Platon’s "Kratylos":
Historisch-philosophische  Hintergründe und Analyse
der im Dialog vertretenen Positionen

Teil I

Stella Bühler
Canisiusstr. 27
55122 Mainz
 

Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Philosophie
Sommersemester 1997
Proseminar: Platons Kratylos
Leitung: Dominic Kerstjens
HF: Buchwissenschaft 04
NF: Philosophie 02
       Soziologie   04

                                            Inhalt

I. Vorwort                                                                                 3

II. Einleitung                                                                             4
III. Historisch - Philosophischer Kontext                                  5
IV. Analyse der im Dialog "Kratylos" vertretenen Positionen    8
       1. Position des Hermogenes                                               9
       2. Position des Kratylos                                                   10
       3. Position des Sokrates Teil I:                                        11

          3.1. Hermogenes-Sokrates                                            11

          3.2. Exkurs: Ideen - Anamnesis - Ideenschau               13

          3.3. Erläuterung des Verhältnisses
                 Erscheinungswelt-Bezeichnung
                 durch Sokrates                                                       14

          3.4. Der Etymologien-Teil                                             15

 4. Position des Sokrates Teil II:      Kratylos-Sokrates            16

V. Schlußbetrachtung                                                              17

VI. Literatur                                                                             19
 
 

I. Vorwort
 

Zu Beginn der folgenden Analyse des Platon’schen Dialoges „Kratylos" soll auf einige proble-matische Aspekte aufmerksam gemacht werden, allem voran auf die Übersetzungsproblematik des altgriechischen Textes in die deutsche Sprache, sowie auf die gängige wissenschaftliche Vorgehensweise, den Dialog „Kratylos" ausschließlich unter sprachphilosophischen Gesichts-punkten zu betrachten.

Die der Analyse zugrundeliegende deutsche Übersetzung des „Kratylos", „nach [Herv. d. V.] der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergaenzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl und anderen" , weist eine Problematik auf, die zu einer Einschränkung der Argumentation beiträgt.
Grundsätzlich stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sprache überhaupt, denn Denken ist nicht mit Sprache identisch, sondern die Sprache stellt lediglich ein Werkzeug dar, das unter anderem Denken zum Ausdruck bringen kann. Wird nun ein in Sprache festge-haltenes Denken oder eine philosophische Überlegung von der Originalsprache in eine andere Sprache übersetzt, besteht die Gefahr, daß das hinter der Sprache stehende Denken z.B. gar nicht erfaßt und somit auch nicht übertragen wird, oder daß das Denken zwar erfaßt wird, der in der Übersetzung aber erscheinende spezifische philosophische Begriff nicht mit Präzision auf den ursprünglichen Gedanken hinweist.
Tauchen nun in der Übersetzung des Dialoges „Kratylos" spezifische philosophische Begriffe wie „Vernunft" , „vernünftig"  oder „an und für sich"  auf, die durch neuzeitliche Philosophen wie Kant und Hegel geprägt sind, läuft die Übersetzung Gefahr, sich sehr weit von der ur-sprünglichen philosophischen Aussage des altgriechischen Textes zu entfernen. So hat z.B. we-der der heutzutage mit „Vernunft" verbundene Gedankeninhalt noch der Kant’sche Vernunft-begriff  etwas mit dem gemein, was darunter in der griechischen Antike verstanden wurde, wo im Hintergrund ganz spezielle ethische Vorstellungen, Werte und Normen stehen, die auf Eigenschaften wie z.B. „Besonnenheit" und „Mannhaftigkeit" (im ganz wörtlichen Sinne!) ba-sieren. Ebenso leugnet die Wortwahl „Knecht"  anstatt Sklave ganz einschneidende, damalige philosophisches Gedankengut bestimmende gesellschaftliche Verhältnisse weg. Interpre-tationsschwierigkeiten ergeben sich außerdem bei der Verwendung von Wörtern mit zweifa-cher Bedeutung, wie z.B. am Ende des ersten Abschnittes, wenn Platon Sokrates zusammen-fassen läßt, was bei der Untersuchung über die Richtigkeit der Wörter bis zu diesem Zeitpunkt „klar gegen das vorige [ist], daß das Wort von Natur eine gewisse [Herv. d. V.] Richtigkeit hat" , denn „eine gewisse Richtigkeit" kann sowohl eine sichere, absolute Richtigkeit im Sinne von Gewißheit, als auch eine partielle Richtigkeit bedeuten.

