Kapitel 3:
SAAMISCHE DEBATTEN
Im vergangenen Kapitel habe ich die kulturelle Vielfalt Nordnorwegens beschrieben. Ich habe
gezeigt, wie seit Jahrhunderten Norweger, Saamen, Kvenen und Menschen anderer Herkunft
zusammen diesen Landesteil bewohnt haben. Als Gegenpol konnte ich die Bemühungen des
Staates mit politischem Zentrum im Süden ausmachen, der verschiedene Massnahmen
durchsetzte, um ein "einiges Volk" aus seinen Bewohnern zu machen.
Seit den ersten Versuchen, saamische Sprache und Kultur zu unterdrücken, gab es eine
Gegenbewegung von saamischer Seite. Sie kämpfte darum, weiter saamisch reden zu dürfen,
kämpfte gegen Diskriminierung und für die politische Vertretung saamischer Interessen. Ich
werde im ersten Teil dieses Kapitels die Saamenbewegung näher darstellen und zeigen, wie
ambivalent ihre für unsere Zeit charakteristische Strategie ist, sich auf eine eigene, kollektive
Kultur und Identität zu berufen, um Rechte als Minderheit oder Urbevölkerung einzufordern. Im
zweiten und dritten Teil werde ich je einen aktuellen Streitfall darstellen: die Einführung des
saamischen Sprachgesetzes zur Stärkung saamischer Sprache in sechs ausgewählten Gemeinden
und die Debatten um die künftige Verwaltung von Land und Wasser. Diese Beispiele werfen die
Frage auf, ob die Saamen Anspruch auf Sonderrechte haben.
Bei der folgenden Darstellung geht es mir um folgende drei Punkte:
- (1) um den Einfluss der staatlichen Politik der Nationalisierung auf das Selbstbild der
Saamen und auf das Bild der Norweger von den Saamen
- (2) um das Verhältnis zwischen nordnorwegischer und innersaamischer Vielfalt und dem Bild einer klar abgrenzbaren saamischen Kultur, von dem die Saamenbewegung ausgeht
- (3) um die Frage, ob ethnische Einheiten die sinnvollsten Einheiten sind, um für kollektive Rechte zu kämpfen
3.1. Ambivalenzen in der Geschichte der Saamenbewegung
Saamen-Organisationen gab es schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aufgrund des
gesellschaftlichen Klimas (Norwegen-Nationalismus, Sozialdarwinismus) konnten ihre
Initiativen nicht überdauern. Der Durchbruch für saamische Organisationen kam erst in den 50er-
Jahren (Stordahl 1994:80).
Der erste Widerstand
Die ersten Saamen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die Diskriminierung durch die
Norweger öffentlich wehrten, waren Lehrer (Eidheim 1971). Sie hatten durch ihre Ausbildung
Einblick in die Denkweise der Norweger gewonnen und erkannten die Ungerechtigkeit in der
Ablehnung saamischer Identität. Diese Lehrer stiessen auf harten Widerstand: Von Norwegern
wurden sie als gefährliche Zeitgenossen für die nationale Integrität angesehen. Norweger hielten
Abmachungen zu Treffen mit ihnen nicht ein und übersahen sie im Berufsalltag. Auch in den
eigenen Reihen waren die ersten Saamenaktivisten nicht akzeptiert. Viele Saamen verurteilten
pro-saamische Aktivitäten. Für die meisten Saamen war die norwegische Identität die
erstrebenswerte und der Schlüssel zur Zukunft. Sie befürchteten Sanktionen von Norwegern
(Eidheim 1971:42).
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich mit dem politischen Klima auch die Einstellung
gegenüber Minderheiten. Harald Eidheim (1971) macht zwei Faktoren dafür verantwortlich:
- (1) Ende der 40er-Jahre begann eine Phase starken wirtschaftlichen Wachstums. Diese weitete die Kluft zwischen den periferen Gebieten (in denen die Saamen wohnten) und den zentralen Gebieten im Süden. Für Saamen und Norweger wurde immer deutlicher, dass die Saamen schlechte Voraussetzungen hatten, um von dieser Entwicklung zu profitieren.
