Platon’s "Kratylos":
Historisch-philosophische Hintergründe und Analyse
der im Dialog vertretenen Positionen

(Teil II

Stella Bühler
Canisiusstr. 27
55122 Mainz

Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Philosophie
Sommersemester 1997
Proseminar: Platons Kratylos
Leitung: Dominic Kerstjens
HF: Buchwissenschaft 04
NF: Philosophie 02
       Soziologie   04
 

III. Historisch - Philosophischer Kontext

Der historische Kontext, in dem Platons Philosophie entsteht und durch welchen sie bedingt wird, ist durch die Gesamtheit der gesellschaftlichen, also den ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnissen der antiken Sklavenhaltergesellschaft gegeben, die durch extreme Gegensätze oder Dualismen wie „geistige Tätigkeit versus körperliche Arbeit", „Freie versus Sklaven", „Herrscher versus Beherrschte", „Männer versus Frauen", charakterisiert sind.
Sklaven, und erst recht Frauen, finden in der „polis", dem griechischen Stadtstaat , in dem das öffentliche Leben der Bürger stattfindet, kaum Berücksichtigung, sie fungieren, mit wenigen Ausnahmen, also nicht politisch und weniger noch philosophisch. Die wenigen Ausnahmen bilden die „Hetären", eine Art hochgebildeter und damit gesellschaftsfähiger Huren, bei denen die Männer außer körperlichen Diensten auch geistige Anregung finden, die sie bei ihren dumm gehaltenen und daher ungebildeten Ehefrauen nicht antreffen können.
Ihre tatsächliche Funktion finden sowohl Sklaven als auch Frauen als ökonomisch Ausge-beutete, insofern sie darauf reduziert sind, körperliche Arbeit zu verrichten, die materielle Basis zur Sicherung des kollektiven Überlebens zu produzieren, sich um die Erziehung der Nachkommenschaft zu kümmern und somit den Männern der herrschenden Klasse den Rücken  für geistige Tätigkeiten frei zu halten.
Als mündiger, denkender und freier Bürger, zählt nur der Mann der herrschenden Klasse, er ist derjenige, der in ökonomischer, politischer und philosophischer Hinsicht das Handeln und Denken bestimmt, und von dem es Wert ist, bestimmt zu werden. Tatsächlich getragen wird die Polis-Gesellschaft allerdings von den Nicht-Bürgern, Sklaven und Hausfrauen, in anderen Worten von deren ökonomischer Ausbeutung, politischer Unterdrückung und gesellschaftlicher, sozialer Diskriminierung. Arbeit, genauer manuelle bzw. körperliche Arbeit, gilt als gesellschaftliche Schande, da sie sich ja mit dem materiellen „Dreck" herumschlägt, welcher der feingeistigen oder besser „rein-geistigen" Welt der griechischen Philosophen und männlichen Polis-Teilnehmern gänzlich zuwider ist.
Philosophisch reflektieren sich diese gesellschaftlichen Aspekte in einer der griechisch-ideali-stischen Philosophie spezifischen Seins-Abstufung und Seins-Wertung , welche mit den phi-losophischen, patriarchalischen Dualismen „Geist versus Materie" und „das Männliche versus das Weibliche" zu tun hat.
Dualismus heißt hier, daß die jeweiligen zwei Aspekte in einem Nicht-Verhältnis zueinander stehen, in dem die eine Seite  mit der anderen insofern nichts zu tun hat, als sie sich konträr gegenüberstehen und einen Gegen-Satz bilden. Während der eine Aspekt das Wahre, Schöne und Gute verkörpert, rangiert der andere nur „unter ferner liefen", was mit dem formal-logischen „entweder-oder" zu tun hat, denn es können nicht beide Aspekte zugleich wahr, schön und gut sein. Eine Seite hat stehts die undankbare Rolle  das „Un-" oder „Nicht-" zu ver-körpern, damit das fragliche Wahre, Schöne und Gute um so besser dasteht.
