Das Denken als Verstand:
Iris Bühler
a) „bleibt bei der festen Bestimmtheit [...] stehen"
[identifiziert],
b) „bleibt bei [...] dem Unterschied desselben gegen
andere stehen"
[differenziert],
wobei die Voraussetzung für die Feststellung des
Unterschieds natürlich zuallererst die feste Bestimmung, das Identifizieren
ist, und womit infolgedessen Differenzieren oder Unterscheiden präzise
ausgedrückt „Identifizieren und Differenzieren" ist, also b) als [
a) und b) ] gedacht werden muß. -
Hierbei, sowie in der nachfolgenden Darstellung „Denken als Vernunft", ist insbesonders die spezifische Bedeutung des Bezugswortes „und" hervorzuheben, welches in diesem Zusammenhang weder Ausdruck einer mathematisch-additiven Zusammenfügung zweier voneinander unabhängig gesetzter und nun zu verbindender Einheiten „a", „b" hin zu dem sich daraus ergebenden Resultate „c" im Sinne von „a + b = c" oder „1 plus 1 = 2" etc. ist, noch verbindet es (wie oft im allgemeinen Sprachgebrauch anzutreffen) durch willkürliche, lockere Aneinanderreihung völlig diverse, austauschbare, ebenso anderweitig kombinierbare Elemente wie bspw. „Ich und Du und Müllers Kuh", „wie Hund und Katz’ " oder auch „Sein und Zeit", „Rechtschreibreform und Bildung" etc. Vielmehr ist es als sprachlicher Ausdruck bzw. Darstellung dialektischer (Denk-)Bewegung zu verstehen, als dialektisches Bezugs-und, welches die Bewegung der Vermittlung, Aufhebung, des Übergehens (Übergegangenseins) von „These zu Antithese zu Synthese" bzw. „Affirmation zu Negation zu Negation der Negation" bzw. „Ansich zu Fürsich zu An-und-für-sich" bezeichnet. Dies impliziert hinsichtlich der sich in dialektischem Bezug bewegenden Momente, die hier zur Veranschaulichung als a, b bezeichnet sind, weiterhin: Insofern die Bewegung des Aufgehobenwerdens, der Vermittlung, des fließenden Überganges (hindurch von Ansich zu Fürsich zu An-und-für-sich) dargestellt wird, ist keines der in der schriftlichen Darstellung scheinbar wiederholt als solches vermerkte Element „a", „b" mit einem im weiteren Verlaufe der schriftlichen Veranschaulichung notierten „a", „b" identisch; von der Seite des Elementes „a" aus betrachtet bedeutet dies in anderen Worten: „a" (Ansich, Identität, These) bleibt (!) nicht (!) sich selbst gleich, es ist im Anderen, im Anderssein, „in" „b" (Fürsich, Differenz, Antithese) nicht mehr als solches, als in seiner urspünglichen Bestimmung oder Unmittelbarkeit seiend bleibendes „a", sondern es ist in „b" (als „a" und „b") übergegangen, oder, was dasselbe ist, als bezogenes, negiertes, in der dialektischen Bewegung („und" !), im Werden aufgehobenes enthalten.
Das Denken als Vernunft:
c) „faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung
auf" ,
nämlich:
[[ 1. „a)" erfassen, [These]
2. „b)" als [ a) und b) ] erfassen,
[Antithese]
3. [ „a)" UND „[ „b)" als [ a) und
b) ]" ], als Einheit der entgegenge-
setzten Bestimmungen a) und b) erfassen. ]] [Synthese]
Das Denken als Vernunft ist das Denken (Erzeugen!) des
konkreten Inhalts (Gegenstand des Bewußtseins), als Resultat von
c); indem die eben skizzierte Bewegung stattfindet ergibt sich der Übergang
zur Synthese, wird sowohl eine weitere Entwicklungsstufe des Bewußtseins
(Bewußtseinsgrad) als auch ihr neuer Gegenstand hervorgebracht. Das
Bewußtsein erzeugt sich selbst und seinen Gegenstand; Subjekt erzeugt
sich selbst und das Objekt.
