Das Erbe - Teil I
by Ninax



Prolog

Ich konnte nicht mehr morphen. Es war zu spät. Ich würde sterben.
Mir war schlecht.
Ich konnte nicht glauben was ich da noch sehen musste.
Lena lag leblos neben mir. Aus ihrem Mund und ihren Augen rann Blut.
Sie war tot. Sie war sofort gestorben.
Aber in ihrem Arm lag völlig unversehrt Mereen.
Ich wollte zu ihr. Ich musste wenigstens sie noch retten.
Aber als ich mich aufrappeln wollte, versagten meine Beine.
Meine gesamte linke Seite und mein Rücken waren offen.
Eine riesige Wunde.
Wenn ich gewollt hätte, hätte ich in die Wunde greifen können und einige Innereien heraus ziehen können.
Ich wunderte mich, warum ich überhaupt noch lebte.
Irgendwie schaffte ich es, Lenas Hände zu erreichen.
Ich umschloss und betrachtete sie. Sie waren durch und durch Menschlich. Und dennoch waren sie mir vertraut.
In meinen letzten Augenblicken dachte ich an mein vergangenes Leben.
Ich dacht an meine Freunde, die Animorphs.
An Cassies Scheune.
Sie war jetzt ein Trümmerhaufen.
Ich dachte an den Kampf gegen die Yirks.
Dann dachte ich an meine Familie.
Ich sah das Gesicht meines Vaters und meiner Mutter.
Und dann erinnerte ich mich an Elfangor.
Früher, als ich noch jung war, hatte ich mir immer gewünscht so zu sein wie er.
Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen
Ich war ein Prinz, ein grosser Held.
Ich hatte mithelfen können, die Yirks zu besiegen.
Dann schossen mir noch weitere Gedanken durch den Kopf.
Ich dachte an Lena.
Genau wie Elfangor, hatte ich mich in einen Menschen verliebt.
Lena........
Ich war glücklich mit ihr gewesen.
Mir wurde schwarz vor Augen.
Ich dachte noch weiter.
Genau wie Elfangor würde ich jetzt auch auf der Erde sterben.
Aber ich starb allein.
Die BlueBox lag neben mir im Dreck.
Ich dachte an meine Tochter.
Würden die Menschen Mereen lebend finden?
Da fiel mir noch etwas ein.
Mir der freien Hand tastete ich nach der serra.
Als ich sie fand, konzentrierte ich mich ein letztes Mal. Hoffentlich würden Jake und die anderen sie jemals verstehen können.
Ich legte die serra in Mereens Hände.
Dann sah ich in den Himmel.
Langsam schwanden meine Sinne.
Ich hielt Lenas Hand fest umschlossen..............
Und in dem Moment in dem ich starb, lachte er
 