- (2) In der Bevölkerung machte sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine liberale Einstellung gegenüber Minderheiten breit. Bei den Vereinten Nationen war Norwegen aktiv in der Formulierung der Erklärung der Menschenrechte. Norwegen verpflichtete sich somit zu Prinzipien, die in der eigenen Gesellschaft noch nicht verwirklicht waren.
Einigen Saamen wurde ihre Situation als Minderheit immer mehr bewusst, während sich
gleichzeitig die Haltungen mancher Norweger gegenüber Saamen milderte. Das führte zu einem
Dialog zwischen einigen (höher qualifizierten) Saamen mit einflussreichen Norwegern
(Universitätsprofessoren, Lehrern, linken Sozialisten, Beamtenkreisen), die ihre Argumentation
unterstützten. Sie alle machten sich stark für den Fortbestand der Saamen als "kulturelle Einheit".
Sie forderten, dass die Saamen Rechte erhalten müssten, die ihrer kulturellen Besonderheit
Rechnung tragen (Eidheim 1971:43).
Erste saamische Organisationen stiessen auf Ablehnung
Saamen begannen sich zu organisieren. 1953 veranstalteten Saamen die erste skandinavische
Saamenkonferenz im schwedischen Jokkmokk. Die nächste Konferenz folgte drei Jahre später in
Karasjok. An dieser Konferenz wurde der Nordische Saamenrat Nordisk Sameråd) gegründet, um
die Stellung der Saamen skandinavienweit zu stärken. Den Initiatoren - sie stammten
grösstenteils aus dem Inneren Finnmarks - ging es um die Bewältigung der "wirtschaftlichen und
kulturellen Krise" in dieser "neuen Zeit". Von den nordischen Ländern forderten sie die
"Sicherung der Möglichkeiten, die Naturresourcen in ihren Gebieten auszunützen". Nun waren
die Saamen in Norwegen, Schweden und Finnland zum ersten Mal in einer gemeinsamen
ethnopolitischen Bewegung vereint (Stordahl 1994:82-86).
Doch die Saamenbewegung fand bei vielen Saamen nur geringe Resonanz, wie Eidheim (1971)
scheibt. Die Ablehnung saamischer Identität vor Ort sei dieselbe wie zuvor. Die meisten Saamen
verhielten sich passiv, die gesellschaftlichen Kosten (Diskriminierung), würde man seine
saamische Identität gegenüber Norwegern ausdrücken, seien immer noch zu hoch (Eidheim
1971:45)
Die Einrichtung eines staatlichen Saamenkomitees
Zu dieser Zeit befasste sich auch der Staat erstmals mit Saamenpolitik und setzte ein Komitee ein,
welches die Situation der Saamen evaluieren und Vorschläge machen sollte, damit sich Saamen
in der norwegischen Gesellschaft entfalten können. Die Errichtung eines solchen Komitees wurde
von vielen Saamen kritisch beurteilt. Auf einem Treffen wurde folgende Erklärung abgegeben:
(...) Die Errichtung des sogenannten Saamenkomitees wurzelt nicht in einem Wunsch oder
in einer Forderung der Mehrheit des saamischen Volkes. Wir fühlen uns eins mit der
übrigen Bevölkerung des Landes, und wir haben weder darum gebeten noch wünschen wir
Sonderrechte und Sonderverpflichtungen gegenüber den übrigen Einwohnern Norwegens.
(...) Wir werden uns daher mit allen Mitteln jeder Massnahme widersetzen, welche den
Zweck verfolgt, die saamische Bevölkerung in einer eigenen Gesellschaft im Inneren
Finnmarks zu organisieren. (...) Wir protestieren gegen alle Massnahmen, die die
Errichtung besonderer Organe für die Saamen notwendig machen
(in Drivenes und Jernsletten 1994:262-263).
Mehrzahl der Saamen für Modernisierung, und gegen Sonderrechte
Die 1959 vorgebrachten Vorschläge des Komitees zur Modernisierung periferer Gebiete wurden
alle gut geheissen. Doch die Schaffung eines "saamischen Kulturgebietes" im Inneren Finnmarks,
um das "Überleben saamischer Kultur" zu sichern, erntete viel Protest. In der Ostererklärung 1960
(påskeresolusjonen) wurde dieser Vorschlag mit der Reservatspolitik in den USA und mit der
Apartheid-Politik in Südafrika verglichen. Ein Verfasser der Erklärung begründete dies so:
Mit der Apartheid-Politik meine ich, dass eine oder mehrere Gruppen Rechte haben, die
andere nicht haben. Solch eine Politik wollen die Aktivisten ja durchführen
(in Drivenes und Jernsletten 1994:263).