Zwischen den beiden Extremen der dualistischen Ordnung herrscht eine Hierarchie, an deren oberster Spitze bei Platon ein geistiges, ideelles Prinzip, die „Idee" steht. Ganz unten in der Hierarchie steht das Stoffliche, das Materielle, die Materie, das Geistlose. Zwischen den beiden Extremen liegt ein ganzes Spektrum von Geist-Materie-Kombinationen, also mit Körper behaf-tetem Geist. Je weniger nun der Geist (Idee, Form, etc.) mit Körper behaftet ist, desto wahrer, wirklicher, schöner und besser ist er. Die Seins-Abstufung ist also mit einer Wertung gekop-pelt: der reine, körperlose Geist ist das Wirklich(st)e, dasWahrhaftig(st)e, das Schön(st)e, das Beste, und in nächster Nähe zum Geistigen, Wirklichen rangieren die vernunftbegabten, ver-standesmäßigen Männer (Nicht-Sklaven, letztendlich: Philosophen), auch wenn sie mit einem Körper behaftet sind. Die geistlose Materie ist das Unwirklich(st)e schlechthin, das Un-wahr(st)e, das Häßlich(st)e, das Schlechte(st)e, und in allernächster Nähe zur bloßen geistlosen Materie rangieren Frauen, selbst wenn sie ein denkendes Gehirn, also in Platons Sprache eine „Seele" aufweisen.
Zu Platons Auffassung bzgl. Männern, Frauen und anderen „Kreaturen", läßt sich eine auf-schlußreiche Tendenz in dem als „Alterswerk" eingestuften „Timaios"  finden, wo er im Rah-men seiner Kosmogonie seine „Seelenlehre" im Sinne einer Seelenwanderung darstellt. Danach werden feige oder unaufrichtige MÄNNER (= Menschen !) in ihrem nächsten Leben dazu ver-dammt Frauen zu sein, insofern das Feige und Unaufrichtige „Charaktereigenschaften" des Frauenhaften sind. Unschuldige, leichtgläubige Männer werden in ihrem nächsten Leben zu Vögeln, da Unschuld und Leichtigkeit „Charaktereigenschaften" des Vogelhaften sind. Män-ner, die überhaupt keine „Philosophie" haben, werden zu tumben Landtieren, und die dümm-sten und blödesten Männer werden in ihrem nächsten Leben zu Fischen, da Dummheit und Blödheit das Fischhafte charakterisieren. Das bedeutet, die Seins-Hierarchie läuft vom Geistig-Gotthaften über das Mann-Menschhafte hinab zum Frauen-Tierhaften, wo dann kaum mehr „Seele" oder „Geist" anzutreffen ist.
Auch im Dialog „Kratylos" findet die der griechisch-idealistischen Philosophie spezifische, eben skizzierte Seins-Wertung und Seins-Abstufung ihren Ausdruck. So läßt Platon Sokrates an Hermogenes z.B. die Frage richten, ob nun Männer oder Frauen die „Vernünftigeren" seien, („im Allgemeinen" natürlich, denn zumindest die oben genannten Hetären können mit den Ehefrauen, die nicht mehr als Dienstboten darstellen, nicht „über einen Kamm geschert wer-den"), und er läßt Hermogenes bestätigen, daß die „Vernunft" dem Männlichen zuzuordnen sei.  Ebenso findet die Zuordnung Männliches-Tapferkeit versus Weibliches-Werdendes (lies: Gebährendes) statt , d.h. die Funktion von Frauen besteht hauptsächlich darin (möglichst männliche) Nachkommen zu erzeugen, in Politik und Philosophie, in der „Vernunft" oder auch „Tapferkeit" (geistige Attribute) gefordert sind, haben sie wegen ihres „weiblichen Wesens" (ihrer „Materiehaftigkeit") nichts zu suchen.

