Eine Wanderung auf die "Zugspitze".

Es war mir nicht vergönnt gewesen, eine der mit dem letzten deutschen Turnfeste in München verbundenen prächtigen Turnfahrten mitzumachen, da mein Reiseplan mich von München aus über den Bodensee für einige Tage ins herrliche Schweizerland und von dort ins Elsaß entführte, wo ich am 6. August 1889 der Enthüllungsfeier des bairischen Kriegerdenkmals in Wörth beiwohnte. In der Schweiz hatte ich allerdings einen schönen Tag benutzt, um den wunderbar zackigen "Pilatus" am Vierwaldstädter-See zu besteigen, die Zahnradbahn verschmähend. Aber die Sehnsucht, einmal den höchsten Berg Deutschlands, die "Zugspitze", zu bewältigen, trug ich seit dem Münchener Feste mit mir herum und wenn ich dieselbe im letzten Sommer habe befriedigen können, so stand diese meine Wanderung zweifelsohne in gewissem geistigen Zusammenhange mit den sich ans Münchener Fest anschließenden Fahrten.

Als im Sommer 1890 der Ausschuß der Deutschen Turnerschaft den Beschluß faßte, seine Jahresversammlung wiederum im schönen und turnfreundlichen München abzuhalten und der Vorschlag gemacht wurde, damit wenn möglich eine gemeinsame Wanderung ins Gebirge zu verbinden, da fand dieser Gedanke meinen vollsten Beifall, denn im Hintergrunde einer solchen Ausschuß-Turnfahrt stand für mich das Ziel meiner Wünsche: "die Zugspitze". Hatte doch unser Geschäftsführer, Dr. Goetz, vorsorglich und in bester Absicht schon einige Wanderpläne für uns entworfen, von denen einer nach Partenkirchen, also in die Nähe der "Spitze", führte. Jedoch in München, nach gethaner Ausschußarbeit, kam es zu keiner Einigung; die Meinungen waren zu getheilt und die Reiseabsichten zu verschiedenartig, bedingt durch Zeit und Neigung. Der Eine hatte weder Zeit noch Lust, der Andere wollte keine zu hohen Berge besteigen, der Dritte nur einige hübsche Thäler aufsuchen, der Vierte nur eine Gebirgseisenbahnfahrt oder eine weitere Reise machen.

Es kam hinzu, daß Genosse Bier aus Dresden in den nämlichen Tagen mit seinen Sachsen vermittelst Sonderzuges eine Turnfahrt über München ins Salzburgische unternahm, wofür die Reisebestimmungen fest und unabänderlich getroffen waren. Kurzum die gemeinsame Turnfahrt kam nicht zu Stande und blieb ich, nachdem alle Kollegen abgereist, noch einen Tag in München, denselben zu einer lohnenden Turnfahrt, die Isar aufwärts nach Großhessellohe und darüber hinaus, benutzend. Anderen Tages aber, mit festem Reiseplan und festem Vorsatz ausgerüstet, trat ich Nachmittags um 2 Uhr vom Südende des Starenberger Sees, wohin mich die Eisenbahn gebracht, meine Wanderung an, und zwar "allein", eingedenk des Wortes: "Selbst ist der Mann." Das Ränzel hing mir auf dem Rücken und statt eines Wanderstabes diente mir ganz vorzüglich der helle Schirm, den ich das Jahr vorher im "Schwanthaler Hofe" zu München, als die Wogen der turnerischen Begeisterung unter den Alten hinter einem Faß Iffland'schen Rheinweins hoch gingen, unfreiwillig hatte eintauschen müssen. Die Nachmittagssonne brannte; gegen Abend aber war der Marsch ins Vorgebirge der bairisch-tirolischen Alpen entzückend. Mein Weg führte über die ehemalige Benediktinerabtei Benediktbeuren nach Kochel, der Heimat jenes urwüchsigen, starken und treuen, oberbairischen Volkshelden, des Schmiedes von Kochel, dessen Thaten und heroischen Ende uns die Münchener Turnfestzeitung gebracht hat. Dort stattete ich vorübergehend dem Kurhause und dem herrlichen See einen Besuch ab. Dann gings weiter nach Walchensee, dem Tagesziele, wo ich Abends 9 1/2 Uhr im sehr empfehlenswerthen Gasthause "Zur Post" einkehrte, nachdem ich während der letzten halben Stunde im Dämmerlichte an dem in wunderbarer Ruhe daliegenden Alpensee vorübergeschritten war. In diesem Gasthause traf ich zahlreiche, unterhaltende Gäste, zumeist Sachsen und Sächsinnen, die aber nicht mit dem Bier'schen, sondern mit einem zweiten, um diese Zeit von der Sächsischen Eisenbahnbehörde, wahrscheinlich mit Rücksicht auf die Oberammergauer Passionsspiele, eingerichteten Sonderzug nach Baiern gekommen waren. Andern Morgens nach einem nochmaligen Blick auf den See, nahm ich den Weitermarsch wieder auf, um am Abend Partenkirchen zu erreichen. An diesem Tage hatte ich Gelegenheit, die oberbairische Landbevölkerung, mitten in der Heuernte steckend, kennen zu lernen. Ich ließ mir's auch nicht entgehen, hier und da in einer Dorfschenke einzukehren, mich mit den Leuten in ein Gespräch einzulassen, um auch auf diese Weise Land und Leute zu studiren. Dies war nicht gerade sehr leicht, da es anfangs schwer werden wollte, die oberbairische Mundart zu verstehen. Die Oberbaiern sind ein zäher, unverfälschter deutscher Volksstamm; schlicht, einfach, stark, leicht aufbrausend, ehrlich und gut haben diese Gebirgsbewohner neben ihren Landestrachten, die mit denen der benachbarten Tiroler ziemlich übereinstimmen, ein nicht zu unterschätzendes Selbstbewußtsein sich bewahrt. Ein Sprüchlein an dem Giebel eines Hauses: "Klein, aber mein", kennzeichnet so recht die Denkart der Bewohner dieses schönen Landes.

