Autopoiese

Der chilenische Gehirnwissenschaftler Humberto Maturana und sein Mitarbeiter Francisco Varela haben in den 70er Jahren einen neuen, historisch unbelasteten Begriff erfunden: Autopoiese.

Auto bedeutet "selbst" und bezeichnet hier die Autonomie selbstorganisierender Systeme, poiese bedeutet "machen". Somit heißt Autopoiese wörtlich übersetzt "Selbstmachen".

In einem langen Aufsatz kommt es dann zur ersten Beschreibung der Autopoiese. Die Autoren gehen davon aus, daß sie ein allgemeines Organisationsmuster ist, das allen lebenden Systemen gemeinsam ist, wie auch immer ihre Bestandteile beschaffen sein mögen.

Um herauszufinden, ob ein bestimmtes System lebt, müssen wir nur feststellen, ob es das Organisationsmuster eines autopoietischen Netzwerks aufweist. Wenn dies der Fall ist, haben wir es mit einem lebenden System zu tun, wenn nicht ist das System nichtlebend.

Autopoiese bedeutet ein Netzwerk von Produktionsprozessen, in denen jeder Bestandteil die Funktion hat, sich an der Produktion oder Umwandlung anderer Bestandteile im Netzwerk zu beteiligen. Auf diese Weise ist das gesamte Netzwerk ständig damit befaßt, "sich selbst zu machen". Es wird durch seine Bestandteile produziert und produziert wiederum diese Bestandteile.

Das einfachste lebende System, das wir kennen, ist eine Zelle. Folgendes Modell veranschaulicht die Beschaffenheit des autopoietischen Netzwerkes einer Zelle: Die DNS besimmt die RNS (Transkription), die RNS bestimmt die Enzyme (Translation), und die Enzyme steuern (Genragulation) oder beeinflussen (Reparatur) die DNS.

Besonders interessant ist die Zellmembran. Sie ist die Grenze der Zelle. Gleichzeitig ist sie am Netzwerk beteiligt, indem sie Zellnahrung aus der Umwelt in die Zelle bringt bzw. Abfallstoffe in die äußere Umwelt entsorgt. Damit erzeugt das autopoietische Netzwerk seine eigene Grenze, und diese definiert die Zelle als ein eigenständiges System, während sie zugleich ein aktiver Bestandteil des Netzwerks ist.

Da alle Bestandteile eines autopoietischen Netzwerks von anderen Bestandteilen im Netzwerk erzeugt werden, stellt das gesamte System eine geschlossene Organisation dar, auch wenn es im Hinblick auf den Energie- und Materiefluß offen ist.

Lebende Systeme sind autonom. Das bedeutet nicht, daß sie von ihrer Umwelt isoliert sind. Im Gegenteil: Sie stehen mit der Umwelt durch den Austausch von Energie und Materie in ständigem Kontakt. Aber: Dieser Kontakt bestimmt nicht ihre Organisation - sie sind selbstorganisierend.

Durch ihre Wechselwirkung mit der Umwelt erhalten und erneuern sich lebende Organismen ständig selbst, und zu diesem Zweck bedienen sie sich der Energie und der Ressourcen aus der Umwelt. Darüber hinaus schließt dieses Selbstmachen auch die Fähigkeit mit ein, neue Strukturen und neue Verhaltensmuster zu bilden.

Entwicklung und Evolution sind wesentliche Aspekte der Autopoiese.

Die Biologin und Philosophin Gail Fleischaker hat die Eigenschaften eines autopoietischen Netzwerks in drei Kriterien zusammengefaßt: Das System muß selbstbegrenzt, selbsterzeugend und selbsterhaltend sein.

Selbstbegrenzt bedeutet, daß die Ausdehnung des Systems durch eine Grenze bestimmt wird, die ein integraler Teil des Netzwerks ist.

Selbsterzeugend bedeutet, daß alle Komponenten, auch die der Grenze, durch Prozesse im Netzwerk erzeugt werden.

Und selbsterhaltend bedeutet, daß die Produktionsprozesse zeitlich fortdauern, so daß alle Komponenten ständig durch die Systemprozesse der Transformation ersetzt werden.

Maturana und Varela stellten sich die Frage: Was ist die einfachste Verkörperung eines autopoietischen Netzwerks, die sich mathematisch beschreiben läßt? Sogar die einfachste Zelle ist noch zu komplex für ein mathematisches Modell.

Statt sich also nach einem natürlichen autopoietischen System umzusehen, beschlossen sie, es mit einem Computerprogramm zu simulieren. Sie mußten ein Programm schreiben, das ein Netzerk von Prozessen simulierte, in denen jeder Bestandteil die Funktion hat, an der Erzeugung oder Umwandlung anderer Komponenten im Netzwerk mitzuwirken.

Anfang der 70er Jahre erkannte Francisco Varela, daß die schrittweisen Sequenzen von Zellautomaten, die ideal für Computersimulationen geeignet sind, ein leistungsfähiges Werkzeug zur Simulation autopoietischer Netzwerke darstellen. 1974 gelang ihm, gemeinsam mit Maturana und dem Informatiker Ricardo Uribe, die Konstruktion der entsprechenden Computersimulation. Ihr Zellautomat besteht aus einem rechteckigen Gitterraster aus regelmäßigen Quadraten, in dem ein "Katalysator" und zwei Arten von anderen Elementen sich zufällig bewegen und so aufeinander einwirken können, daß weitere Elemente beider Arten erzeugt werden können; andere können sich miteinander verbinden und Ketten bilden.