Die Stimmen

„AAAAAAAAHHHHH!!!!!!“
Ein gellender Schrei schallte durch das Bockses Waisenhaus.
„Mereen!“ Misses Protwing rauschte in das Zimmer.
„Kind, bist du in Ordnung?“
Mereen atmete schwer. Sie sass kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst.
„Waren es wieder diese Träume?“
Mereen schluckte. Sie hatte beim besten Willen jetzt keine Lust auf Umarmungen die sie trösten sollten.
„Nein....nein Misses Protwing. Es ist alles in Ordnung. Es waren nicht diese....“ sie räusperte sich „.....Träume“
Die Betreuerin lächelte. „Was sollte es denn sonst gewesen sein?“
Mereen knubbelte ihre Bettdecke zusammen. „Naja..... da war etwas am Fenster und hat mich erschreckt....“ log sie. Misses Protwing lächelte noch immer. „Kind, wir sind im dritten Stock!“
Mereen biss sich auf die Lippe „Ein Vogel....?“ versuchte sie noch, aber bei ihrer Betreuerin gab es kein Entrinnen. Misses Protwing war schon ziemlich alt und arbeitete schon in diesem Waisenhaus, als es gerade erst fertig gestellt worden war.
Sie drückte Mereen an sich. „Kind, vielleicht wäre es besser einen echten Psychiater aufzusuchen...“
Das war zu viel. „ICH BIN NICHT VERRÜCKT!“ schrie Mereen.
„Scchhhh...das hat ja auch niemand behauptet. Aber vielleicht kann er dir helfen diese Träume los zu werden. Dann könntest du wieder schlafen, und..“
„Nein...es ist schon gut. Das geht von alleine weg. Ich möchte jetzt schlafen.“
Mereen zwang sich ein Lächeln ab.
„Also gut...dann... Gute Nacht!“
Misses Protwing drückte sie noch ein mal. Dann verliess sie das Zimmer.
Es war wieder dunkel. Mereen legte sich wieder hin und starrte an die Decke.
Was hatte die Stimme noch gesagt?
„Ich werde mich rächen.....ich werde zuerst deine Familie und dann dich töten....Und irgendwann werde ich auch deine Freunde vernichten......“
An die Bilder die sie zusätzlich gesehen hatte, konnte sie sich nicht erinnern.
„Welche Familie?“ dachte sie bei sich.....

Mereen war dreizehn Jahre alt und schon so lange sie denken konnte Vollwaise. Aus dem Bockses Waisenhaus war sie die älteste. Sie kannte Misses Protwing seit sie hier herein gekommen war.
Über ihre Eltern wusste sie fast nichts, noch nicht einmal ihre Namen. Nur von ihrer Mutter wusste sie, das sie, mit Mereen im Arm, hier, als das Waisenhaus noch nicht erbaut war, tot aufgefunden worden war.
Irgendwie wurde um all das ein grosses Geheimnis gemacht: Ihren Fragen wurde ausgewichen und die Todesursache verschwieg man ihr.
Mereen war das alles ziemlich egal gewesen- bis vor wenigen Wochen. Da hatte es mit den Träumen angefangen
Eigentlich hatte sie schon von klein auf Träume gehabt, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie!
Früher hatte sie ab und zu mal im Schlaf verschwommene Bilder gesehen, die ihr am nächsten Tag gleich wieder aus dem Gedächtnis gerutscht waren.
Jetzt wurden diese Bilder immer deutlicher und Stimmen kamen hinzu, aus denen sie sich keinen Reim machen konnte. Obwohl sie sich später nicht mehr genau erinnern konnte, blieb doch ein Teil der Träume in ihr hängen und schien ein endloses Puzzle zu ergeben.
Seither bemerkte Mereen auch die ungewöhnlichen Eigenschaften an sich.
Sie war blass, aber es war nicht diese kränkliche, weisse Farbe, sondern eher ein gesunder Grauton; ja vielleicht sogar ein wenig bläulich. Richtig, wie kann grau gesund aussehen? Aber es geht anscheinend....
Sie konnte so lange an die Luft gehen wie sie wollte, sie bekam noch nicht einmal einen Hauch von rosa auf den Wangen.
Sie hatte grosse, tiefgrüne Augen, die immer glitzerten.
Ihr Haar war schwarz. Ein seltsamer Schwarzton, der im Licht bläulich glänzte. Misses Protwing und alle anderen Betreuerinnen  meinten immer, so eine Farbe hätten sie niemals gesehen.
Mereen konnte sehr schnell denken. Besonders Mathematik. Sie konnte sich diese ganzen Formeln merken und auch konstruieren. Schneller als irgendein anderer aus ihrer Klasse.
Und laufen und springen war ihre grosse Stärke.
Manchmal hatte sie das Gefühl, Stunden laufen zu können. Und sie geriet wirklich nie sehr früh ausser Atem.
Und springen? Weitsprung? Hochsprung? Darin war sie unschlagbar.
Das alles war ihr jetzt erst bewusst geworden.
Und auch erst jetzt, nahm sie die staunenden und ehrfürchtigen Blicke der anderen Leute war.
Anscheinend wussten alle, was es mit ihrer Familie auf sich hatte, nur sie selber nicht.....