1962 wurden die Forderungen des Saamenkomitees im Parlament diskutiert. Umgesetzt wurden
Forderungen wie die Errichtung einer Sekundarschule in einer saamischen Gemeinde oder die
Subventionierung der Produktion saamischen Kunsthandwerks. Der Nordische Rat sponserte ein
Nordic Saami Institute für die Erforschung der Situation der Saamen (Thuen 1995: 40). Abgelehnt
wurden jedoch die Errichtung einer eigenen Anwaltschaft und eines eigenen Polizeidistrikts
sowie die Bevorzugung von Saamen bei öffentlichen Anstellungen (Stordahl 1994:92-93). Dies
wurde als Sonderbehandlung gesehen und deshalb abgelehnt. Saamen waren nach
Parlamentsmeinung "saamisch sprechende Norweger" und hatten keinen Anspruch auf
Sonderrechte. Die saamische Kultur betrachtete man als kulturelle Variante innerhalb des
Nationalstaates Norwegen und als eine Bereicherung für die Nation als solche (Stordahl 1994:95).
Um zu verstehen, weshalb viele Forderungen ethnopolitisch aktiver Saamen abgelehnt wurden,
müssen wir neben der jahrzehntelangen Diskriminierung der Saamen auch die politischen
Verhältnisse in Norwegen in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Weltkrieg im Kopf
behalten.
In Norwegen herrschte eine Einheitsideologie vor, die wenig Platz für kulturelle Andersartigkeit
liess. Nach dem Weltkrieg prägten die Sozialdemokraten (Arbeiderpartiet) die Politik. In
Regierungsposition versuchten sie, sämtliche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Unterschiede in der Bevölkerung zu beseitigen. Sie redeten von "Gemeinschaftssolidarität und
nationalem Zusammenhalt" (samfunnssolidaritet og nasjonalt samhold). Diese nationale
Gemeinschaft mit ihrer dominierenden Staatskirche, einem standardisierten und einheitlichen
Schulwesen sowie einem regulierten Verhältnis zwischen Kapitalmacht und Arbeitnehmern bot
wenig Raum für Minderheiten wie Saamen oder Einwanderern (Drivenes und Jernsletten
1994:260-261).
Verschiedene Auffassungen von Gleichstellung
Wie Vigdis Stordahl (1994) betont, wollten sowohl das Saamenkomitee als auch das norwegische
Parlament die Gleichstellung von Saamen und Norwegern erreichen. Es gab jedoch zwei
verschiedene Vorstellungen von Gleichstellung. Das Saamenkomitee wollte dieses Ziel durch die
Vergabe von Sonderrechten an Saamen auf der Grundlage ihrer ethnischen Eigenart erreichen.
Doch diese Vorstellung von Gleichstellung war unvereinbar mit dem norwegischen
sozialdemokratischen Denken. Gleichstellung bedeutete für sie, dass allen - unabhängig von
Religion, ethnischer Herkunft, Geschlecht und Region - identische Rechte zustehen. Bevorzugung
der Saamen, z.B. bei Anstellungen, hätte sozialdemokratischen Prinzipien widersprochen
(Stordahl 1994:94).
Radikalisierung und Spaltung der Saamenbewegung
Bis in die 60er-Jahre galten Saamenaktivisten als Träumer und Idealisten (Drivenes und
Jernsletten 1994). Das änderte sich schlagartig, als im Anschluss an die Debatten um das Papier
des Saamenkomitees eine pro-saamische Bewegung heranwuchs.
NSR: Von Träumern zu Extremisten
1968 wurde von diesen Aktivisten der NSR (Norgga Samiid Riikasearvi / Norske Saamers
Riksforbund), der nationale Verband norwegischer Saamen, gegründet. Ressourcenmanagement
und Landrechtsfragen setzte der NSR auf seine Tagesordnung. 1969 stellten sie eine eigene Liste
zur Parlamentswahl auf. Von dieser Zeit an galten sie als "Extremisten". In den 70er-Jahren
intensivierten sie die nordische und internationale Zusammenarbeit und arbeiteten mit bei der
Gründung des Weltrates für Urbevölkerungen (WCIP).