Der von Varela und seinen Kollegen konstruierte Zellautomat war eines der ersten Beispiele dafür, wie sich die selbstorganisierenden Netzwerke lebender Systeme simulieren lassen.

Im Laufe der letzten 20 Jahre hat man viele andere Simulationen untersucht und dabei bewiesen, daß diese mathematischen Modelle spontan komplexe und hochgeordnete Muster erzeugen können, die einige wichtige Prinzipien der in lebenden Systemen anzutreffenden Ordnung aufweisen.

Mit Hilfe dieser neuen Techniken untersuchten Wissenschaftler erneut die in den 40er Jahren entdeckten binären Netzwerke. Jetzt entdeckte man, daß ihre Analyse zu überraschenden Erkenntnissen hinsichtlich der Netzwerkmuster lebender Systeme führte, obwohl diese binären Netzwerke keine autopoietischen Netzwerke sind.

Ein binäres Netzwerk besteht aus Knoten, die zwei unterschiedliche Werte haben können. Dieses Netzwerk ist damit beschränkter als ein Zellautomat, dessen Zellen mehr als zwei Werte annehmen können. Andererseits müssen die Knoten eines binären Netzwerks nicht in einem regelmäßigen Raster angeordnet sein, sondern sie lassen sich auf komplexere Weise miteinander verknüpfen.

Mit Hilfe dieser binären Netzwerke wurden ungeheuer komplexe Systeme modellhaft dargestellt: chemische und biologische Netzwerke, die Tausende von Variablen enthielten, die niemals durch Differentialgleichungen beschrieben werden könnten.

Autopoiese im sozialen Bereich:

Hier gibt es unterschiedliche Ansichten von Maturana und Varela: für Maturana sind menschliche soziale Systeme nicht autopoietisch, sondern eher das Medium, in dem Menschen ihre biologische Autopoiese durch die Sprache realisieren.

Varela erklärt, der Begriff eines Netzwerks von Produktionsprozessen, der im Mittelpunkt der Definition der Autopoiese steht, sei vielleicht jenseits des physischen Bereiches nicht anwendbar, aber für soziale Systeme ließe sich ein allgemeiner Begriff der "organisatorischen Geschlossenheit" definieren. Dieser allgemeine Begriff ähnle zwar dem der Autopoiese, bestimme jedoch Produktionsprozesse nicht näher. Die Autopoiese läßt sich nach Varela als Sonderfall der organisatorischen Geschlossenheit ansehen, wie sie sich auf der Zellebene und in bestimmten chemischen Systemen zeige.

Andere Autoren haben behauptet, ein autopoietisches soziales Netzwerk ließe sich durchaus definieren, sofern sich die Beschreibung menschlicher Systeme ganz im Rahmen des sozialen Bereichs bewege.

Während es seit einigen Jahren eine sehr lebhafte Debatte über Autopoiese in sozialen Systemen gibt, herrscht überraschenderweise ein tiefes Schweigen hinsichtlich der Frage nach der Autopoiese in Ökosystemen. Nach Maturana und Varela sind die vielen Wege und Prozesse in einem ökologischen Netzwerk noch nicht ausreichend bekannt, um zu entscheiden, ob sich ein derartiges Netzwerk als autopoietisch bezeichnen läßt.

Wenn wir unsere Sichtweise von Ökosystemen auf den Planeten als Ganzem ausweiten, treffen wir auf ein globales Netzwerk von Produktions- und Transformationsprozessen.

Das planetarische System operiert in einem sehr großen räumlichen und zeitlichen Maßstab. Daher ist es gar nicht so einfach, sich die Erde ganz konkret als lebendig vorzustellen.

Die Frage, ob der ganze Planet oder nur bestimmte Teile lebendig sind, tritt hier auf.

Lynn Margulis behauptet, daß kaum ein Zweifel daran besteht, daß die Erde autopoietisch ist.

Die Gründe dafür sind folgende:

Erstens ist die Erde selbstbegrenzt, zumindest soweit es ihre äußere Grenze, die Atmosphäre, betrifft. Nach der Gaia-Theorie wird die Erdatmosphäre von den Stoffwechselprozessen der Biosphäre erzeugt, umgewandelt und aufrechterhalten.

Die Atmosphäre ist teilweise durchlässig, wie eine Zellmembran, und ein integraler Teil des planetarischen Netzwerks. So bildete sie das schützende Treibhaus, in dem sich das frühe Leben auf dem Planeten vor drei Mrd. Jahren entfalten konnte.

Zweitens ist die Erde auch selbsterzeugend. Der planetarische Stoffwechsel wandelt anorganische Substanzen in organische, lebende Materie und dann wieder in Erde, Ozeane und Luft um. Alle seine Komponenten, auch die seiner atmosphärischen Grenze, werden durch Prozesse innerhalb des Netzwerks erzeugt.

Und drittens ist die Erde selbsterhaltend. Die Komponenten der Meere, des Bodens und der Luft werden ebenso wie alle Organismen der Biosphäre laufend durch die planetarischen Produktions- und Transformationsprozesse ersetzt.


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