Platon’s "Kratylos":
Historisch-philosophische Hintergründe und Analyse
der im Dialog vertretenen Positionen

Teil III

Stella Bühler
Canisiusstr. 27
55122 Mainz

Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Philosophie
Sommersemester 1997
Proseminar: Platons Kratylos
Leitung: Dominic Kerstjens
HF: Buchwissenschaft 04
NF: Philosophie 02
       Soziologie   04
 
 
 
 

IV. Analyse der im Dialog "Kratylos" vertretenen Positionen

Vor einer detaillierten Analyse der verschiedenen Positionen, die im Dialog "Kratylos" vertre-ten werden, nochmals eine Darstellung des „Settings", des Rahmens, der die Kommunikations-situation bestimmt. Drei Personen läßt Platon auftreten, Hermogenes, Kratylos und Sokrates, wobei vor dem Hinzutreten des Sokrates zwischen Hermogenes und Kratylos bereits eine Dis-kussion stattgefunden haben muß, die jedoch zu keiner Lösung der darin behandelten Fragestellung führte, weshalb Hermogenes zu Beginn der Dialogs die Initiative ergreift und unter Zustimmung des Kratylos Sokrates zu dieser Unterredung hinzuzieht.  Wie sich im Verlauf des Gesprächs herausstellt, dreht sich die Fragestellung um das Verhältnis zwischen einem Gegenstand und seiner Bezeichnung, wobei Hermogenes die Position vertritt, daß es keine „[...] andere Richtigkeit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet" , d.h. das konstitutive Element von Sprache besteht für ihn in der Setzung, während Kratylos laut Hermogenes von dem Standpunkt ausgeht „jegliches Ding habe seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung" , was auf eine idealsprachliche Konzeption hindeutet. Hermoge-nes bittet nun Sokrates darzustellen, wie es seiner Meinung nach um die „[...]Richtigkeit der Benennungen stehe[...]" , woraufhin Sokrates vorgibt, nicht zu wissen, „wie es sich eigentlich mit dieser Sache verhält" , da er zu diesem Thema bei dem Sophisten Prodikos nur den billigen Vortrag zu einer Drachme gehört hat, und deshalb vorschlägt, die Frage gemeinschaftlich zu untersuchen um herauszufinden „ob es sich so wie du [Hermogenes d.A.] meinst verhält oder wie Kratylos" . Auch im weiteren Verlauf des Dialogs scheint Sokrates nur diese beiden Alternativen zu diskutieren, betont seine Unwissenheit  und gibt sogar vor, nur ein Sprachrohr euthyphronischer Weisheit zu sein , aber Kratylos deutet auf die Möglichkeit hin, „daß eine andere Muse dir [Sokrates d.A.] schon lange [Herv. d. A.] unbewußt eingewohnt hat" . Das heißt, Sokrates hat durchaus seine eigenen Vorstellungen, bereits eine eigene Position zur genannten Fragestellung, die sich, wie im Verlauf der Analyse gezeigt werden wird, aus den zwei Positionen von Hermogenes und Kratylos zusammensetzt, oder in anderen Worten: die Positionen von Hermogenes und Kratylos bilden die zwei Seiten derselben Sache, der Position des Sokrates.

1. Position des Hermogenes

Die Ebenen, welche Platon Hermogenes bezüglich der Richtigkeit der Worte in dessen Position ansprechen läßt, betreffen die Erscheinung (den Gegenstand selbst), die Bezeichnung (Be-nennung, Name, Wort, Begriff vom Gegenstand), den Benenner, und, was für seine Argumentation konstitutiv ist, Vertrag bzw. Übereinkunft.
Das Verhältnis Erscheinung - Bezeichnung ist, laut Auffassung des Hermogenes, durch menschliche Setzung geprägt, das bedeutet, die Bezeichnung bezieht sich nicht inhaltlich auf die Erscheinung, die Benennung drückt nicht etwas Charakteristisches, den Begriffsinhalt eines Gegenstandes aus, es gibt keine Individualnamen, sondern der Benenner ordnet den Din-gen eine relativ willkürliche Bezeichnung zu. Da es für Hermogenes keine Richtlinien inhaltli-cher Art, keinen als „außerhalb" der Gegenstände (Erscheinungen) und der die Dinge benen-nenden Individuen voraus-gesetzten, und ihnen übergeordneten Bezugspunkt im Sinne eines Maßstabes „richtig - falsch" hinsichtlich der Bezeichnung von Dingen gibt, ist einzig relevan-ter Bezugspunkt der „Benenner" selbst. Ihm, Hemogenes, gilt infolge dessen jegliches Wort grundsätzlich als „richtig"; es gibt vor dem Hintergrund seiner Position deshalb kein Problem, wenn „dasselbe Ding öffentlich und allgemein Mensch [heißt d.A.], bei mir besonders aber Pferd" . Grundsätzlich vertritt Hermogenes die Ansicht, „daß es [keine d. A.] andere Richtig-keit der Worte gibt, als die sich auf Vertrag und Übereinkunft gründet."  Hierbei ist es wich-tig, die zwiefache Ausprägung von „Übereinkunft" (Vertrag) hervorzuheben, die sowohl eine „Übereinkunft mit sich selbst", als auch eine Übereinkunft mehrerer Personen untereinander sein kann, was Hermogenes folgendermaßen formuliert:

