlich an der Korrespondenz zwischen dem alten Jefferson und John Adams teilhaben, in der Jefferson mit dem Gedanken spielt, er würde nach seinem Tod einfach mit seiner diesseitigen Beschäftigung fortfahren und `im Kongreß mit seinen Freunden und Kollegen sitzen´. Jeffersons Traum offenbart uns den nicht-elitären Traum des Menschen der Moderne, sich selbst im Freiheitsraum des Politischen unsterblich zu machen. Um nichts anderes handelt es sich bei der `Politik der Sterblichen´. Auch wenn wir zuvor versucht haben, den `Zweck-an-sich´ Charakter des politischen Handelns zu relativieren, schließen wir uns im wesentlichen Hannah Arendt an. Wir werden im folgenden die `Politik der Sterblichen´ im Arendtschen Denken genauer charakterisieren. Erstens lehnt sie alle Konzepte vom `Ende der Geschichte´ ab, jegliche eschatologische Fundierung von `Erlösungspolitik´. `Das Ende der Geschichte´ zehrt, gleichgültig, ob in der `idealistischen´ oder der `materialistischen´ Version, vom Mythos eines allumfassenden Prozesses nach entsprechenden `Gesetzmäßigkeiten´. Der Mythos verspricht zwar das Paradies auf Erden. Die zwangsläufige Folge ist jedoch ein `Garten der Narren´, eine Epoche tiefer Enttäuschung und des Zynismus. An das `Ende der Geschichte´ zu glauben, überhöht unsere Ansprüche, macht unsere Versprechen verantwortungslos, unsere Gesten maßlos und unsere Überzeugungen fanatisch. Das Resultat ist eine Art von Politik, die uns die Erlöser verspricht, aber den Inquisitoren ausliefert. Zweitens hat `die Politik der Sterblichen´ auch eine anthropologische Dimension. Wir müssen lernen, zwischen der Lust am gesellschaftlichem Glanz und Erfolg und dem Wetteifern um Ansehen zu unterscheiden. Lust am Glanz ist die typische Motivation einer feudal-christlichen Ära, ihre entsprechenden Laster sind Selbstgefälligkeit und Hochmut. Erfolgsstreben ist die typische Motivation einer `Massengesellschaft´, die entsprechenden Laster und Mißlichkeiten sind Neid und Frustration. In beiden Fällen handelt es sich um monologische Leidenschaften, die das Leiden an unseren `begrenzten Unternehmungen´ nicht versöhnen, sondern noch vermehren. Ganz anders dagegen das Wetteifern um Ansehen, denn das geht nur dialogisch. Im Streben nach öffentlichem Ansehen unterscheide ich mich selbst durch meine Taten von anderen, kann ich für mich ein unterschiedenes `Ich´ werden. Würde die Bewegung hier aufhören, würde ich lediglich `selbst-gefällig´ bleiben. Unterschieden sein bedeutet aber auch als solcher von den anderen anerkannt zu werden, und zwar nicht nur und nicht einmal vorrangig anhand der Symbole meines Prestiges oder der gesellschaftlichen Hierarchie, sondern vielmehr durch Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit und Vertrauen erwachsen aber nur aus freien Handlungen. Jefferson, Hannah Arendts favorisierter Held, wurde genau in diesem Sinne ein Mann von großem Ansehen, während der `unbestechliche´ Robespierre `selbst-gefällig´ blieb. Der dritte Aspekt der `Politik der Sterblichen´ enthält eine Warnung. Unsere Nachwelt ist in unserem Tun gegenwärtig. Über die `Zukunft der Gegenwart´ können wir nicht hinausgehen und folglich müssen wir eine derartige Übersteigung auch gar nicht versuchen. Sterbliche können Opfer bringen, weil sie auf etwas `vertrauen´, diesen Kontrapunkt des `Glaubens´, und solche Opfer können sogar dann noch rational sein, wenn sie gerade durch die Handlung des Opferns über unsere Begrenztheit hinausgehen. Aber da sie rational sind, können Opfer nur im Namen der Freiheit der vergangenen und gegenwärtigen Sterblichen gebracht werden. Die schon Gestorbenen sind uns durch die Tradition gegenwärtig, die noch Lebenden unmittelbar. Gegenwärtige Generationen im Namen einer vermeintlichen Freiheit zu opfern, oder noch schlimmer mit der Begründung, daß es dann zukünftigen, nicht- existierenden Sterblichen besser ginge, führt zu einer Instrumentalisierung der Lebenden und ist ein krasser Akt der Unfreiheit. Es gibt nur einen einzigen politischen Akt, der hypothetisch unsere Sterblichkeit transzendiert und der den `begrenzten Unternehmungen´ Unsterblichkeit verleiht: die Errichtung von anhaltenden und freien Institutionen. Schließlich wollen wir auf ein besonderes Merkmal der `Politik der Sterblichen´ als einer Politik der Freiheit hinweisen. Es fehlt nicht nur in Hannah Arendts Konzeption; sie lehnt es sogar mit dem Argument ab, es sei der menschlichen Würde abträglich. Es handelt sich um den Begriff des Fortschritts. In einem qualifizierten Sinne halten wir ihn unseres Erachtens auch für Hannah Arendts eigenes politisches Denken für unverzichtbar. Man kann unter Fortschritt ein kumulatives Kontinuum verstehen oder aber etwas, was wir `Gewinn ohne Verlust´ nennen. In der ersten Bedeutung würden wir zu den unlösbaren Aporien der Hegelschen `Bewegung´ und zum `Ende der Geschichte´ zurückkehren. In der zweiten Bedeutung entspricht Fortschritt genau dem, was Hannah Arendt selbst in der amerikanischen Tradition entdeckt hat. In einem neuen Reich der Freiheit öffnet sich dem Paria ein Zugang zum freien politischen Handeln und die Vorherrschaft des Privilegierten hört auf. Beide erlangen als Gleiche den Status als Citizen. Das ist der Spielraum der Freiheit. Diese Freiheit kann, ganz gleich ob aus der Sicht des Paria oder der des Privilegierten, nur ein Gewinn sein, niemals ein Verlust. Wenn wir Freiheit in diesem Sinn verstehen, kann es einen Fortschritt geben, und dieser Fortschritt ist unverzichtbar.




Zurück zur Homepage des Hannah-Arendt-Vereins


Verantwortlich für die Seite
blaha@zfn.uni-bremen.de