College - Teil 1
by Tia



Die Schüler des Colleges in Los Angeles stürmten aus dem Zimmer, als die Glocke läutete. Kein Lehrer war in der Lage, diesen Sturm aufzuhalten. Sie mussten die Aufgaben vorher geben und dafür fünf Minuten ihrer kostbaren Zeit opfern oder gar nicht. Meistens entschieden sie sich für die erste Variante, denn dabei hatten sie immer den Gedanken im Hinterkopf, dass fünf Minuten von ihrer Zeit wohl eine Stunde der Schüler war, wenn nicht noch mehr.
Auch diesmal, so schien es, würden nur eine Minute des Lehrers auf drei Stunden der Schüler kommen.
Die Prüfung des gefürchteten Mathe-Lehrers war alles andere als ein Kinderspiel. Zuerst mindestens eine Woche im Voraus anfangen jeden Tag zu büffeln, und wenn man dann mal alles kapiert hatte, musste man alles noch einmal machen, um alles, was ganz am Anfang, noch einmal zu repetieren. Keinem der Schüler entging dieser Stress, ausser vielleicht David. Er passte in den Stunden so wenig auf wie andere in der Biologie und trotzdem konnte er, wenn es unbedingt nötig war, noch in der Pause vor der Prüfung rasch seine Notizen ansehen und alles kapieren. In der Prüfung hatte er dann mindestens neunzig Punkte von hundert.
Die anderen beneideten ihn darum, was durchaus verständlich war, und David half ihnen, so gut er konnte. Er erklärte Formel, die der Mathe-Lehrer mit allen Fachwörtern, die er nur brauchen konnte, erklärte, mit den einfachsten Worten, so dass selbst der hinterste und letzte mitkam, um was es hier eigentlich ging. Während den Stunden gingen immer Zettel durch die Bänke der Schüler, die an David gerichtet waren, damit er den Schreibern es erklärte.
Überhaupt war David ein kleines, oder eher grosses Naturtalent. Er hatte in acht von zehn Fächern die höchste Punktzahl. Nur in Zeichnen und Geschichte hatte er nicht alle. Er sagte als Entschuldigung, obwohl er sich eigentlich bei niemandem dafür entschuldigen musste, dass er kein zeichnerisches Talent habe und dass ihm die Geschichte so egal sei wie anderen die Mathematik. Was half es ihm, wenn er wusste, wann der Erste und wann der Zweite Weltkrieg war oder wann irgend ein berühmter Herr gelebt hatte? Man konnte die Vergangenheit dadurch nicht ändern.
Trotzdem konnte man immer, wenn man etwas nicht kapierte, David fragen. Er wusste es, egal was man auch fragte. Sogar die Sachen, die nichts mit der Schule zu tun hatten, wusste er. Immer war er über alles informiert, wusste das Neuste aus der Welt und kannte alle Gerüchte der Schule, nach höchstens einem Tag, nachdem sie entstanden waren.
Er schaffte sich durch seinen IQ aber nicht nur Freunde. Viele von denen, die eingebildet waren und fürchten mussten, dass sie bald von der Schule fliegen würden, hassten ihn. Jedenfalls sagten sie das. In Wirklichkeit war es wohl nur der Neid, dass David etwas konnte, was sie nicht konnten. Dieser Teil, der David hasste, war genauso gross wie der, der ohne David nicht leben könnte.
Auch in der Schulverwaltung war David wohl bekannt, aber nicht nur wegen seinen ausserordentlichen Leistungen. Manchmal kam es vor, dass er sich mit seinen Gegnern prügelte und ihnen dann sogar Knochen brach. Er war nur durch seine Leistungen nicht schon lange von der Schule geflogen. Er hatte schon mehrere Verweise, eigentlich schon mehr, als er haben durfte, aber er hatte keine Angst, dass er rausflog. Er fing nie an zu kämpfen. Meistens kämpfte er nur zur Verteidigung. Und dafür, dass er sich verteidigte, konnte ihn wohl niemand verurteilen.
 
 