In Partenkirchen wimmelte es von Fremden, mit veranlaßt durch die Nähe Oberammergaus, sodaß ich froh sein mußte, ein bescheidenes Unterkommen zu finden. Den ganzen nächstfolgenden Tag, gewissermaßen ein Ruhetag, benutzte ich dazu, die wunderbare Partnachklamm und einige Höhen der näheren Umgebung aufzusuchen. Neu gestärkt durch diesen Rüsttag erhob ich mich am andern Morgen, es war Sonnabend, um nunmehr allein meinen Vorsatz auszuführen, da sich kein freiwilliger Begleiter im Gasthause ausfindig machen ließ. - Die "Zugspitze" ist, nach der Angabe des "Deutsch-Oesterreichischen Alpenclubs" von Partenkirchen 11 1/2 Stunden entfernt. Dieselbe war demnach an einem Tage unmöglich zu erreichen, umsomehr, da auf derselben kein Unterkunftshaus sich befindet. Mein Weg, ich schritt rüstig aus, ging zumeist dem Laufe der "Partnach" folgend auf und ab immer tiefer ins Gebirge hinein. Unbeschreiblich schöne Partieen bildet der zwischen hohen Felsenwänden dahintosende Fluß in sonst lautloser Stille. Gegen Mittag erreichte ich die von Partenkirchen 5 Stunden entfernte Ruhebank an der "Quelle zu den sieben Sprüngen", wo ich, mich niederlassend, den Leib durch frisches Quellwasser und mitgeführte Speise stärkte. Es war ein herrliches Ruheplätzchen in einer Umgebung, wie man sie selten schöner findet, und sicherlich spricht in den Versen, welche an jener Stelle auf einer Holztafel sich befinden, der Dichter das Gefühl aus, welches alle beseelen muß, die sich jemals an dieser wunderbaren Schönheit der Natur laben werden. Die Worte lauten:

An den Wanderer!
Halte Rast, Du fröhlicher Geselle,
Der Du dem höchsten Ziele strebest zu!
Es lädt der Felsen, es lädt die Quelle
Dich ein zu süßer, träumerischer Ruh.
Hier kann Dein Aug' und Herz zugleich genießen
Die wunderbare Schönheit der Natur,
Hier kann sich ins Unendliche ergießen,
Das sonst gebannt an engen Umkreis nur.