4. Das An-und-für-sich-Bestimmte
Der Gegenstand nun aber, der ein „An-und-für-sich-Bestimmter" ist, kann seinerseits nur ein „ideeller", kein materieller sein, insofern der eigentlich materiel-le Inhalt schon bereits im Begriff von dem Gegenstande, im Ansich-fürs Be-wußtsein, verschwindet, ein zentrales Moment, welches wir in der Einleitung zur „Phänomenologie" dargestellt finden:
„Dies bietet sich so dar, daß, indem das, was zuerst als der Gegenstand erschien, dem Bewußtsein zu einem Wissen [=ideell! d. A.] von ihm herabsinkt, und das An-sich zu einem Für-das-Bewußtsein-sein des An-sich wird, dies der neue Gegenstand ist, womit auch eine neue Gestalt des Bewußtseins auftritt, welcher etwas anderes das Wesen ist als der vorhergehenden".
Sobald und indem sich also das Bewußtsein auf seinen
ihm auf dieser Stufe entsprechenden Gegenstand, einem inhaltlich-konkreten,
materiellen „Dieses" (Haus, Baum...) bezieht, ist der Gegenstand im Begriff
oder Wissen des Bewußtseins von ihm (dem Gegenstand) aufgehoben,
darin verschwunden; der Gegenstand ist verschieden, er ist nicht mehr (Wesen);
er ist im Wissen des Bewußtseins nicht mehr, als was er ursprünglich
war: unmittelbar. Im Verlaufe der „Erfahrung des Bewußtseins"
ist damit ein weiterer Bewußtseinsgrad hervorgebracht, dessen neuer
Gegenstand nun sein Wissen vom ersten Gegenstand ist, der neue Gegenstand
ist also ein ideeller.
Hat das Denken sich selbst zum Gegenstand, kommt es zur
„vernünftigen", mit sich selbst vermittelten Identität von Subjekt
und Objekt (siehe oben: Denken als Vernunft). Wenn das Denken ein „materiell
Behaftetes" zum Gegenstand hat, kommt es zur verstandesmäßigen
Trennung von „Ansich" (leerer Gegenstand) und der von außen daran
herangetragenen Bestimmung dieses Ansich zum Ansich-fürs-Bewußtsein
(Begriffsbildung über das Ding). Es findet eine Entleerung alles materiell
Behafteten, und eine Verdichtung hin zum Begriff statt, bis Begriff und
Gegenstand beieinander angekommen sind, nämlich dem ideellen Begriff
er selbst als ideeller Gegenstand gegenübersteht. Der Begriff begreift
sich selbst.
Das Bewußtsein „gewinnt sich" also, „und
schließt sich auf in der Beziehung zu seinem Inhalt" . „Wahrheit",
absolut und nicht nur vorläufig, liegt erst dann vor, wenn sich das
Bewußtsein selbst zum Gegenstand hat (Begriff des Begriffs), der
Gegenstand also mit seinem Begriff und umgekehrt übereinstimmt, vermittelt
identisch ist.
5. Grade der Wahrheit und ihre Beschränkung
Insofern es aber verschiedene Grade des Bewußtseins
gibt, die sich jeweils auf den ihnen entsprechenden Gegenstand auf dieser
Stufe beziehen, gibt es auch Grade der Wahrheit. Entspricht doch der „sinnlichen
Gewißheit" als erster und unmittelbarster Bewußtseinsstufe
das „reine Sein" als etwas „ist". „Diese einfache Unmittelbarkeit
macht ihre Wahrheit aus" , nämlich die Wahrheit der sinnlichen Gewißheit.
Es entsprechen sich hier (zunächst) Gegenstand und Bewußtseinsgrad
(Begriff).
Ein „Widerspruch" taucht allerdings auf, wo dieses reine
Sein von Etwas, das „ist", inhaltlich-konkret zwar als ein einzelnes „Haus",
„Baum" etc. erscheint, jedoch inhaltlich auswechselbar ist und damit (in
der Allgemeinheit) verschwin-det, und lediglich begrifflich über Platzhalter
wie „hier", „da", „jetzt" (räumlich-zeitlich) eine Art von Konstanz,
Bleibendem erhält. Das Ungenügen liegt also in dem „Verschwinden"
des eigentlichen Inhalts (Haus, Baum) im Begriff davon, also sobald der
Begriff es erfaßt, ist es verschwunden.