Das war das Jahrzehnt, wo
Saamenaktivisten "das Verlorene" zurückerobern wollten: Sprache, Kultur, Land, Selbstrespekt.
In der Lokalpresse im Norden, besonders in der Finnmark, beobachtete man diese Entwicklung
mit Misstrauen. Nachdem Forderungen laut geworden waren nach eigenen saamischen
Symbolen wie eigener Flagge, Nationalhymne und Nationalfeiertag fragten die kritischsten
Zeitungen: Wollen sich NSR und der Nordische Saamenrat von den Nationalstaaten losreissen
und ein eigenes Saamenland gründen? Die Debatte wurde immer emotionsgeladener (Drivenes og
Jernsletten 1994:265-266).
CSV: "Zeig, dass du Saame bist"
Das berühmte Fass zum Überlaufen brachten Pläne der Regierung, den Alta-Fluss unweit von
Kautokeino zu stauen. Das Projekt, welches nach den ursprünglichen Plänen ein ganzes von
Saamen bewohntes Dorf und Wanderrouten der Rentiere unter Wasser setzen sollte, war die
ganzen 70er-Jahre hindurch heisses Diskussionsthema und spaltete die Saamenbewegung. Zu
dieser Zeit entstand in Karasjok CSV als Begriff und Symbol. Darunter sammelten sich die Gegner
des Projektes. CSV entwickelte sich nach und nach wie "Red Power" oder "Black Power" zu einem
Begriff für all die Saamen, die den Status der Saamen als Unterdrückte verändern wollten. CSV-
Anhänger kennzeichneten sich deutlich nach aussen durch saamische Embleme. Der
Zusammenhalt unter Saamen im Inneren der Finnmark wuchs. Für viele war das Engagement in
den ethnopolitischen Organisationen befreiend, wie Synnøve Persen (1986) es für sich formuliert:
Unsere Gedanken flogen aus geschlossenen Käfigen. Eine Bewegung entstand. CSV. Wir
wollten unser Land zurück, unsere Sprache, unseren Eigenwert, unsere Kultur, unser
Eigentum.
(Persen 1986 in Stordahl 1994:140).
CSV, das war die Abkürzung für: Zeig, dass du Saame bist. Eine der Aufforderungen der CSV-
Anhänger lautete:
Wenn du als Saame an die Tür eines anderen Saamen kommst, soll das CSV-Zeichen dir
entgegen leuchten und du sollst sofort merken, dass hier ein Saame wohnt oder einer, der
mit saamischen Belangen arbeitet
(in Stordahl 1994:139).
Die Saamen organisierten sich immer besser. Sie wurden auch radikaler in ihren Protestformen.
Der Protest gegen das Staudammprojekt ging so weit, dass der NSR sich weigerte, an dem Essen
anlässlich des 75. Geburtstages des norwegischen Königs Olav teil zu nehmen - ein Skandal!
Junge Saamen erregten ein Jahr später (1979) mit einem Hungerstreik vor dem
Parlamentsgebäude in Oslo internationales Aufsehen.
SLF: Loyal gegenüber Norwegen
Diese Aktionsform ging jedoch vielen Saamen zu weit. Vor allem störte sie der Loyalitätsbruch mit
dem König. Ihn sahen sie als König für Norweger und Saamen an. Viele von ihnen traten aus
dem NSR aus, den sie zu radikal fanden. Sie gründeten den SLF (Sami Eadnansearvi / Samenes
Landsforbund, Landesverband der Saamen (Thuen 1995:109-110). Dessen Ziel war:
nach den Prinzipien des norwegischen Grundgesetzes zu arbeiten und Respekt und
Achtung gegenüber dem König und seiner Regierung und anderen öffentlichen Behörden
zu zeigen, auch wenn man in einzelnen Punkten anderer Meinung ist
(in Lorenz 1981:101).