Fast unzugänglich ist der Etymologienteil dieser Übersetzung, da versucht wurde, die Herleitung griechischer Wörter im Deutschen nachzuahmen, und so wird dieser Teil in der vorliegen-den Analyse lediglich mit allgemeinen Bemerkungen abgehandelt werden.
Nun zur Einordnung des "Kratylos" in das Gesamtwerk Platons. In der Regel wird der Dialog "Kratylos" als sprachphilosophisches Werk bezeichnet und als solches behandelt , es soll allerdings an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß weitaus mehr Aspekte gleichwertig mit-laufen, wie z.B. das Element der Ideenlehre, die scheinbar nur in einem kurzen Schlußstück angesprochen wird, sich aber bei näherer Untersuchung als insgesamt für die Argumentation des Sokrates relevant herausstellt. Das Werk „Kratylos" wird daher nicht abgeschnitten von dem Gesamtwerk Platons und seinen philosophisch-historischen Bedingungen untersucht werden, sondern es ist nach Ansicht der Verfasserin unabdingbar, die zentralen philosophisch-historischen Bezüge zu analysieren und darzustellen, um die philosophische Tendenz des „Kratylos" klar herausstellen zu können.
 

II. Einleitung

Im Dialog „Kratylos" läßt Platon drei Figuren -Hermogenes, Kratylos und Sokrates- auftreten, die das Problem des Zustandekommens von Worten diskutieren wollen, wobei sich auf den er-sten Blick zwei Erklärungen bzw. Positionen gegenüberstehen, nämlich ob Wörter auf Setzun-gen beruhen, was Hermogenes vertritt, oder ob sie von Natur aus den Dingen beigelegt sind, wie Kratylos behauptet.
Sokrates selbst scheint keine eigene Vorstellung oder gar Theorie darüber zu haben, er wird von Hermogenes und Kratylos zu dieser Unterredung dazugebeten, um das Problem gemein-sam zu untersuchen; er ist derjenige, der hauptsächlich Fragen stellt, Zusammenfassungen gibt und scheinbar ganz „objektiv", d.h. ohne auf eigene Prämissen und Vorstellungen zurückzu-greifen, versucht, an die Fragestellung heranzukommen. Das Ende des Dialoges legt nahe, daß keine „Lösung" gefunden wurde, und die Fragestellung weiteren Untersuchungen bedarf.

Unter einem anderen Blickwinkel kann man allerdings feststellen, daß die gestellten Fragen des Sokrates rethorische sind, daß Platon ihn durchaus eine Position vertreten läßt, auf die er mit den gestellten Fragen hinweist. Der „Dialog" kann insofern nur unter Vorbehalt als solcher bezeichnet werden, als Sokrates das gegebene Forum nicht unbedingt zu einer gemeinschaftli-chen Untersuchung nutzt, um zu sehen, „ob es sich so wie du [Hermogenes d. A.] meinst verhält, oder wie Kratylos" , sondern um darzustellen, wie fehlerhaft deren Positionen sind, und um unter der Hand die eigene Position aufzubauen. Dies wird auch daran sichtbar, daß Kratylos, und extremer noch Hermogenes, hauptsächlich zustimmende Bemerkungen wie „ja", „freilich", „allerdings" oder „ganz vollkommen richtig", formulieren, aber keinen ernsthaften und eigenständigen Diskussionsbeitrag leisten. Echte Rede und Gegenrede, die den platoni-schen Dialog bestimmen sollen , um den Sachverhalt vorwärts zu treiben, findet nicht statt, die Figur des Sokrates ist in jeglicher Hinsicht führend.