Diese Mathe-Stunde war David ruhig, genauso wie die anderen Schüler. Er wollte sie nicht stören und konzentrierte sich darauf, ebenfalls fleissig mitzuschreiben. Es könnte ja sein, dass er doch etwas mal nicht kapierte und dann seine Notizen brauchen konnte. Der Lehrer sprach in seiner unverständlichen Fachsprache und achtete nicht darauf, ob die Schüler nun mitkamen oder nicht. Dafür hörte er meistens etwa zehn Minuten früher auf, damit man mit all sein Problemen noch zu ihm kommen konnte und er ein bisschen weniger Fachsprache sprach.
Die Pausen nach den Mathe-Stunden verbrachten alle mit Nachdenken und Kapieren, bis es in die nächste Stunden läutete.
An diesem Tag, Dienstag, war die nächste Stunde Englisch. Sie hatten zur Zeit eine Aushilfslehrerin, die einsprang, weil die richtige gerade ein Bein gebrochen hatte und nun operiert werden musste. Und diese Lehrerin war jung. Sie war vermutlich etwas über dreissig, aber sie sah viel jünger aus. Sie machte noch ihr Praktikum und sah aus, als wäre sie eine Schülerin, die ein oder zwei Jahre hatte wiederholen müssen.
Das wäre ja alles noch gegangen, aber das Problem war, dass sie nicht nur so aussah, als wäre sie eine Schülerin, sondern sich auch so verhielt. Sie machte Scherze wie eine Schülerin und war immer für einen Streich gut. Und sie sah gut aus. Sehr gut sogar. Ihr Gesicht hatte eine gewisse Strenge, konnte aber genauso gut sanft und weich sein. Keiner der jungen Männer in Davids Klasse konnte verhindern, dass er sich überlegte, wie er sie rumkriegen könnte. Sogar David, der sich eigentlich nicht sonderlich für Frauen interessierte, sah sie mehr als nötig an, aber er machte ihr keine schönen Augen. Wenn sie ihn ansprach wegen einer schulischen Frage, dann antwortete er, ohne seine Scherze zu treiben. Sein Nachbar, Tommy, stiess ihn an und fragte ihn jedesmal, warum er seine Chance nicht nutzte. David warf ihm dann einen viel versprechenden Blick zu und sagte: „Ich lass sie noch ein bisschen zappeln, bevor ich zuschlage.“ Tommy wusste genauso gut wie David, dass das ein Scherz war, aber er grinste genauso wie er.
In dieser Englischstunde war er nicht gut gelaunt. Sein Vater hatte gerade seine Mutter verlassen und diese heulte sich zu Hause die Augen aus. Er hatte zu Hause bleiben wollen, um sie zu trösten, aber sie hatte darauf bestanden, dass er in die Schule geht und lernt. Dabei konnte er nur rasch von Tommy das Heft ausleihen, abschreiben und schon hatte er die Stunden, die er verpasst hatte, nachgeholt.
Aber so musste er sich jetzt auf die Schule konzentrieren und konnte nicht einmal seine Mutter trösten. Aber vielleicht war es besser so. Wenn sie traurig war, dann wollte sie sich selbst unter Kontrolle bringen, ohne fremde Hilfe. Er hätte sie also nur gestört.
„David! Ist etwas nicht in Ordnung mit Ihnen?“
Er hatte nicht bemerkt, wie Jessica Sheen ihn angesprochen hatte und ihm eine Frage gestellt hatte.
„Nein, es ist alles in Ordnung“, antwortete er, aber er wusste, dass es nicht sehr überzeugend klang.
Er war während den Stunden nie so unaufmerksam, dass er eine Frage nicht hörte, die an ihn gestellt wurde. Vermutlich war das jetzt sogar das erste Mal, dass er einmal nicht aufpasste.
Miss Sheen musterte ihn besorgt, aber er erwiderte ihrem Blick nicht. Es war ihm egal, was sie von ihm dachte und was für Gedanken sie sich machte. Seine Probleme gingen sie nichts an.
In diesem Moment läutete die Glocke und David drängte mit den anderen Schüler hinaus.
„David? Würden Sie bitte noch einen Moment bleiben?“
Er seufzte leise und wandte sich von der Tür ab, zu Miss Sheen. Tommy sah ihn vielsagend an, aber er ging nicht darauf ein. Er hatte keine Lust auf Scherze.
„Was ist heute mit Ihnen los? Sie haben sich kein einziges Mal gemeldet und ich denke, dass Sie auch kein Wort von dem verstanden haben, was ich gesagt habe.“
„Es ist nichts, wirklich. Ich bin heute einfach nicht so ... konzentriert.“
Sie sah ihn tadelnd an.
„Sie und ich wissen genau, dass Sie nicht einfach so unkonzentriert sind.“
Eigentlich war David nicht sehr aggressiv und konnte seine Wut auch gut unter Kontrolle halten, aber diesmal gelang es ihm nicht. Sie hatte einen wunden Punkt getroffen und musste jetzt mit den Konsequenzen rechnen.
„Hören Sie, meine Probleme gehen Sie nichts an. Halten Sie sich gefälligst da raus!“
Er drehte sich um, und nahm an, dass sie ihn gehen liess, aber sie war noch immer die Ruhe selbst und hielt ihn zurück.
„Lassen Sie sich doch helfen. Man kann seine Probleme nicht immer alleine lösen.“
Sie hatte keine Ahnung, um was es eigentlich ging, und trotzdem tat sie so, als verstehe sie ihn. Er sah sie wütend an. Irgendwie fiel ihre Schönheit nicht mehr so auf, wenn man sie in einem wütenden Gemütszustand anschaute.
„Und wie wollen Sie mir helfen? Schicken Sie mich zu einem Seelenklempner, damit ich dem meine Sorgen ausschütten kann? Vielen Dank, darauf kann ich verzichten.“
„David! Ich weiss nicht, was Sie haben, aber es tut manchmal gut, wenn man sich ausspricht.“
Er schnaubte nur.
„Es bringt nichts, glauben Sie mir. Sie sind vielleicht schlauer als ich, aber ich falle nicht auf Ihre Tricks rein. Soviel Grips habe ich noch im Kopf.“
„Ich habe nicht behauptet, dass ich schlauer bin als Sie, David. Das bin ich sehr wahrscheinlich sogar nicht. Aber bei einem jungen Mann Ihrer Intelligenz wirkt es sich ziemlich schlecht aus, wenn Sie ihre Probleme einfach verdrängen. Es könnte sich auf Ihr ganzes Leben auswirken.“
„Res ineptae!“
„Bitte?“ fragte Sheen verwirrt zurück.
David seufzte und endlich konnte er seine Wut unter Kontrolle bringen.
„Das ist Lateinisch und heisst soviel wie: Blödsinn.“
„David, ich bitte Sie noch einmal. Sprechen Sie mit jemandem über Ihre Probleme. Ich stelle mich zur Verfügung, wenn Sie sonst niemanden haben, mit dem Sie reden können.“
Erstaunt musterte er sie. Sie stellte sich persönlich zur Verfügung. Was sollte denn das werden?
„Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss, aber ich habe genug Freunde.“
Und damit liess er sie stehen. Sie hielt ihn nicht zurück. Er musste fast rennen, um noch rechtzeitig in die nächste Stunde zu kommen.
Tommy erwartete ihn mit einem schelmischen Grinsen.
„Na wie war’s?“ fragte er.
„Sie hat gesagt, ich solle mit jemandem über meine Probleme sprechen.“
„Über welche Probleme?“ gab Tommy scherzend zurück
„Das habe ich ihr auch gesagt. Sie wollte aber nicht zuhören.“
„Immerhin hat sie mit dir geredet. Es kommt doch nicht darauf an, was sie redet, oder?“
David liess ihm einen strafenden Blick zukommen und konzentrierte sich auf die nächste Stunde.
Es hatte keinen Sinn, weiter über seine Eltern nachzudenken. Wenn sie sich nicht mehr verstanden, konnte er ihnen nicht helfen. Und er war erwachsen genug, um ohne seine Eltern zu leben. Vielleicht sollte er sich endlich selbständig machen. Das wäre wahrscheinlich die beste Möglichkeit. Tommy hatte ihm sowieso angeboten, mit ihm zu wohnen. Dieser hatte nämlich eine kleine WG gemietet und brauchte noch einen Mitmieter. Das wäre die Gelegenheit.
David schob den Gedanken beiseite. Es hatte keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken.
 