Und hast Du Dir gestärkt hier Geist und Glieder
Hat Dich ein Trunk aus diesem Born erquickt,
Dann greife frisch zum Wanderstabe wieder,
Und zieh dahin beseligt und beglückt.
Steig kühn hinan zur höchsten Wart' und Zinne,
Die weithin schaut ins deutsche Land,
Und wenn Dich dort umwehet Gottesminne,
Dann bete für Dein schönes Heimatland!

An Körper und Geist gekräftigt zog auch ich weiter, an der "blauen Gumpe", dem stillen blauen Gebirgssee, vorüber dem "Partnachfall" zu, dessen herabstürzende Wasser schon von Ferne durch ein rauschendes Tosen vernehmbar waren. Nachdem ich den selten großartigen Anblick sattsam genossen, gelangte ich ans "Gsund-Brünnl", mich wiederum durch kühlen Trunk erfrischend, suchte die abseits liegenden Quellen der Partnach auf und erreichte endlich Abends gegen 6 Uhr hoch oben im Gebirge die "Knorrhütte", das Endziel dieses herrlichen Tages. Kurz vorher war mir ein halbwüchsiger Bursche (außer ihm bis dahin niemand) in der kleidsamen Tracht der Gebirgsbewohner begegnet, der an langen Riemen einen Maulesel leitete, auf dessen Rücken leere Körbe und Fäßchen sich befanden. Ich bewunderte die Sicherheit und Schnelligkeit, mit welcher dieses Thier zwischen dem fast pfadlosen scharfen und glatten Gestein hinabstieg und habe den selbigen Abends vernommenen Ausspruch, daß es stiege wie eine "Gams" (Gemse), bestätigt gefunden. Dasselbe brachte alle zwei oder drei Tage von Partenkirchen aus auf seinem Rücken die nöthigen Lebensmittel zur einsamen Knorrhütte, welche nur 3 Monate im Jahre, vom 1. Juli bis 30. September, bewohnt ist. Als ich diese betrat, wurde ich vom schlichten Wirthe, der sein halberwachsenes Töchterlein für diese 3 Monate bei sich hatte und schon 9 Jahre lang von Partenkirchen aus diese Höhe im Auftrage des Deutsch-Oesterreichischen Alpenvereins, dessen Eigenthum die Hütte ist, bezieht, mit einem herzlichen "Grüß Gott" und "Händedruck" bewillkommnet. Eben vor mir waren drei Wanderer, Münchener, von der entgegengesetzten, der Tiroler Seite, angelangt und noch beschäftigt, ihre zähen Gebirgsschuhe mit weiten Filzschuhen zu vertauschen, die zu dem Zwecke reichlich vorhanden waren. Ich folgte ihrem Beispiel, desgleichen ein junger Norweger, der gleich nach mir, ein schweres Felleisen auf dem Rücken tragend, ermüdet eintraf. Der Wirth sorgte nun schnell für eine gute Erbsensuppe nebst Fleisch etwas und Brot, denen fünf hungrige Magen eifrigst zusprachen. Ein vom Maulesel in den erwähnten Fäßchen heraufgeschafftes Bier, welches in dieser Höhe mit 1 Mark fürs Liter berechnet wurde, würzte die Mahlzeit und hielt uns noch einige Stunden in anregendem Gespräch beisammen. Dasselbe drehte sich hauptsächlich um Gebirgstouren; war doch einer der Münchener ein sehr erfahrener und geübter Bergsteiger und Vorstandsmitglied der Lokalabtheilung München des Deutsch-Oesterreichischen Alpenvereins. Gegen 10 Uhr suchten wir in einem anstoßenden Raume unser Matratzenlager auf, um, in wollene Decken gehüllt, neben und hintereinander liegend, der bedürftigen Ruhe zu pflegen. Mit meinem nächsten Schlafkameraden, dem Norweger, der leidlich gut deutsch sprach, verabredete ich für den kommenden Morgen, wenn das Wetter es nur eben erlaubte, den Aufstieg zur Spitze, während die Baiern den Sonntag zu einem Rasttag machen wollten.