Am nächsten Morgen wachte sie wie immer früh auf. „Gott sei Dank“ murmelte sie „Heute ist Samstag“.
Samstage mochte sie immer besonders gerne.
Erstens: Keine Schule
Zweitens: Heute würde sie wieder Professor Femrig besuchen. Sie konnte über alles mit ihm reden. Und ein Thema was sie Momentan beschäftigte, waren eben diese Träume.
Während sie sich einen Socken überstreifte, legte sie sich einige Fragen die sie stellen wollte zurecht.
Und in einem war sie sich sicher: Irgendwas hatte das alles mit ihrer Familie zu tun...

Vor ihrem Besuch bei Professor Femrig, ging es natürlich erst in den Speisesaal zum Frühstück.
Während Mereen sich Spiegelei auf ihren Teller schaufelte, beobachtete sie die anderen Kinder.
Da waren Carola, Maria, Jennifer, Florian, und noch viele andere. Sie konnte alle gut leiden. Aber eine beste Freundin oder gar einen besten Freund hatte sie nicht. Sowieso hatte sie auch niemand als beste Freundin haben wollen.
„Hey, Mereen!“
Mereen wirbelte herum.
„Oh. Hi Sabrina.“
Sabrina schnappte sich den Stuhl neben Mereen.
„Ich hab gehört, du hattest wieder schlechte Träume?“
Wenn es ein Mädchen gab, was Mereen nicht leiden konnte, war es Sabrina. Sie war eben so eine richtige Ziege. Tat immer so, als wenn sie gut Freund mit dir wäre und hinter deinem Rücken..........
Naja, man musste sich auf jeden Fall nicht wundern, wenn man mit Sabrina geredet hatte und am nächsten Tag gefragt wurde, ob dieses oder jenes Gerücht stimmte.
„Kann sein...“ nuschelte Mereen während sie einen Schluck von ihrer Milch nahm und sich bemühte schnell fertig zu werden, um Sabrina abzuschütteln.
„Aber, aber, warum denn so sauer heute Morgen?“
Mereen verdrehte die Augen als Sabrina sie falsch anlächelte.
„Ach ja, ich gehe heute in den Fechtclub“ sprach Sabrina weiter, ohne auf die Reaktion der Anderen zu achten, die sich alle an die Stirn tippten. Anscheinend hatte Sabrina das schon allen erzählt.
„Ein Fechtclub?“
„Ja, aber ich glaube nicht das du das schaffen würdest. Mit Laufen hat das nämlich nichts zu tun...“
 „Glaubst du, Laufen ist das einzige was ich kann?“ fragte Mereen ärgerlich.
„Natürlich nicht“ entgegnete Sabrina in ihrer hochmütigsten Stimme „Aber ich glaube kaum, das du so gut fechtest, wie du Matheformeln runterlaierst!“