 

Als die Stunden endlich fertig waren und David sich auf den Rückweg machte, sah er, wie seine Englischlehrerin an ihrem Auto lehnte und ihn zu sich winkte.
Tommy pfiff durch die Zähne und verabschiedete sich mit einem Schlag auf den Rücken. Seufzend ging er auf Miss Sheen zu.
„Wollen Sie mich noch einmal überreden, doch zu einem Seelenklempner zu gehen?“ fragte er ohne Grus.
Sie lächelte nur leicht.
„Kann ich Sie nach Hause bringen?“
„Damit ich nicht fliehen kann? Sehr schlaue Methode.“
Aber er stieg ein. Jessica startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen los.
„Wissen Sie, meine Eltern hatten auch Schwierigkeiten miteinander.“
„Von wo wissen Sie das?“ entfuhr es David und wieder spürte er Wut aufkommen. Es gefiel ihm nicht, wenn fremde Leute ihn ausspionierten.
„Ich habe mich bei den anderen Lehrern erkundigt. Sie sagen, dass Ihre Eltern wirklich gut zusammenpassen würden.“
„Sie sind nicht meine Eltern.“
„Wie bitte?“ Nun war es Jessica, die erstaunt und äusserst erschrocken war.
„Sie haben mich adoptiert, als ich noch ein Baby war. Sie haben es mir nie gesagt, aber ich weiss, dass es so ist.“
„Und woher wissen Sie es dann?“
Sie war darauf und daran, ihm alle seine Geheimnisse abzuknöpfen. Also antwortete er nicht.
„Okay, Sie müssen es mir nicht erzählen. Es geht mich ja nichts an.“
„Genau, es geht Sie sowenig etwas an wie alle anderen meine Probleme.“
Er sah demonstrativ aus dem Fenster. Doch Jessica ging nicht darauf ein. Sie war vollkommen erpicht darauf, ihm seine Probleme zu nehmen.
„Meine Eltern hatten sich damals scheiden lassen und haben um mich gekämpft. Das Problem gibt es bei Ihnen nicht. Sie sind volljährig und können für sich selbst sorgen. Wenn ich Sie wäre, würde ich Ihre Eltern einfach mal alleine lassen und abwarten. Wenn sie wirklich so gut zusammen passen, wie alle sagen, dann werden sie sich wieder finden und wenn nicht ... Dann ist es vielleicht besser, wenn sie sich trennen.“
David sah den Sinn dieser Worte sehr gut, aber er sagte nichts. Auf diese Idee war er auch schon lange gekommen, nur taten ihm seine Eltern leid. Den Schmerz, den sie ertragen mussten ... Das war doch nicht fair.
Jessica hielt vor Davids Heim an. Im gleichen Moment kam Davids Mutter aus der Wohnung gelaufen und fast in ein Auto, aber das konnte zum Glück ausweichen.
Entsetzt wollte David ihr nachlaufen, aber er konnte sich nicht rühren.
„Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?“ fragte Miss Sheen, die seinem Blick gefolgt war und ihre Schlüsse daraus gezogen hatte.
Er schüttelte bestimmt den Kopf, öffnete die Tür.
„Danke fürs Heimbringen“, sagte er nur, warf die Türe zu und ging mit schnellen Schritten auf den Eingang zu.
Er spürte ihre stechenden Blicke im Rücken, drehte sich aber nicht um und ging hinein.
Ein wütender Vater kam ihm entgegen. Scheinbar war er wieder zu Hause.
„David! Hast du deine Mutter gesehen?“
Er sprach nur von seiner Mutter, wenn er ausserordentlich wütend und verletzt war. Er hatte seine Krawatte gelöst und sah nun aus, wie irgendein betrunkener Penner, der sich schöne Kleider geklaut hatte. Aber er hatte nicht getrunken. Er war vollkommen nüchtern.
„Sie ist gerade davongelaufen“, sagte er und wollte sich verdrücken, aber sein Vater hielt ihn zurück.
„Warte mal, David. Wir müssen miteinander reden.“
David drehte sich um und starrte seinen Vater an.
„Wir müssen miteinander reden? Glaubst du nicht eher, dass du und Mum miteinander reden müsstet?“
„Genau darüber möchte ich reden. Ich bin zurückgekommen, weil ich mit ihr reden wollte. Doch sie wollte mir nicht einmal zu hören. Ich denke, wir werden nicht mehr lange eine Familie sein.“
„Das sind wir doch noch nie gewesen“, flüsterte David leise und ging die Treppe hinauf.
Sein Vater hatte seine Bemerkung scheinbar nicht gehört.
„David, das ist vielleicht der letzte Tag, an dem wir alle unter einem Dach leben. Ich möchte mit dir reden.“
David seufzte, brachte sich unter Kontrolle und drehte sich wieder um.
„Und über was? Deine Probleme kannst du nicht mit mir bereden.“
Er erinnerte sich an Jessica Sheen, die sagte, dass es gut tut, wenn man seine Probleme mit jemandem besprechen kann.
„Das will ich auch gar nicht.“
Er deutete auf die Polstergruppe.
„Setz dich.“
David liess seine Schultasche fallen und setzte sich hin. Sein Vater versteifte sich und presste die Fingerspitzen aufeinander.
„Du wirst in ein paar Wochen zwanzig Jahre alt. Eigentlich wollten wir es dir dann sagen, aber vielleicht solltest du es jetzt schon wissen.“
David hörte nur zu. Er vermutete, was ihm sein Vater sagen wollte.
„Du hast als du klein warst immer gefragt, wo unsere Fotos sind, als deine Mutter mit dir schwanger war. Wir sagten, wir hatten damals keinen Fotoapparat gehabt. Das ist nicht wahr.“
Scheinbar wollte ihm sein Vater genau das sagen, was David dachte.
„Die Wahrheit ist ... wir haben ... wir sind ... wir haben dich adoptiert, David. Du bist nicht unser leiblicher Sohn.“
David sah seinen Vater nur ruhig an. In dessen Augen lag Verzweiflung, Trauer und Angst vor seiner Reaktion.
„Ich weiss“, sagte er darum nur.
Sein Vater starrte ihn ungläubig an: „Du weisst es? Von wo?“
„Nicht von wo, von wem. Ihr habt euch vor ein paar Jahren einmal zu laut über das unterhalten. Ich brauchte nur noch ein bisschen logisch zu überlegen.“
Der Vater nickte leicht. Er glaubte sich zu erinnern, dass er befürchtet hatte, dass David es mitgekriegt hatte. Scheinbar hatte er sich nicht ohne Grund Sorgen gemacht.
„Wenn du es weisst, dann kann ich gleich weiterfahren. Dei ... Meine Frau und ich streiten uns nicht einfach so. Nicht, weil wir uns nicht mehr verstehen oder so, sondern weil wir über ein bestimmtes Thema zwei verschiedene Meinungen haben.“
David richtete sich halb auf und musterte seinen Vater.
„Deine richtige Mutter hat sich bei uns gemeldet. Sie will dich sehen.“
Das war ein Schlag ins Gesicht. Er hätte erwartet, dass sich seine Eltern darüber streiten, ob sie es ihm überhaupt sagen wollen, aber dass seine richtige Mutter ihn sehen will hätte er nicht erwartet.
„Wir hatten bei der Adoption ausgemacht, dass sie dich weiterhin sehen darf. Als sie wegzog, haben wir gedacht, dass sie jetzt wirklich weg ist. Vor ein paar Wochen ist sie wieder gekommen und hat gesagt, dass sie dich sehen will. Wir können es ihr nicht verwehren. Es war ausgemacht, dass sie das darf.“
David verstand nicht ganz, wo das Problem lag. Sie hätten diese Frau einfach einladen können, sie als eine Geschäftspartnerin seines Vater ausgeben können und sie hätte ihn gesehen. Das war doch ganz einfach. Er hätte keinen Verdacht geschöpft, da sein ‘Vater’ ja dauernd Leute zum Abendessen nach Hause brachte.
„Aber warum habt ihr es dann verwehrt?“
Sein Vater seufzte.
„Es war nicht ganz so einfach, wie du denkst. Ich weiss, du denkst, wir hätten sie einfach einladen können. Das wäre ja in Ordnung gewesen, wenn du sie nicht kennen würdest.“
David starrte seinen Vater an. Er kannte seine richtige Mutter und wusste nur nicht, dass sie es war?
„Wer ist es?“
Sein Vater wollte aufstehen, aber Davids Blick hielt ihn fest. Er wollte wissen, wer seine leibliche Mutter war. Er hatte das Recht, es zu erfahren.
„Sie ist ... ihr Name ist Jessica Sheen, deine Englischlehrerin.“
 