SLF-Anhänger betonten, dass sie Saamen und Norweger seien. Auch als Saamen seien sie
norwegische Staatsbürger. Einfluss könnten sie wie Norweger über die üblichen Institutionen des
politischen Systems nehmen. Obwohl sie sich als Saamen fühlten, würden sie sich nicht
ausschliesslich als Saamen identifizieren. Eine feste Grenze zu den Norwegern zu ziehen, wie es
die Saamenaktivisten im NSR tun, könnten sie nicht. Norweger haben sie dermassen beeinflusst,
dass sie sich mehr von den Rentiersaamen als von gewöhnlichen Nordnorwegern unterschieden.
Ihnen sei ein gutes Verhältnis zu den Nordnorwegern wichtiger als eine einseitige Saamenpolitik,
welche Saamen positiv diskriminiere und so nur Ressentiments schüre. Sie fanden, Saamen
sollten als marginal im geografischem Sinne angesehen werden wie es die anderen
Nordnorweger auch seien (Thuen 1995:110).
Der SLF konzentrierte sich auf wirtschaftliche Fragen. Besonders Saamen aus den Küstengebieten
schlossen sich dem SLF an - auch um ihre Opposition gegenüber den Rentiersaamen
auszudrücken (Thuen 1995:43).
Der Alta-Konflikt - oder Was ist saamisch?
Wie wir eben gesehen haben, zeigte der Alta-Konflikt deutlich die unterschiedlichen Werte und
Interessen innerhalb der Saamen auf. Offenbar war die Aussage der Projekt-Gegner, der
Staudamm bedrohe den Fortbestand saamischer Kultur, nicht repräsentativ für die saamische
Gesellschaft, sondern nur für die Rentiersaamen. Kann es sogar sein, dass der Konflikt gar kein
ethnischer Konflikt, kein Konflikt zwischen saamischen und norwegischen Werten und Welten
war? Anthropologe Odd Terje Brantenberg (1985) zeigt, wie der Konflikt beide Gesellschaften
spaltete - nicht nur die Norweger, sondern auch die Saamen, wie an der Gründung der
Konkurrenzorganisation SLF deutlich wird.
Erst ging es um Ökologie, dann um Ethnopolitik
Brantenberg betont die Wendungen in der Widerstandsbewegung. Viele Norweger und Saamen
hatten am Anfang gegen das Projekt protestiert. Doch dann fand man einen Kompromiss, den die
nationale Organisation der Rentierzüchter (NSR) und führende saamische Persönlichkeiten
befürworteten. Der Staat wollte ein kleineres Kraftwerk bauen und vorerst keine weiteren Projekte
dieser Art durchziehen. Die einzigen, die noch gegen den Staudamm protestierten, waren
Umweltschützer und ein paar Einheimische, Saamen waren kaum darunter. Letztlich ging es um
Ökologie, nicht um Ethnopolitik.
Die entscheidene Wendung trat ein, als einige junge Saamen in
die 2000 Kilometer entfernte Hauptstadt Oslo reisten, vor dem Parlamentsgebäude ein Saamen-
Zelt (lavvo) aufschlugen und mit einem Hungerstreik begannen. Erst der Hungerstreik und eine
Serie ähnlich dramatischer Aktionen wie die Besetzung des Büros der norwegischen
Staatsministerin und die Entsendung einer Delegation zum Papst wandelten die Bedeutung des
Konflikts von einem Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie zu einem Konflikt zwischen
Norwegern und Saamen (Brantenberg 1985:28).
Der Alta-Konflikt spaltete Norweger und Saamen
Der Konflikt zeigte nicht nur Dilemmas in der Politik des norwegischen Staates gegenüber der
Saamen. Er offenbarte, dass es auch unter den Saamen unterschiedliche Meinungen zum
Staudamm-Projekt gibt. Deutlich machen dies die folgenden internen saamischen Debatten über
"saamische Kultur": Was ist saamisch? Wer repräsentiert die Saamen? Und: Sind Rentiersaamen
die "authentischeren" Saamen als die Meersaamen?
Für die jungen Hungerstreikenden war Rentierzucht von symbolischer Bedeutung für saamische
Kultur. Der Staudamm war für sie ein Angriff auf die kollektiven Interessen aller Saamen. Sie
beanspruchten für sich, für alle Saamen zu sprechen. In einer späteren Gerichtsverhandlung
konnten sie sich auf das staatliche Rentierzuchtgesetz von 1978 (Lov om reindrift) berufen. Dort
war Rentierzucht definiert als "zentrale Basis saamischer Kultur".