Unter den eingangs skizzierten gesellschaftlichen Bedingungen bildet sich nun das heraus, was gemeinhin als die „Blütezeit" Athens, geprägt von ihrer Entwicklung zur Handelsstadt und einer noch jungen (Slavenhalter-)Demokratie, bezeichnet wird, in welcher Individuen, insofern sie männliche, freie Bürger sind und über die nötigen ökonomischen Mittel verfügen, politi-schen Einfluß nehmen können, wenn sie in der Lage sind, sich mithilfe von Rhetorik und Beredsamkeit als „fähige" Persönlichkeiten darzustellen. Notwendigerweise wird damit ein Interesse für Sprache wach, für ihre Herkunft und Entwicklung, ihren Aufbau und ihre Logik, und vor allem für ihre Wirkung und ihr Vermögen in gesellschaftlicher und politischer Hin-sicht.
Besonders die griechischen Sophisten richten ihre Aufmerksamkeit auf den zielgerichteten, effizienten  Einsatz der Sprache, und der von Sokrates angeführte Prodikos  (welcher sich mit der Untersuchung von Synonymen auseinandergesetzt hat), soll die Meinung vertreten haben, daß die Schüler vor allem im richtigen Gebrauch der Worte unterwiesen werden sollen.
Sprache findet als gesellschaftliches Produkt und gleichzeitig als Mittel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ihre Bestimmung im Sozialisationsprozeß (Erziehungs-system); sie stellt insofern einen der Grundpfeiler zur Aufrechterhaltung der bestehenden pa-triarchalisch-dualistischen Gesellschaftsordnung dar, als mit ihrer Hilfe der Prozeß von Mani-pulation und Ideologisierung frühzeitig eingeleitet werden kann. Platon bejaht als Angehöriger der herrschenden Klasse die bestehenden Verhältnisse der griechischen Sklavenhaltergesell-schaft und weiß um die Bedeutung und das Vermögen von Sprache. Bezüglich dieses Aspektes läßt er Sokrates im Dialog „Kratylos" sehr deutlich werden, indem er ihn den Werkzeugcha-rakter von Worten und damit Sprache häufig betonen, und Worte bzw. Sprache in ihrer Funk-tion der „Belehrung" darstellen läßt.  Des weiteren wird festgehalten, „daß sie [die Rede d.A.] zwiefach ist, wahr und falsch" , daß aber, „wer sich auf die Wörter versteht", gleich einem Arzt, der sich auf Medizin versteht, nicht „irre machen [läßt d.A.] durch Beimischungen" , der „Unkundige" durchschaut die Angelegenheit jedoch nicht .
In anderen Worten impliziert dies, daß ein Teil der Gesellschaft aus kundigen Personen be-steht (Männer der herrschenden Klasse), welche die Sprache kontrolliert zu bestimmten Zwek-ken einsetzen können, um die für sie vorteilhafte, bestehende Ordnung zu festigen. „Wahrheit" und „Lüge" ist dabei von den Unkundigen (den bewußt unkundig gehaltenen Nicht-Bürgern, Sklaven und Frauen) kaum zu erkennen. Da Sprache mit dem dahinter stehenden Denken nicht identisch ist, kann so die „Belehrung" bereits in der sogenannten Kinderstube unbemerkt ein-setzen, womit die „Unkundigen" (z.B. Mütter, Ammen) in paradoxer Weise letztendlich selbst zu Verteidigern des status quo werden. Eine derart bemerkenswerte Konzeption von Regenten, die „zum Wohle des Volkes" lügen dürfen, eine Erziehung, die eher der geistigen Um-nachtung dient und über die Bedingungen, die geschaffen werden sollen, damit die Zahl derer, die die „Wahrheit" wissen relativ klein bleibt, wird  Platon später in seiner "Politeia" sehr viel ausführlicher und präziser darstellen, die Grundrisse dieser Zusammenhänge sind im Kratylos jedoch bereits sichtbar.

(FORTSETZUNG)