 

Er hätte jede akzeptiert, jede andere Frau, aber nicht Jessica Sheen. Sie konnte es nicht sein. Warum sollte sie es sein? Das ging doch einfach nicht.
Doch war es so und er wusste es. Er konnte nichts dagegen tun, aber auf einmal spürte er, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Er konnte sie nicht mehr zurückhalten.
„Warum habt ihr es mir nicht früher gesagt? Ich hätte euch dann vielleicht besser verstanden als jetzt“, brachte er hervor und stürzte davon.
„David! So warte doch! David!“
Er wartete nicht, sondern stürmte in sein Zimmer, liess die Tür mit lautem Krachen in das Schloss fallen und schloss sie ab.
Er hätte noch Aufgaben machen müssen, aber an die waren jetzt nicht zu denken. Viel mehr gingen ihm die Worte seines Nichtvaters durch den Kopf. Jessica Sheen war seine leibliche Mutter. Sie wusste es genau und hatte nichts gesagt. Diese verdammte Schlange!
Er nahm seinen Baseball in die Hand und schleudere ihn gegen die Wand. Zum Glück waren die Wände ziemlich hart. Er konnte sich nicht mehr beherrschen.
 
 

Er ass kein Abendessen und ging am Morgen auch ohne etwas zu sagen oder zu essen aus dem Haus. Seine Adoptivmutter war wieder gekommen und zum ersten Mal seit Wochen schwiegen die beiden, als er herunterkam und schrien sich nicht an, aber er sagte dafür nichts. Sie konnten ihm im Moment gestohlen bleiben.
Sie versuchte zwar mit ihm zu reden, aber er gab keine Antwort, sondern versah sie nur mit einem bösen Blick und ging hinaus. Er holte sein Rad aus der Garage, um noch schnell zu Tommy zu fahren, damit er die Aufgaben abschreiben konnte, die er gestern nicht gemacht hatte.
Tommy gab sie ihm und machte seine Sprüche darüber. David versteckte seine Laune hinter einer dicken Mauer und grinste, er habe wichtigeres zu tun gehabt.
Sie fuhren beide zur Schule und ein ganz normaler Tag begann. Na ja, fast ganz normal. Sie hatten nämlich in der dritten Stunde Englisch, zwei Stunden lang. David wusste nicht, wie er das aushalten sollte.
Die ersten beiden Stunden vergingen schnell und er konnte sich sogar konzentrieren, aber dann in der Pause vor der dritten Stunde musste er sich beherrschen, um nicht jeden anzubrüllen, der ihm zu nahe kam.
Als die Glocke läutete, war plötzlich jede Nervosität wie weggeblasen. Er spielte wieder den netten, ruhigen Jungen, der manchmal mehr wusste als die Lehrer und der immer zu einem Scherz aufgelegt war.
Jessica Sheen kam pünktlich nach dem Läuten und lächelte grüssend. Sie begann mit dem Unterricht und ahnte nicht, wie David sie ansah. Das war seine Mutter. Die Lieblingslehrerin der Schule war seine Mutter.
Er antwortete sogar ein paar Mal auf ihre Fragen, ohne dass etwas passierte.
Erst in der Pause, als die Schüler hinaus in den Park stürmten, um das schöne Wetter zu geniessen, hielt sie ihn wieder zurück. David fragte sich, ob er einfach sagen sollte, er habe keine Zeit.
„Wie geht es Ihnen?“ fragte sie.
David nickte.
„Sehr gut. Und Ihnen?“
Sie glaubte, dass er sie nicht ernst nahm, aber das tat er. Nur liess er sich das nicht anmerken.
„Ebenfalls. Haben Sie mit Ihren Eltern gesprochen?“
David nickte.
„Mein Vater hat mir den Grund ihres Streites verraten. Es war sehr ... interessant.“
Ein Teil von Jessicas Farbe wich aus ihrem Gesicht. David tat so, als würde er es nicht merken.
„Ich glaube, sie versöhnen sich wieder. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden ...“
Er wollte gehen und Jessica ein bisschen quälen, so wie sie ihn gequält hatte, aber sie hielt ihn zurück.
„Was haben Ihre Eltern Ihnen erzählt?“
„Ich glaube, dass darf ich für mich behalten, oder? Sie sind ja nicht meine Mutter, der ich alles erzählen muss.“
David sah sie abwartend an. Sie hatte sich soweit wieder gefasst, dass man ihr ihren Schock nicht mehr ansah, aber jetzt wurde sie erneut bleich, unübersehbar.
„Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind auf einmal so bleich geworden“, spielte David ihr vor.
Vielleicht, überlegte er sich, sollte ich mit dem Spielen aufhören. Es scheint sie wirklich sehr zu treffen.
„Nein, es geht schon. Es ist nur ...“
Er beschloss zu warten, bis sie es ihm sagte, dass sie seine Mutter sei. Sie sollte die Gelegenheit haben, sich bei ihm zu entschuldigen, für alles, was sie getan hatte, oder eben nicht.
„Kann ich dann gehen, Miss Sheen? Meine Freunde warten auf mich.“
Sie nickte und David ging schneller als gewollt hinaus.
Tommy fing ihn gleich im Park ab und fragte: „Was hat die Braut jetzt von dir gewollt? Hat sie dir einen Heiratsantrag gemacht?“
Damit hatte Tommy gar nicht so unrecht, aber David puffte ihm in die Rippen und grinste.