Viele der (älteren) Rentierzüchter dachten weniger ideell als materiell. Für sie ging es um die
Bedrohung ihrer Lebensgrundlage, wenn plötzlich ihre Wanderwege unpassierbar werden
sollten. Die Organisationen NSR und NSL unterstützten die Hungerstreikenden, waren jedoch
uneinig, was die Art des Protestes anbelangte (Brantenberg 1985:31-32).
(T)he debate was not only a debate on who was representing the Saami, but also an
argument as to what represents Saami interests
(Brantenberg 1985:32).
Auf der anderen Seite standen die Meersaamen. Der Fokus auf Rentierzucht als "zentrale Basis
der saamischen Kultur" missfiel ihnen. Mit Rentierzucht konnten sie sich nicht identifizieren. Das
Verhältnis zu den Rentierzüchtern war in letzter Zeit spannungsgeladen. In den vergangenen
Jahrzehnten hatten Auseinandersetzungen über Landnutzungsrechte zwischen den beiden
Gruppen zugenommen.
Die Meersaamen waren abhängig von der Nutzung des Landes für
Landwirtschaft, die Rentiersaamen brauchten es als Weideland für ihre wandernden Herden. In
einigen Gebieten empfanden Meersaamen die Rentiersaamen als "Ärgernis" und
"Haupthindernis" für die Durchsetzung ihrer Interessen. Viele Meersaamen fürchteten, die
Rentiersaamen würden einen alleinigen Rechtsanspruch auf das Land durchsetzen wollen. Was
die Rentiersaamen politisch betrieben, sei nicht repräsentativ für die Saamen. Es wurde auch der
Vorwurf laut, den Rentiersaamen ginge es nicht um saamische Kultur, sondern um persönliche
wirtschaftliche Interessen. Einige Meersaamen fürchteten daher einen Sieg der Alta-Projekt-
Gegner (Brantenberg 1985:34).
Die Assoziation von saamischer Kultur und Rentierzucht hat das Dilemma der Meersaamen in
Bezug auf ihre Selbstidentifikation vertieft. Die Meersaamen entwickelten eine gleichgültige bis
feindliche Haltung gegenüber Rentiersaamen. Manche meinten in Bezug auf die Rentiersaamen:
"Wenn das Saamen sind, sind wir keine Saamen mehr." Daraus resultierten Ressentiments
gegenüber saamischer Ethnopolitik (Brantenberg 1985:34-35).
Der SLF sagte dann auch, dass nicht Rentierzucht, sondern die moderne Marktwirtschaft am
wichtigsten für die meisten Saamen sei. Das Kraftwerk am Alta-Kautokeino-Wasserweg liefere
billige Energie als Basis für wirtschaftlichen Fortschritt (Brantenberg 1985:37).
Brantenberg schliesst mit der Feststellung, der Konflikt habe zu zwei entgegen gesetzten
Ergebnissen geführt: (1) er verstärkte die bereits bestehenden Differenzen zwischen Rentier- und
Meersaamen und (2) er schuf die Möglichkeit, dass sich die ethnopolitische Bewegung künftig auf
der Basis von innersaamischer Vielfalt organisierte. Bisher war sie von den Rentiersaamen
dominiert (Brantenberg 1985:39ff).
Die Untersuchung saamischer Rechtsansprüche
Durch den Alta-Konflikt wurde auch den Norwegern im Süden bewusst, dass es in ihrem Land
eine saamische Minderheit gibt. Viele Leute begannen sich für saamische Fragen zu interessieren.
Darunter waren auch viele Ethnologen. Die Auseinandersetzung um den Staudamm führte auch
dazu, dass sich die nationalen Parteien Fragen bezüglich Landrecht und Status der Saamen als
Urbevölkerung stellen mussten. Er gab auch Auftrieb für die Forderung nach einem eigenen
saamischen Parlament (Thuen 1995:46).
1980 setzte die Regierung das sogenannte Saamenrechtskomitee (samerettsutvalget) ein. Es sollte
herausfinden, welche Verpflichtungen der norwegische Staat den Saamen gegenüber hat.