Früh erwacht, verließ ich geräuschlos das Lager, um nach dem Wetter zu schauen. Ich fand Berge und Hütte in kalte graue Nebel gehüllt, wusch Kopf und Hände an einer nahen Quelle und erwartete das Erwachen meines Reisegefährten, den ich angesichts der zweifelhaften Witterung in seinem gesunden Schlafe nicht stören mochte. Eine Stunde mochte so vergangen sein, da erschien zuerst der Wirth, von seiner über uns befindlichen Bodenkammer an einer leiterartigen Außentreppe herabsteigend, um mir die tröstliche Versicherung zu geben, daß bei dem herrschenden Winde das Wetter nicht schlecht werden würde. Er hatte Recht, es wurde lichter über uns und nach einer Stunde waren der Norweger und ich, nach einem knappen Imbiß, marschbereit. Wir ließen unsere Ränzel zurück, da wir nicht beabsichtigten, auf einem anderen Wege ohne Führer abzusteigen; auch hatte ich meinen Schirm gegen einen kräftigen Gebirgsstock vertauscht, während mein tapferer, junger Genosse ohne jedes Handgeräth mir zur Seite war. Nachdem wir über eine Stunde lang ziemlich mühevoll gestiegen, kamen wir an den Schneeferner, auf dem der alte und neue Schnee fußhoch lag. In 1 1/2 Stunden hatten wir ihn hinter uns, und nun erst kam uns endlich steil aufsteigend die Zugspitze zu Gesicht. Am Drahtseil und stellenweise über eingelassene eiserne Trittsteine hinweg, hatten wir noch eine gute halbe Stunde zu kämpfen, um jenseits eines nicht gefahrlosen Grates auf einem Kegel von Steingerölle die Spitze (2973 Mt. hoch) zu erreichen. Ein hohes Kreuz ziert dieselbe, umgeben von einer hölzernen Bank. Hier genossen wir nun nach der bairischen Seite hin, nach dem Eibsee und den übrigen Seen, eine prächtige Aussicht, tief unter uns stand ein Regenbogen, dagegen war leider das so nahe Tirol und Vorarlberg durch dichte Nebel verschleiert. Auf dieser luftigen Höhe tauschten wir unsere Karten aus zur Erinnerung an den 27. Juli 1890, wodurch ich dann erfuhr, daß mein jugendlicher Begleiter V. Bierknes aus Christiania war, der schon einige Jahre in Paris physikalischen Studien obgelegen, die er demnächst an einer deutschen Universität fortzusetzten beabsichtigte. Eine Stunde mochten wir oben verweilt haben, da mahnten uns vereinzelte Hagelschloßen daran, daß es Zeit sei, an den Abstieg zu denken, denn im Gebirge wechselt die Witterung gar schnell. Der gefahrvollere Abstieg vollzog sich viel rascher; durch kalte Regenschauer angefeuert, gebrauchten wir keine zwei Stunden, um in der Hütte wohlbehalten wieder anzulangen. Bis auf die Haut durchnäßt, wurden die Hemden gewechselt, die Kleider getrocknet und der Leib wiederum durch Erbsensuppe und Fleisch gekräftigt. Nachdem wir unsere Namen ins Fremdenbuch eingeschrieben, in welchem ich nur einen einzigen mir bekannten Turnernamen entdecken konnte, marschierten wir Beide selbigen Tages noch nach Partenkirchen, welches abwärts nur etwa sechs Stunden erforderte, zurück. Um 9 1/2 Uhr Abends kehrten wir in dem mir schon bekannten Gasthause ein, wo mein Reisegefährte in Ermangelung eines weiteren Zimmers nochmals mein Schlafkamerad wurde. Hier hatten wir noch Gelegenheit, einen der bewährtesten Alpenführer zu sprechen, der mit einem Fremden von der Dreithorspitze zurückkam. Seine Meinung, daß wir ohne jede Führung ein kühnes und anstrengendes Unternehmen hinter uns hätten, nahm ich für meinen Theil mit der Ueberzeugung hin, daß ein alter Turnersmann eine Genugthuung darin finden muß, wenn sein Leib den Geist nicht im Stiche läßt. Gut Heil!

M.-Gladbach (Rheinpreußen).
Friedrich Schloer.

Quelle: Deutsche Turnzeitung, Leipzig, Jhg. 1891, S. 200 - 201.