 „Ich [...] weiß von keiner anderen Richtigkeit der Benennungen als von dieser, daß ich jedes Ding mit einem andern Namen benennen kann, den ich ihm beigelegt habe, und du wieder mit einem andern [...]. Und so sehe ich auch, daß für dieselbe Sache bisweilen einzelne Städte ihr eigenes eingeführtes Wort haben, und Hellenen ein anderes als andere Hellenen, und Hellenen auch wiederum andere als Barbaren."

Die Kompetenz, Worte (Benennungen, Begriffe) festzusetzen, schreibt Hermogenes sowohl der jeweiligen „Einzelperson" zu, wobei am Beispiel der Benennung von Sklaven auch schon klar wird, daß derjenige, der die Setzung bestimmt, nicht der Sklave, sondern der Sklavenhalter  ist, und daß Vertrag und Übereinkunft somit nichts mit einer gesamtgesellschaftlichen Abma-chung zu tun haben. Im Grunde genommen spiegeln sich hier die gesellschaftlichen Verhält-nisse der oben dargestellten sogenannten griechischen „Demokratie" wieder, tradiert und zur Gewohnheit gemacht wird nur das, was die herrschende Klasse in ihren Absichten unterstützen kann, nicht was jedweglicher Person in den Sinn kommt.
Daher zeigt sich auch das von Hermogenes unberücksichtigte Problem der Verwendung unter-schiedlicher Benennungen (Wörter, Bezeichnungen, Begriffe) eines spezifischen Dinges (Ge-genstand, Erscheinung) als relativ unerheblich, auch wenn es für eine Erscheinungsform mehrere Bezeichnungen gibt und dem Anschein nach jeder willkürlich diese Bezeichnungen verwenden oder abändern kann, denn sobald es darum geht, mittels Sprache etwas auszu-richten, etwas zu erreichen, muß der Sprachduktus benutzt werden, der sich innerhalb der je-weiligen Komunikationssituation als vorherrschend erwiesen hat.
 