Daher ist auch die auf dieser Stufe vorliegende Wahrheit
eine beschränkte. Insofern sich das Denken auf einen materiell behafteten
Gegenstand bezieht, treten die Widersprüche auf. Das Geschäft
der Dialektik ist es dabei, diese Wi-dersprüche aufzuheben, solange,
bis nach einem „Letztumschlag" von These und Antithese in Synthese, das
Absolute Wissen erreicht ist (das sich selbst wissende Wissen, Denken des
Denkens), in welchem keine Widersprüche mehr auftauchen, in welchem
nichts mehr „verschwindet": Ideelles Denken, was sich auf sich selbst als
einen ideellen Gegenstand bezieht, und wo auch keine Dialektik mehr vonnöten
ist. Dialektik und damit Bewegung stehen also im Dienste der Ruhe, des
Absoluten, der „Vollkommenheit", welche die ver-mittelte Subjekt-Objekt-Identität
sein soll.
6. Primat der Idee und "Mangel im Materiellen" als Kern der Dialektik
Nun gilt aber, infolge des Primats der Idee:
„Alle Gegenstände haben ein Unwahres an sich, dies objektiv Unwahre hängt mit ihrer Endlichkeit zusammen, das heißt, mit der Unabgemessenheit zu ihrem vollen Wissen-Gewußtsein (>Begriff<)."
Das impliziert wiederum, daß erst dann, wenn ein Gegenstand nicht mehr materiell behaftet, also kein materieller mehr ist, sondern ein ideeller, es keinen Widerspruch mehr zwischen (materiellem) Inhalt und (ideellem) Bewußtsein gibt. Wann immer noch Widersprüche dieser Art ("Mangel", welcher der Kern der Dialektik ist, oder wie Hegel es ausdrückt, „Ungleichheit der Substanz zu sich selbst" ) vorliegen, treibt sie die Dialektik weiter, solange, bis nichts Mangelhaftes, nichts Widersprüchliches mehr vorliegt, sondern Volkommenheit ein-tritt, alle Widersprüche aufgehoben sind; indem
„[...] der Geist sein Dasein seinem Wesen [= ideell, d.
A.] gleich gemacht [hat]; er ist sich Gegenstand, wie er ist, und das abstrakte
Element der Unmittelbarkeit und der Trennung des Wissens und der Wahrheit
ist überwunden."
7. Das Anliegen der Phänomenologie
Nach einigen erkenntnistheorethischen Bemerkungen zum
Problem, wie sich das Erkennen zu seinem Gegenstand, dem „Absoluten", verhalte
bzw. nicht verhalte , bringt Hegel in seiner Einleitung zur „Phänomenologie
des Geistes" zunächst sein Anliegen vor: Darstellung der Wissenschaft,
„wie sie an und für sich ist" , oder Selbsterkenntnis des absoluten
Wissens, wie und was es an sich selbst ist.
Dabei ist der Gegenstand dieser Darstellung das durch
verschiedene Stufen hindurch anders erscheinende, nämlich entäußerte
oder vergegenständlichte Wissen selbst, auf welches sich das Bewußtsein
ebenso stufenweise und sich verändernd beziehen soll. Derart entsprechen
sich „der Weg des erscheinenden Wissens" und der „[...] Weg des natürlichen
Bewußtseins, das zum wah-ren Wissen dringt [...]." So ist auch
„die Reihe seiner Gestaltungen [= Entäußerungen, Erscheinungen, d.A.], welche das Bewußtsein auf diesem Wege durchläuft, [...] vielmehr die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft."
Das Bewußtsein wandert also „erfahrend" durch diese „Reihe seiner Gestal-tungen", bis es sich selbst zum Gegenstand hat, und damit „[...] zur Kenntnis dessen gelangt, was [es d. A.] an sich selbst ist."