„Sie hat mich gefragt, ob es mir besser gehe als gestern.“
„Ja, gestern warst du voll down. Und, geht es dir besser?“
David nickte und fing einen Ball ab, der von der Spielwiese her gerollt war.
„Meine Eltern haben sich wieder versöhnt. Sie haben sogar wieder miteinander zu Morgen gegessen und miteinander geredet.“
Der zweite Teil stimmte nicht ganz, aber darauf kam es ja nicht an.
„Freut mich für dich. Was ist, gehen wir was essen?“
David nickte und sie gingen zu einem Kiosk, um sich einen Hot Dog zu kaufen.
Tommy war nicht gerade das, was man schlecht aussehen nannte und das nutzte er immer voll aus. Er flirtete mit den Mädchen, die vorübergingen und hoffte, dass eine von ihnen noch nicht vergeben war. Zwar wollte er sowieso immer nur ein bisschen Spass haben und liess es nicht zu richtigen Gefühlen kommen, aber die Mädchen, oder besser die jungen Frauen machten manchmal doch mit, wenn sie auch nicht mehr als ein bisschen Spass wollten.
David hingegen war nicht der Aufreisser-Typ. Zwar hatte er schon viele Freundschaften mit Mädchen gehabt, meistens von Tommy vermittelt, aber richtig verliebt war er noch nie gewesen. Sein Freund riet ihm, das auch nie zu werden, denn dadurch entstanden sowieso nur Probleme.
„Hey, wie wäre es mit diesen beiden?“ fragte Tommy und zeigte auf zwei wirklich gutaussehende Mädchen, die einen Schaufensterbummel machten.
David zögerte, aber Tommy zog ihn unerbittlich zu den Frauen hin und machte sie an. Die beiden machten gut mit und flirteten heftig zurück. David flirtete Tommy zu liebe mit einer der beiden und kaum eine Minute später hatten sie sich am Abend für einen Kinobesuch verabredet.
Sie verabschiedeten sich wieder, da Tommy und David wieder in die Schule mussten und winkten einander gut gelaunt zu.
„Zu deiner Information haben wir morgen eine Mathe-Prüfung“, erinnerte David Tommy.
Dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Der Lehrer wird schon nicht immer schauen, dann kannst du mir einmal einen Spick rüber werfen.“
David zuckte mit den Schultern. Er hatte Tommy schon oft so geholfen und der Lehrer hatte noch nie etwas bemerkt.
Sie gingen zurück zur Schule, wo schon andere Schüler darauf warteten, wieder in die Stunden zurückzugehen, damit sie möglichst schnell aus der Schule hinaus kamen.
Tommy und David gingen in ihr Zimmer, und auf dem Weg zum Flur kam ihnen ihre Englischlehrerin entgegen, Davids Mutter. Er schaute demonstrativ zur Seite, während Jessica, direkt auf ihn zusteuerte.
Tommy stiess ihn mit dem Ellbogen in die Seite und ging grinsend davon.
Jessica nickte ihm freundlich zu, und kam dann zu David.
„Ich möchte mit Ihnen reden, David“, sagte sie.
David hob die Brauen und flüsterte ironisch: „Das ist ja mal etwas ganz Neues.“
Sie ging nicht auf seine Bemerkung ein und zeigte auf ein leeres Klassenzimmer.
Er ging mit einem Schulterzucken hinein und setzte sich auf einen Tisch.
„Ich habe mir lange überlegt, was ich tun soll, aber nun habe ich mich dazu entschlossen, es Ihnen zu sagen“, fing sie an und fuhr sich nervös durch die Haare.
David unterdrückte ein Grinsen. Er liess sie schwitzen, während er ja eigentlich schon genau wusste, was sie sagen wollte. Aber er sagte nichts. Sie hatte ihm indirekt auch Schmerzen zugefügt, warum sollte er sie nicht auch leiden lassen?
„Ich glaube, ich weiss, was Ihre Eltern für Probleme haben, weil ich sie vermutlich verursache.“
David hob die Brauen, liess sich sonst aber keine künstliche Überraschung anmerken.
„Ich weiss, dass Sie das tun“, sagte er ruhig.
Wieder verlor Jessicas Gesicht an Farbe.
„Wie meinen Sie das?“ fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern, packte seinen Schulrucksack und sagt leise: „Ich weiss, dass du meine Mutter bist.“
Ihren erstarrten Gesichtsausdruck sah er schon gar nicht mehr, als er wieder hinausging und nach Tommy suchte. Eigentlich hätte er gedacht, dass er seine Überraschung schon überwunden hatte, aber scheinbar stimmte das nicht. Es tat ihm leid, wie er Jessica behandelte, schliesslich war sie seine Mutter. Und auch wenn er sonst mit Lehrern nicht gerade immer glimpflich umging, mit Jessica sollte er es jetzt tun, denn schliesslich hatte sie nur nach ihrem Sohn gesucht, und der behandelte sie jetzt, so als wäre sie ein Stück Dreck.
Tommy winkte ihm von Schulzimmer zu und irgendwie schien er Davids Stimmung zu bemerken und sagte nichts über das Gespräch mit Jessica.
Zu Davids Glück fing auch gleich darauf die Stunde an und Tommy wurde abgelenkt, so dass David Zeit hatte, sich zu fassen und wieder der ruhige, freundliche Typ zu werden.
 