2. Position des Kratylos

Kennzeichnend für die Position des Kratylos ist die Vermitteltheit, in der sie auftaucht. Platon läßt Kratylos selbst keine zusammenhängende Darstellung formulieren, sondern läßt Hermoge-nes die Grundtendenz dessen Argumentation zu Beginn des Dialogs darstellen, und in der Beantwortung der Fragen, die Sokrates Kratylos stellt, finden die weiteren Elemente dieser Posi-tion ihren Ausdruck. Dabei zeigt sich aber, daß Kratylos seine Position sehr viel energischer gegenüber Sokrates verteidigt als Hermogenes , der den Ausführungen des Sokrates grund-sätzlich nur zustimmt, auch wenn es seinen Grundprämissen völlig widerspricht.
Kratylos Position basiert auf der Annahme, daß „jegliches Ding [...]seine von Natur ihm zukommende richtige Bennenung"  hat, es also eine „natürliche Richtigkeit der Wörter"  gibt. „Natürliche" Richtigkeit, „Natur", meint hier nicht stoffliche, materielle Natur, sondern daß die Benennung „anzeigt wie die Sache beschaffen ist" , also auf das Wesen, auf die Idee der Erscheinungsform hindeutet.
Das Verhältnis Erscheinungsform (Gegenstand) - Bezeichnung (Begriff, Wort) ist somit für Kratylos insofern durch einen spezifischen Bezug (im Gegensatz zu Hermogenes, s.o.) gekennzeichnet, als das Wort eine „Nachahmung"  des Gegenstandes darstellt. Kratylos faßt Be-zeichnung und Gegenstand zuerst als zwei Dinge, die etwas „Gemeinsames" haben, bei denen eine Wesensidentität besteht zwischen der Erscheinungsform selbst und dem, was die Bezeicnung hinsichtlich einer jeweiligen Erscheinungsform ausdrückt.  Im weiteren Verlauf faßt er diese Identität jedoch so streng auf, daß eine Unterscheidung zwischen Sprache und Erschei-nungswelt nicht mehr möglich ist.
Auf dieser Grundlage bestätigt Kratylos die Frage des Sokrates, ob die Worte der Belehrung wegen gesprochen werden , was zunächst bedeuten kann „jemanden zu belehren" oder „Denken (Gedankeninhalte) über das Medium Sprache weiterzuleiten". Kratylos geht jedoch noch sehr viel weiter, insofern er feststellt, „daß sie lehren, [...], und daß man ohne Einschränkung sagen kann, wer die Wörter verstehe, der versteht auch die Dinge" , und indem er außerdem Sokrates bestätigt, daß auch beim „Suchen und Finden" , bei der Suche nach Erkenntnis die Wörter zu den Dingen führen. Dieserart zeichnet sich deutlich die idealsprachliche Konzeption dieser Position ab, in welcher Sprache in letzter Konsequenz nicht nur mit Denken identisch ist, sondern außerdem den Zugang zur Erkenntnis bildet.
Der Benenner stellt für Kratylos einen unfehlbaren Gesetzgeber dar, einen „Meister der Belehrung" , einen „Wissenden" , eine „größere [...] als menschlichen Macht" , was letztendlich auf eine göttliche Sprachstiftung hindeutet; ein weiteres Moment, wodurch sich seine Position von der des Hermogenes unterscheidet. Worte sind daher grundsätzlich „richtig", wobei sie allerdings nur einen sehr eingeschränkten Teil der Sprache bilden, nämlich denjenigen, der aus „wirklichen Benennungen"  besteht, der von dem oben genannten Wissenden im Hinblick auf das darzustellende Wesen einer Erscheinungsform festgesetzt wurde. Wo dies nicht der Fall ist besteht die Sprache nicht aus wahrhaften Worten, und wer diese Nicht-Worte benutzt, „mach[t] nur ein Geräusch, und setz[t] sich ganz unnütz in Bewegung, wie wenn einer an Me-tall schlägt, daß es tönen muß."  Mit diesem Teil der Sprache, der Sprache der Ungebildeten (Nicht-Philosophen, vgl. histor.-phil. Kontext), der Nicht-Sprache schlechthin, ist laut Kratylos kein Erkenntniszuwachs zu erreichen, weshalb er diese grundsätzlich aus seiner Konzeption ausschließt. Tatsächliche, wahrhafte Sprache, wovon er spricht, die Idealsprache, schafft Er-kenntniszuwachs und zeigt sich als „Offenbarung" des Seins, als Offenbarung des Bleibenden und Wahrhaften, des Wesens der Dinge.
 

