Kapitel 4:
DISKUSSION
4.1 Rückblick und These
In der vorliegenden Arbeit besprach ich anhand des Beispieles der Situation der Saamen in
Nordnorwegen die Probleme bei der Umsetzung einer Minderheitenpolitik, die auf dem
Konzept basiert, die Menschheit bestünde aus einer Ansammlung verschiedener Kulturen
mit eigener Geschichte, Sprache und Tradition, die es zu schützen gilt.
Nach einem Kapitel über den Gebrauch des Kulturkonzeptes in Öffentlichkeit und Politik
in Kapitel 1 wurde in Kapitel 2 der gemischtkulturelle Hintergrund der Finnmark
aufgezeigt: Quer durch die Geschichte gab es einen lebhaften Austausch verschiedener
ethnischer Gruppen. Die Saamen haben nie alleine das riesige Gebiet bewohnt. Ich ging auf
die innersaamische Vielfalt ein, auf die Unterschiede, basierend auf der Wirtschaftsweise
(Rentier- und Meersaamen) sowie auf den Wohnorten (Stadt- und Land, Nord- und Süd).
Diese Vielfalt schlägt sich auch in der Sprache nieder: die nord- und südsaamischen
Sprachen verfügen über einen anderen Wortschatz, so dass Verständigung nur schwer
oder gar nicht möglich ist. Ein weiterer spaltender Aspekt ist das Alter. Jung und Alt haben
ganz unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben. Entsprechend unterschiedlich sind
die Vorstellungen über das Wesen saamischer Kultur und die Ziele der Saamenpolitik.
Eine Folge dieser kulturellen Vielfalt in Nordnorwegen ist, dass schon immer Angehörige
verschiedener Volksgruppen engen Kontakt miteinander hatten und z.B. auch
untereinander heirateten. Die meisten Leute waren zwei-, drei- oder gar viersprachig.
Einige wechselten die ethnische Identifikation, viele fühlen sich zu mehreren ethnischen
Gruppen gleichzeitig zugehörig. Ich habe die zentrale Bedeutung des Begriffes "Det tre
stammers møte" ("Treffen der drei Stämme") aufgezeigt, welcher auf das jahrhundertelange
Zusammenleben von Saamen, Norwegern und Kvenen hinspielt. Viele fühlen sich als
"Produkt" dieses Zusammentreffens; so gut wie alle Bewohner Nordnorwegens können
Vorfahren von saamischer, kvenischer und norwegischer Herkunft in ihrem Stammbaum
finden.
Im 3. Kapitel behandelte ich die ethnopolitische Mobilisierung der Saamen - den Kampf,
das Verlorene wieder zurück zu bekommen: das Land, das der Staat an sich gerissen hatte,
die saamische Sprache, die bis in die 60er-Jahre in der Schule verboten war. Mit Berufung
auf die Ideologien des Nationalismus und Sozialdarwinismus sollte seit Ende des 19.
Jahrhunderts alles Saamische eliminiert werden. In den 50er-Jahren organisierten sich die
ersten Saamen. Durch die landesweiten Proteste gegen die Errichtung eines Staudamms am
Alta-Kautokeino-Fluss Ende der 70er und Anfang der 80er-Jahre wuchs die
Saamenbewegung an und gewann auch die Sympathien vieler Norweger. Gleichzeitig
begann sich die Bewegung zu spalten. Es erwies sich als schwierig, eine so vielfältige
Gruppe von Menschen zu einen. Gross waren die Differenzen zwischen Rentiersaamen
und Meersaamen über die Definition saamischer Kultur. Eine Frage stand im Raum: Sind
Rentiersaamen die authentischeren Saamen?
Ausführlich diskutierte ich die praktischen Probleme bei der Umsetzung von Massnahmen,
welche "saamische Sprache und Kultur" fördern und begangenes Unrecht wieder gut
machen sollten. Die Einführung des Sprachgesetzes und die künftige Verwaltung von
Land und Wasser in Finnmark spaltete die Bevölkerung. Saamische Ortsschilder wurden
zerschossen, Eltern holten ihre Kinder aus dem Saamischunterricht. Unter den Saamen gibt
es gegensätzliche Positionen: Die einen kämpfen für die alleinige Verwaltung von ganz
Finnmark durch die Saamen, andern ist es wichtiger, mit Norwegern und Kvenen
zusammen zu leben und lehnen Sonderrechte für Saamen ab. Immer wieder hört man
Stimmen von Bewohnern Nordnorwegens, die dagegen sind, Grenzen zwischen
Norwegern, Kvenern und Saamen zu ziehen. Sie sagen, sie seien selbst "Mischlinge" und
fänden die Unterscheidung künstlich oder aufgezwungen.
Das Material dieser Arbeit zeigt folgendes:
- Die Saamen sind keine kulturelle Einheit. Unter ihnen gibt es viele verschiedene
Gruppen mit unterschiedlichen Interessen.
- Die Saamen sind keine Gruppe von Menschen, die sich problemlos von anderen
Gruppen abgrenzen lässt. Wer Saame ist und wer nicht, diese Definitionsfrage ist nicht
nur für die Behörden ein Problem, sondern auch für jeden Einzelnen. Einige Saamen
weigern sich, sich nur mit einer ethnischen Gruppe zu identifizieren. Oft wird eine
Diskrepanz deutlich zwischen offiziellen und persönlichen Identitätskategorien.
- Man kann nicht erwarten, dass Massnahmen, welche die saamische Sprache und
Kultur stärken sollen, von allen Saamen gut geheissen werden. Vielen ist ein gutes
Zusammenleben mit ihren norwegischen oder kvenischen Nachbarn wichtiger als eine
Sonderbehandlung auf ethnischer Grundlage.
Auf einer mehr theoretischen Ebene lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
- Die von der klassischen Ethnologie postulierte einheitliche und leicht nach aussen
abgrenzbare Kultur gibt es nur als Vorstellung oder Abstraktion. Die Realität ist
komplexer, wie das Beispiel der Saamen zeigt.
- Kultur ist im Kampf um kollektive Rechte eine wichtige Ressource: sowohl nach innen
(Aufbau einer Gruppenidentität) wie nach aussen (positive Selbstdarstellung,
Wiedergewinnung des Selbstwertgefühls, Abgrenzung von anderen Gruppen).
- Menschen können sich mit mehreren ethnischen oder nationalen Einheiten
identifizieren. Sie sind keine Repräsentanten einer "Kultur".
- Für viele Menschen ist die ethnische oder nationale Identität nicht die wichtigste, in
vielen Fällen ist u.a. die Identifizierung mit einem Ort oder einer Region wichtiger.
Folgende These ergibt sich daraus:
Gegenwärtige Minderheitenpolitik basiert auf einer stark vereinfachten und nicht realen Vorstellung
von den Begriffen Kultur und Identität.
Viele Probleme zwischen Mehrheit und Minderheit liessen sich lösen oder zumindest in ihrer Intensität mindern durch:
- eine realistischere Sichtweise auf die Konzepte Nation, Kultur, und Identität welche Vielfalt,
Gegensätze und Individualität zulässt und thematisiert.
- Basisdemokratie und Regionalismus als Alternativen zu staatlichem Zentralismus