 

Als David am Abend nach Hause kam, blieb er vor Überraschung im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen. Jessica Sheen sass mit seinen Adoptiveltern am Tisch und sah ihn an. Sein 'Vater' sprang auf und war scheinbar am gefassten von allen.
"Setz dich bitte, David", sagte er und zeigte auf einen Stuhl.
Davids Laune, die sich um einiges gebessert hatte, verschlechterte sich wieder, aber er setzte sich und starrte alle böse an.
"David, wir möchten dir erklären, warum wir dich ... adoptiert haben", sagte seine Mutter und ihre Stimme klang zittrig.
Er sah sie an und sie tat ihm leid. Er konnte sich ungefähr vorstellen, warum er adoptiert wurde und er verstand seine Eltern. Sie brauchten ihm nichts mehr zu erzählen.
"Ich kann keine Kinder bekommen, David, aber Frank und ich wünschten uns unbedingt eines."
Er nickte und konnte es plötzlich nicht mehr ertragen in die Augen seiner Adoptivmutter zu sehen, statt dessen sah er in die von seiner richtigen Mutter, die ihren Blick anwandte.
"Wer ist mein Vater?" fragte er sie.
Sie sah ihn wieder an und schluckte.
"Sein Name ist Andrew Slater. Er wohnt hier in L. A."
Er starrte sie an und diesmal war er es, der schluckte. Er kannte Andrew Slater, nicht persönlich, aber er hatte schon viel von ihm gehört. Er war ein Schauspieler, ein sehr berühmter Schauspieler und spielte meistens in Actionfilmen. In gewisser Weise war er ein Vorbild von ihm. Und erst jetzt erfuhr er, wie sehr sein Gefühl damit recht hatte.
"Als ich schwanger war, haben wir uns beide dazu entschlossen, dich wegzugeben. Er stand gerade am Anfang seiner Karriere und ich war noch immer in der Schule. Wir hätten beide keine Zeit für dich gehabt."
Er starrte sie noch immer so an, als hätte sie ihm gerade gesagt, dass er in Wirklichkeit kein Mensch, sondern ein Ausserirdischer sei. Andrew Slater war sein Vater, ein Mann, der an seiner ganzen Schule bekannt war und verehrt wurde wie ein Gott. Das war ja nicht zum Aushalten.
"Ich habe vor ein paar Wochen mit ihm Kontakt aufgenommen. Er sagte, er wäre bereit, mit dir zu reden, wenn es dir nichts ausmacht, ihn auf dem Set zu besuchen."
Er starrte sie immer noch an, aber diesmal nicht aus Erstaunen, sondern der vollkommen Überraschung. Auf dem Set zu besuchen. Das war ja noch unglaublicher. Er konnte seinen Vater, den berühmten Schauspieler Andrew Slater auf dem Set besuchen.
"Natürlich macht es mir nichts aus", brachte er schliesslich heraus. Seine Mutter war noch immer ziemlich verwirrt, aber sie merkte, dass Davids Stimmung sich wieder gebessert hatte.
"Andrew dreht morgen in den Studios. Ich werde dich nach der Schule hinbringen, wenn du willst", sagte Jessica und er nickte.
Die Stimmung besserte sich noch mehr und schliesslich konnte er sogar lachen. Seine früheren Eltern lachten erleichtert mit und von aussen betrachtet sah es so aus, als wären sie eine einzige Familie, was sie schliesslich auch fast waren.
Als dann Tommy an der Tür klopfte, wurde David erschrocken bewusst, wieviel Zeit vergangen war
Er öffnete ihm, nachdem er rasch erklärt hatte, dass er heute abend noch wegging, und sagte zu Tommy, er sei gleich bereit.
"Ist das nicht der Wagen der Sheen da draussen?" fragte dieser.
David sah einen Moment lang verwirrt nach draussen und nickte dann.
"Sie hat meine Eltern besucht, um mit ihnen zu reden. Sie meint, dass es meine Leistungen beeinträchtige, wenn sie sich dauernd anschreien. Jetzt geht es ihnen schon wieder viel besser."
Tommy musterte David, sagte aber nichts.
David kam dann schnell umgezogen zurück, warf einen Blick ins Wohnzimmer, verabschiedete sich und sie fuhren mit Tommy Auto davon.
Vor dem Kino warteten sie keine fünf Minuten, bis sie die Mädchen im Gewühl entdeckten. Sie entschieden sich für einen Liebesfilm, der gerade mehrere Oskars gewonnen hatte.
In der hintersten Reihe war es immer dunkel und David spürte bald die Hand von Maraika, wie das Mädchen hiess, auf seiner. Er drückte sie.
Am Ende des Filmes konnte weder David noch Tommy noch die beiden Mädchen sagen, um was er sich gehandelt hatte. Sie schlenderten noch eine Weile durch die Strassen und dabei hielten sich die beiden Pärchen fest in den Armen.
Gegen Mitternacht entschieden sie sich dann, die Telefonnummern auszutauschen und sich bald wieder zu verabreden. Sie brachten die beiden nach Hause, obwohl sie kaum hundert Meter vom Kino entfernt wohnten. Dann fuhr Tommy zu David und lud ihn auch aus.
"Was ist jetzt eigentlich wirklich mit der Sheen?", fragt er ernst.
David zögerte einen Moment und meinte dann: "Ich erzähle es dir, wenn ich soweit bin, okay?"
Damit ging er ins Haus, wo seine Eltern schon im Bett waren und schliefen.
 