In der vorliegenden Arbeit soll nun dargestellt werden, daß und inwiefern die Position von Hermogenes auf einer Berücksichtigung der Ebenen:
            - Erscheinungswelt - Bezeichnung - Benenneer - Übereinkunft, -
die Position des Kratylos, auf einer Berücksichtigung den Ebenen:
- von Natur aus - Erscheinungswelt - Bezeichnung - Benenner -    basiert,
und daß die jeweiligen Positionen von Hermogenes und Kratylos sich als zwei Seiten oder Extreme derselben Sache, nämlich als die in der Position des Sokrates vereinten, aufeinander bezogenen Momente seiner Theorie erweisen, die sich als Kombination der Ebenen Ideenwelt - Erscheinungswelt - Bezeichnung - Benenner - Übereinkunnft, herausstellt, und der „Dialog" somit durchaus ein Ergebnis bzgl. einer Sprachtheorie liefert.

Dem Haupteil geht eine Skizze des philosophisch - historischen Hintergrundes Platons voraus, wobei eine Standortbestimmung des Dialoges "Kratylos" bzgl. seiner Funktion innerhalb der Philosophie Platons versucht wird. Im Verlauf der Positionsanalyse wird, speziell an der Position des Sokrates und seiner Art und Weise der Fragestellung bzw. der von ihm aufgegriffenen Punkte und Beispiele gezeigt, inwiefern hier der gegebene historische Kontext, nämlich die gesellschaftlichen, also ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse der griechischen Sklavenhaltergesellschaft, philosophisch reflektiert werden.
Nach dem Ermessen der Verfasserin spielt die Ideenlehre Platons bereits im Dialog „Kratylos" eine zentrale Rolle, auch wenn diese hier nur angedeutet wird und ausgearbeitet erst in seinem sogenannten „Alterswerk" erscheint, denn man kann bei sogenannten „großen Philosophen", zu denen Platon gezählt wird, sehen, daß sich Kernpunkte ihrer Philosophie  durch das ganze Werk ziehen, sich früh andeuten, entwickelt und präzisiert werden und derart in verschiedener Weise ihren Ausdruck finden. Auch müssen zentrale, philosophische Gedanken, um überhaupt angedeutet werden zu können, eine im Hintergrund stehende breite Basis an Überlegungen haben, und so wird auch vermutet, daß Platon die in seinen Werken schriftlich angedeuteten Zusammenhänge in den Lehrgesprächen sehr viel tiefergehender behandelte.
Bei Überlegungen zur Person des Sokrates und seiner Funktion im Dialog „Kratylos" muß in Betracht gezogen werden, daß keine schriftlichen Zeugnisse von ihm selbst überliefert sind, und die Quellen von Platon, Aristophanes und Xenophon, die über Sokrates berichten, sich sehr voneinander unterscheiden , womit es fast unmöglich wird, aufzuzeigen, inwiefern die im Dialog vorkommende Argumentation sokratischen bzw. platonischen Ursprung hat. Nach dem Ermessen der Verfasserin ist jedoch für die ganze Untersuchung festzuhalten, daß Platon als einer der Hauptvertreter, sogar „Begründer" einer der beiden Hauptströmungen der Philo-sophie, nämlich der (griechischen) idealistischen Strömung gilt, deren Bezeichnung von der spezifischen Antwort auf die philosophische Grundfrage nach dem Wesen der Dinge, der Voraus-Setzung eines ideellen, geistigen Prinzips, im Falle von Platon der „Idee", herrührt.
Diese für Platon gültige Prämisse, das Primat des ideellen Prinzips, der „Idee" (sowie den impliziten philosophischen Aussagen und Wertungen - zur weiteren Ausführung siehe folgenden historisch-philosophischen Kontext), drückt sich im Dialog „Kratylos" aus, insofern sie den Hintergrund darstellt, vor dem Platon seine als „Hermogenes", „Kratylos" und „Sokrates" benannten Personen argumentieren läßt.

(FORTSETZUNG)