Zusammengesetzt war das Komitee aus einem Rechtsprofessor (Carsten Smith) als Leiter sowie 15
Mitgliedern: Repräsentanten von saamischen Organisationen, Gemeinden, der Industrie und der
akademischen Welt. Juristische Grundlage war Internationales Recht für Minderheiten, besonders
Artikel 27 des Zivilpaktes der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1966. Dieser verpflichtet
Nationalstaaten, "die Kultur ihrer Minderheiten zu respektieren". Urbevölkerungen wird das
Recht auf "positive Diskriminierung" zugestanden, um kulturell und wirtschaftlich einen
ähnlichen Stand wie die Mehrheitsgesellschaft zu erreichen. Mit "Kultur" meinte das Komitee in
seiner Interpretation nicht nur Sprache, Kunsthandwerk, Kunst und Zeitungen, sondern auch
"die materielle Basis": Lebensgrundlage und Naturressourcen (Thuen 1995:47-48).
Saamenparlament: Wer ist wahlberechtigt?
In den meisten Fragen war das Komitee gespalten, so zum Beispiel beim Thema
Saamenparlament. Einige, wenn auch die Minderheit, fanden es unnötig in einem
demokratischen politischen System eine eigene Vertretung für Saamen einzurichten. Skepsis
herrschte sowohl im Komitee als auch in der Öffentlichkeit vor, ein Saamenregister auf quasi
"rassischer Grundlage" zu erstellen. Dieses sollte die Stimmberechtigten erfassen. In öffentlichen
Debatten wurde gar ein Vergleich mit dem Schicksal der Juden gezogen. Vielen Leuten missfiel,
sich öffentlich zu einer Identität zu bekennen, wenn deren bevorzugter Status der einer
gemischten Persönlichkeit ist. Die Erstellung eines Saamenregisters wurde jedoch beschlossen.
Anfangs gab es die Aufnahmebedingung, dass man entweder selber, ein Elternteil oder eine(r) der
Grosseltern Saamisch sprach und man sich selbst als Saame fühlte (Thuen 1995:49).
Die Frage, wer sich in das Register einschreiben darf, ist ein Streitpunkt. Am 20. September 1995
kündigte ein Artikel in der Zeitung Nordlys an: "Flere kan bli samer" - Mehr Leute können Saame
werden. Das Saamenparlament hatte beschlossen, dass es nun reicht, Ureltern zu haben, die
Saamisch sprechen, um wählen zu dürfen. Die Sozialdemokraten 060;i>(Arbeiderpartiet) im
Saamenparlament wollten das subjektive Kriterium abschaffen, also die Selbstidentifikation als
Saame. Diese Bedingung, so die Begründung, habe einige davon abgehalten sich einzuschreiben.
Besonders an der Küste würden sich Leute fragen, was es heisse, Saame zu sein. Dieses Kriterium
sei auch schwierig nachzuprüfen (Nordlys 20.9.95).
Im Internet kann man sich das aktuelle Formular zur Registrierung als Saame anschauen. Jetzt
muss man erklären, dass man
- 1. sich selbst als Saame auffasst
- 2. Saamisch als "Haussprache" (hjemmespråk) hat oder, dass mindestens einer der Eltern,
Grosseltern oder Urgrosseltern Saamisch als Haussprache hat oder hatte (Zusatz: Falls
während des Aufwachsens mehrere Sprachen benutzt wurden, muss Saamisch eine von
ihnen (gewesen) sein)
oder
- dass man Kind einer Person ist, die bereits als Saame registriert ist
Zur letzten Wahl 1997 haben sich 8668 Saamen registrieren lassen. 1993 waren es 7236 und 1989
5497 (laut Netzseite des Saamenparlaments: norwegisch / englisch).
Das Saamenparlament hat nur eine ratgebende Funktion. Öffentliche Organe sollten dem
Saamenparlament Gelegenheit einräumen, Stellungnahmen abzugeben, bevor sie Entscheidungen
treffen, die das Arbeitsgebiet des Sametings betreffen. Es hat derzeit ein Budget von über 83,4
Millionen norwegischen Kronen (16,4 Mio CHF), die es jedes Jahr für "verschiedene saamische
Kultur-, Wirtschafts-, Sprach- und Ausbildungszwecke" vergibt
(www.samediggi.no/).