 

Am nächsten Morgen schliefen Davids Eltern aus. David ging zu Fuss zu Schule und stellte erleichtert fest, dass er heute kein Englisch hatte.
Tommy sprach ihn nicht mehr wegen Jessica an, sondern schwärmte von seiner neuen Freundin.
Sie hatten vier Stunden Schule und David kam es wie eine Ewigkeit vor. Er war noch nie so nervös gewesen. Endlich traf er seinen Superstar, seinen Vater.
Gleich nach dem Läuten der Schulglocke hechtete er zur Tür, rief Tommy einen Grus zu, der ihm nur verwirrt nachsah und rannte hinaus.
Jessica wartete schon in ihrem Wagen und er sprang hinein.
Sie lächelte leicht, als sie seine Aufregung bemerkte.
"Nervös?" fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern.
"Man sieht nicht jeden Tag seinen Vater zum ersten Mal."
Sie lächelte und fuhr weiter. Die Stadtteile wurden immer sauberer und schöner, ein Zeichen dafür, dass hier die reichen Leute wohnten. Zwar wohnte David auch nicht schlecht, aber das hier waren doch ganz andere Dimensionen.
"Hier wären wir", sagte sie, auf die grosse Aufschrift der Studios zeigend.
Mehrere Dutzend Fans standen vor der Tür, mit grossen Aufschriften für Andrew Slater. Vor ein paar Tagen hätte er das vielleicht auch noch gemacht.
Sie zwängten sich durch die Reihen, wobei sie von wütenden Rufen verfolgt wurden.
Ein Mann stand am oberen Ende der Treppe, die zur Tür hinauf führet und schien auf sie gewartet zu haben.
"Kommen Sie bitte. Mr Slater hat gerade Mittagspause."
Sie folgten ihm durch die dunklen Gängen und an mehren Studios vorbei. Erstaunt betrachtete die Kameras, die Bühnen, die so echt wirkten.
"Hier entlang, bitte", sagte der Mann und zeigte durch eine Tür.
Jessica ging hinein und nach kurzem Zögern folgte David ihr.
Sie traten in einen riesigen Raum. Es war anscheinend eine Art Kantine, war aber weitaus schöner als die von David Schule.
Der Mann zeigte auf einen Tisch. Jessica nickte wieder. David aber konnte sich kaum mehr bewegen. Er sah mehrere bekannte Gesichter unter den Essenden, Schauspieler und Regisseure. Sie beachteten ihn nicht gross. Scheinbar waren sie es gewöhnt, so angestarrt zu werden.
Jessica zog ihm leicht am Ärmel und er löste sich aus seiner Starre. Sie traten auf den Tisch zu, wo sich bereits ein grosser, muskulöser Mann erhoben hatte.
David konnte ihn nur noch anstarren. Er stand Andrew Slater gegenüber, Auge in Auge und er sah ihn an, und lächelte. Seine Gestalt wirkte live noch viel eindrucksvoller.
Andrew Blick glitt auf Jessica und er lächelte wieder.
"Es ist lange her, Jess", sagte er sanft.
Sie nickte und lächelte.
"Das ist David Ellison", sagte sie auf ihn zeigend.
Andrew sah wieder auf David und musterte ihn freundlich. Der Blick liess David erschauern, aber er liess es sich nicht anmerken.
"Hallo, David. Ich bin Andy", sagte er überflüssiger Weise und streckte ihm die Hand entgegen.
"Ich weiss", sagte David und nahm die Hand.
Andy lächelte und deutete auf die beiden Stühle, die vor ihm frei waren. Sie setzten sich und Andy schob sein Essen zur Seite.
"Du weisst also, wer ich bin", sagte Andy.
David nickte.
"Ja, ich habe es gestern erfahren. Ein bisschen spät, aber lieber spät als nie."
Andy lächelte wieder.
"Du nimmst die Sache mit Humor, das finde ich gut. Ich bin sicher, ihr habt gestern schon viel darüber geredet, warum Jess und ich uns entschieden haben, dich wegzugeben, oder?"
Er nickte wieder.
"Ja, es war ziemlich interessant."
"Du hättest sein Gesicht sehen müssen, als ich ihm sagte, du wärst sein Vater", warf Jessica dazwischen und Andy grinste breit.
"Das ist nicht komisch", meinte David, "Sie ... du hättest sicher auch so reagiert, wenn man dir gesagt hätte, dass ein berühmter Schauspieler dein Vater sei."
Andy nickte und wurde wieder einigermassen ernst.
"Natürlich. Ich kann dich verstehen. Niemand hätte anders reagiert."
David nickte und konnte seine Verwunderung immer noch nicht ganz verstehen. Andrew sein Vater, er sagte 'Du' zu ihm und nannten ihn Andy. Viele der Schule träumten davon, nur einmal einen Meter neben ihm zu stehen und er sprach sogar mit ihm.
"Verstehst du, dass du kein schönes Leben gehabt hättest, wenn wir dich behalten hätten?" fragte Andy ernst. Scheinbar schien ihm wirklich etwas an seinem Sohn zu liegen.
David nickte zögernd.
"Warum habt ihr euch getrennt?" fragte er.
Jess hob peinlich berührt die Hand an den Hals, als wolle sie sich dort kratzen. Genauso schien Andy die Frage peinlich zu berühren, aber er sagte: "Nach deiner Geburt ging meine Karriere im steilsten Weg nach oben. Ich hatte keine Zeit mehr für Jess und da haben wir uns getrennt."
David sah von Andy zu Jess und wieder zurück. Er war sicher, dass das nicht der ganze Grund war, fragte aber nicht weiter.
Andy schien ihm wortlos dafür zu danken und fragte: "Was ist? Kommst du mit zum Set?"
Er nickte und sie gingen wieder zu den Sets zurück. Andy stellte ihm den Regisseur, Brad Harwey, vor. Ein Lieblingsfilm von David stammt von ihm.
"Hi, David. Freut mich, dich kennenzulernen", meinte er.
David konnte nur nicken. Brad machte keine Bemerkungen über sein Erstaunen und wandte sich Andy zu.
"Das Hintergrundbild ist zerrissen worden. Wir werden den Tag brauchen, um es wieder zu flicken. Ihr könnt euch also genug Zeit füreinander nehmen."
Erfreut lächelte Andy. Was für ein glücklicher Zufall.
"Wenn es euch recht ist, werde ich jetzt verschwinden. Ich habe in einer halben Stunde eine Vorlesung und muss mich noch ein wenig vorbereiten", sagte Jessica plötzlich.
Andy nickte und sie verabschiedeten sich mit einem sanften Kuss.
"Ich werde David dann nach Hause bringen", sagte er.