3. Position des Sokrates

3.1. Hermogenes-Sokrates

Wie bereits dargelegt, scheint Platon Sokrates in diesem Dialog zunächst keine eigene Position zugeteilt zu haben. Bei näherer Betrachtung kann man allerdings feststellen, daß sie durchaus vorhanden ist, und sich im Verlaufe des Dialoges in den Fragen des Sokrates an Hermogenes und Kratylos, sowie seiner Kritik an deren Positionen ausdrückt. Die zentralen Momente der Positionen von Hermogenes und Kratylos sind in den bereits angespochenen Stellen zu finden; alle weiteren Veränderungen der Positionen in Form von Einschränkungen, Erweiterungen und zurechtrückenden Ausführungen seitens Sokrates’, denen sie zustimmen, sind nicht mehr tat-sächlicher konstitutiver Teil ihrer Positionen, sondern kommen durch dessen Fragen zustande, die er im Hinblick seiner eigenen Konzeption im Sinne eines rhetorischen Schachzuges stellt, wodurch er die beiden zur Diskussion einander gegenübergestellten Alternativen (Bezeichnun-gen basieren auf Übereinkunft bzw. Bezeichnungen sind den Erscheinungsformen von Natur aus beigelegt) vereint.
Sokrates setzt bei seiner „Untersuchung", also der Ausführung seiner eigenen Konzeption, nicht damit an, die Position des Hermogenes zu prüfen, wie er eigentlich behauptet , sondern er legt die Grundlagen um diese zu fällen, indem er, in Richtung der These des Kratylos argu-mentierend, die der Hermogenes’schen Position innewohnenden Willkürlichkeit und Relativität angreift.
Für Sokrates kann nicht gelten, daß es für den Benenner keinerlei Maßstäbe hinsichtlich der Benennung eines Dinges gibt, denn dies würde bedeuten, daß somit der Gegensatz von wahr - falsch verschwindet, was gleichzeitig die Aufhebung weiterer daran gekoppelter Dualismen wie vernünftig - unvernünftig, gut - böse etc. implizieren würde. Bezüglich der Bezeichnung (als Elemente der Rede), hält er entgegen der Behauptung des Hermogenes fest, daß es wahre und falsche gibt , wobei er auch sofort zwei weitere Ebenen seiner Argumentation anspricht, nämlich Erscheinungswelt (das Ding, die Erscheinungsform), sowie Ideenwelt (was sie SIND, das wahre Sein, das Wesen) und auch deren spezifischen Bezug zueinander andeutet, indem er definiert: „die Rede [...] die von den Dingen aussagt was sie sind ist wahr, die aber was sie nicht sind, ist falsch" . Im Verlauf des Dialoges läßt Platon Sokrates den Eindruck er-wecken, er würde seine philosophische Grundprämisse eines bestehenden Wesens der Dinge argumentativ-logisch ableiten , aber die „Auseinandersetzung" mit philosophischem Gedan-kengut von Euthydemos bzw. Protagoras dient der Untermauerung seiner eigenen Position, welcher die eingangs im historisch-philosophischen Kontext genannte Setzung des obersten ideellen Prinzipes (Idee) als dem Wesen aller Dinge, sowie die daraus abgeleiteten philoso-phischen Dualismen (wahr versus falsch, vernünftig versus unvernünftig etc.), zugrundeliegen.

Im nächsten Schritt erklärt Sokrates, daß alle Erscheinungsformen ein bestehendes Wesen haben: Dinge, Handlungen, Rede (als Handlung betrachtet), Benennen (als Teilbereich der Re-de), das Wort (als Werkzeug zur Benennung) , d.h. sowohl alle Elemente der Erscheinungs-welt, Materielles, Stoffliches, als auch Tätigkeiten und Abstraktionen, in anderen Worten, alle materiellen und ideellen (geistigen) „Gegenstände" haben jeweils ein vom Erkennenden unab-hängig bestehendes Wesen.
Hinsichtlich der Funktion von Bezeichnungen (Worten, Begriffen) und letztendlich von Spra-che, bezeichnet Sokrates im Anschluß das Wort als ein „einander" lehrendes Werkzeug  und betont derart zunächst das kommunikative Element von Sprache („einander") innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Im folgenden wird die Funktion des Wortes darauf reduziert, „ein belehrendes Werkzeug"  zu sein; indem das Moment des „einander" stillschweigend übergan-gen wird, also das Element, das eine Gleichberechtigung aller Beteiligten in dieser Gesellschaft bezüglich der Belehrung suggeriert, und derart deutet sich schon die eigentliche Unterteilung in Lehrende und Belehrte an. In diesem Sinne läßt Platon Sokrates dann auch  festhalten, daß es „Lehrkünstler"  gibt, die das Wort „recht zu gebrauchen wissen" .
Der Benenner, derjenige der die Worte einführt, ist laut Sokrates ein „besonderer Wortbild-ner", ein „Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste",  worin die von Sokrates vertretene hierarchische Konzeption ihren Ausdruck findet, nach der nur ganz we-nigen Personen die Fähigkeit zugesprochen wird, welche es ihnen erlaubt, Sprache als gesell-schaftsbestimmendes Werkzeug  zu prägen. Dies stellt nochmals eine deutliche Kritik der von Hermogenes verfochtenen Position bezüglich der Herkunft von Bezeichnungen dar, die jedweglicher Person zugesteht, willkürlich und nach Gutdünken den Erscheinungsformen Benennungen beizulegen.
Indem Sokrates nun fortfährt diejenigen Gesichtspunkte aufzuzeigen, nach welchen der Gesetz-geber die Worte bildet, ist der Dialog zu dem Punkt gelangt, an dem eines der grundlegenden Elemente der Philosophie Platons auftaucht: das Element der Ideenschau. Zur Begriffsklärung folgt an dieser Stelle ein Exkurs.

(FORTSETZUNG)