Jessica lächelte David zu und ging dann mit zielbewusstem Schritt hinaus. Er drehte sich zu Andy um, der ihn erwartend ansah.
"Wie wäre es mit einem kleinen Stadtbummel?" fragt er.
David zuckte mit den Schultern: "Warum nicht?"
Andy zeigte auf die Tür und als sie draussen waren, auf ein rotes Cabriolet.
"Wow!" entfuhr es David.
Andy lächelte nur und stieg ein. David setzte sich neben ihn und es entfuhr ihm nochmals ein Wow, als Andy mit fast hundert Kilometern pro Stunde durchstartete. Die Reifen quietschen bedrohlich, beruhigten sich aber schnell wieder, als Andy das Tempo mässigte und wie ein normaler Bürger fuhr.
"Wie gefällt es dir hier in L.A., David?" fragte Andy.
"Ich weiss nicht, wie es in anderen Städten ist, also kann ich es nicht sagen", antwortete David.
Andy grinste. "Da spricht wohl der Einserschüler, was?"
David warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.
"Als ich in deinem Alter war, war mir die Schule so ziemlich egal, aber irgendwie habe ich es immer wieder geschafft, nicht durch zu fallen. Gegen Ende des Colleges war ich einer der besten meiner Klasse und meine Eltern drängten mich, auf eine Universität zu gehen. Ich wollte aber lieber Schauspieler werden."
David nickte. Als er in die Schule kam, wurde er von Lehrerin als ein wenig schwer von Begriff eingestuft und kam in eine Sonderklasse. Dort stellte sich aber heraus, dass er sich nur langweilte, weil er das alles schon konnte.
"Bist du... verheiratet?" fragte David zögernd.
Andy zögerte und machte dann eine Kopfbewegung, die sowohl ein Nicken als ein Schütteln des Kopfes sein konnte.
„Auf dem Papier bin ich noch verheiratet, aber richtig nicht.“
„Was heisst das?“ fragte David weiter.
Andy seufzte. „Meine Frau hat einen neuen Freund. Ich habe die Scheidung eingereicht, vor ein paar Tagen erst. In einer Woche kommen wir vor Friedensrichter, aber ich denke nicht, dass das etwas ändern wird.“
David nickte verstehend. Er hatte es irgendwie nicht anders erwartet, aber er war jetzt trotzdem erstaunt. Bei den meisten berühmten Leuten klappte eine Ehe nicht, vor allem wenn einer von beiden nicht berühmt war.
„Hast du noch andere Kinder, ausser mir?“ interviewte er ihn weiter.
„Nein, warum meinst du?“
David zuckte mit den Schultern. Er wusste eigentlich nicht, warum er das fragte, aber es erschien ihm aus irgend einem Grund ziemlich wichtig.
„Vielleicht interessiert es mich, wie meine Geschwister aussehen“, antwortete er also.
Andy nickte nur.
Die Strassen wurden belebter und ab und zu schien jemand Andy zu erkennen und stiess wilde Kreische aus, die die anderen Fussgänger auf ihn aufmerksam machten. Andy schien das nichts auszumachen.
„Stört es dich nicht, wenn dir dauernd jemand hinterher kreischt?“ fragte er und musterte eine junge Frau, die gerade die Hände vor den Mund schlug, um einen erstaunten Schrei zu unterdrücken.
„Man gewöhnt sich daran. Wir dürfen einfach nicht anhalten, dann ist alles okay.“
David nickte wieder. Er würde sich vermutlich nie daran gewöhnen.
Plötzlich bekam er einen riesigen Schock. Er sah Tommy, wie er mit seiner neuen Freundin Frances schmuste. Er zog den Kopf ein, aber Tommy schien ihn trotzdem erkannt zu haben, genauso wie Andy. Er starrte ihm nach und David musste sich bemühen, um sich nicht umzublicken.
„Ein Freund von dir?“ fragte Andy, der seine Blick gesehen hat und der nun auch Davids Gesichtsfarbe gesehen hatte, die wesentlich heller als vorher war.
„Mein bester Freund. Ich habe ihm nicht erzählt, was passiert ist“, antwortete David und schluckte.
„Dann wird es langsam Zeit, dass du es ihm erzählst, findest du nicht auch?“
David zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es eigentlich im Moment noch nicht vor“, sagte er leise.
Er hatte sich überlegt, ob er es je einmal sagen würde. Er war schon sowieso in der Schule allgemein bekannt, denn mit seinem Zeugnis musste man das einfach sein. Dann kamen noch die Schlägereien dazu, die auf immer wieder Aufsehen erregten. Wenn jetzt noch auskommen würde, dass Andrew Slater sein Vater ist, dann wäre sein stilles Leben kaputt. Er wollte nämlich nicht berühmt werden, nicht so wie Andy.
„Es wird nicht einfach sein, das zu verheimlichen, David. Und ich fände es nicht so schlimm.“
Er nickte wieder. Natürlich würde es das nicht sein. Wenn er seinen Vater ab und zu einmal sehen wollte, würde das überhaupt nicht einfach sein, wenn nicht sogar unmöglich.
„Ich bin nicht so wie du, Andy. Ich habe keine Lust, immer im Mittelpunkt zu stehen, wo ich auch hinkomme. Ich könnte das nicht ertragen.“
Andy nickte nur.
„Ich stehe schon viel in der Schule im Mittelpunkt. Wenn ich wieder einmal eine Schlägerei habe, dann werde ich nur nicht suspendiert, weil ich so gute Noten habe. Nach jedem Kampf kommen wieder ein paar kesse Mädchen auf mich zu und fragen, ob ich schon vergeben sei. Ich raste da schon fast aus.“
Andy lächelte leicht erstaunt. „Du schlägst dich mit anderen?“
„Ich glaube, das habe ich von dir geerbt. Wenn jemand auf mich losgeht, dann verteidige ich mich und laufe nicht davon.“
Er nickte wieder nur und grinste. „Ich habe mir von Brad deine Schulakte besorgen lassen. Andere wären auch mit deinen guten Noten schon lange rausgeflogen. Durchschnittlich drei Schlägereien in einem Monat. Das ist mehr, als ich im Film habe.“
David lächelte leicht. „Es gibt immer wieder Typen, die glauben, nur weil ich gute Noten habe, können sie mit mir machen, was sie wollen.“
Andy meinte: „Das finde ich gut. Ich habe in meiner Jugend nie auch nur einer Fliege etwas zu leide getan. Ich denke, daher kommt es, dass ich jetzt nur noch Actionfilme mache.“
 
 

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