Nach dem Frühstück ging Mereen quer durch die Eingangshalle zu dem Büro des Professors.
Sie ärgerte sich immer noch über Sabrina. „Jetzt werde ich erst recht nicht hingehen“ dachte sie bei sich „Ich lass mich doch nicht provozieren!“
Als sie an der Glasvitrine des Wahrzeichens des Waisenhauses vorbei ging, stutzte sie auf einmal.
„Was war das?“ murmelte sie.
Langsam drehte sie sich um.
Sie konnte das Wahrzeichen sehen.
Es war sehr schlicht: Ein kleines blaues Kästchen, was nur wegen einer sonderbaren Geschichte zum Symbol dieses Waisenhauses geworden war.
Einen Moment schien es, als wenn dieses Ding angefangen hätte zu sprechen. Und wieder hatte Mereen das Gefühl, von Stimmen überrollt zu werden.
[........Rache.......ich werde meine Rache bekommen........Lasst sie in Ruhe.......sie haben nichts mit der Geschichte zu tun..........Rache......Rache...]
Plötzlich spürte Mereen eine Kältewälle über ihrem Rücken und einen stechenden Schmerz, als wenn ihr jemand mir dem Messer ein paar Hiebe verpasst hätte, breitete sich in ihrer Brust aus.
„Miss Mereen?“
Das Gefühl war sofort wieder verschwunden. Sie starrte auf das Kästchen. Das alles kam ihr bekannt vor.....hatte sie das geträumt? Ja....die....die...Blue.....
„Miss Mereen!“
Mereen drehte den Kopf.
„Oh, Professor Femrig.“
„Stimmt etwas nicht, Mädchen?“
So ein Mist! Warum hatte sie der Professor gerade jetzt gestört! Jetzt war ihr der Gedanke schon wieder entschlüpft!
„Doch, doch, alles in Ordnung“
„Dann ist gut. Ich wollte dir nur sagen, das unser Termin verschoben wurde.“
„So?“
„Ja, wegen dem Fechtclub. Hast du schon davon gehört? Du könntest ruhig hingehen.“
„Ja...wenn sie meinen.“
„Ich muss sowieso noch etwas vorbereiten.“
„Gibt es Neuigkeiten?“
„Das kann man wohl sagen. Aber ich will dir erst nachher genaueres sagen. Das was ich mit dir zu bereden habe, dürfte dich interessieren.“

Etwas widerwillig machte sich Mereen auf den Weg zu der Fechthalle. Sie konnte sie sofort finden (dank Sabrina, die ihr den Weg noch lang und breit und mindestens hundert mal erklärt hatte).
Da der erste Kurs erst in einer halben Stunde beginnen sollte, setzte sie sich vor die Halle und dachte über ihre Träume nach- und über das seltsame Gefühl von eben.
Nach einiger Zeit kam eine Gruppe von Betreuern ihres Weges. Sie scharrten sich um die Zeitung von heute.
Sie konnten Mereen nicht sehen, denn erstens waren sie lautstark mit sich selbst beschäftigt und zweitens hatte sich Mereen schon halb hinter einen Vorhang verkrochen, der sie halbwegs verbarg.
„Also nein!“
„Das ist ja unglaublich! Sie haben es also doch getan!“
„Ich mache mir sorgen wegen Mereen. Wenn Femrig ihr alles erzählt, könnte sie einen Schock bekommen.“
„Bei Femrig doch nicht! Der wird es ihr so schonend beibringen, dass es fast selbstverständlich für sie wäre.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Das Kind wird sicher aufgeregt sein.“
Dann verschwanden sie aus Mereens Hörfeld.
„Das muss ja furchtbar wichtig sein, was Femrig mir da erzählen will“ dachte sie.
Und plötzlich: [.......Ich bin zwar nicht mehr so stark wie früher, aber diese Hände können immer noch töten.......Ich werde das nicht zulassen...... Prinz, was wollt ihr erreichen..........Ich sage euch nichts! NIEMALS!]
Mereen griff sich an den Kopf. Und dann riss sie vor Schreck die Augen weit auf.
[Lasst Mereen in Frieden........ MEREEN!..................]
 

Der Fechtclub

[.......jetzt zeigt ihr Angst?............]
Dann plötzlich eine andere Stimme.
[....Bitte, lasst uns verschwinden......Ihr werdet jetzt doch nicht feige sein Prinz.......Ich denke nicht nur an mich, im Gegensatz zu euch......Ihr wollt mir ein schlechtes Gewissen machen?........Bitte.......Jetzt sind eure Freunde nicht mehr da Prinz. Ohne sie, seid ihr NICHTS.....]
Die Stimmen hatten Gestalt angenommen. Jede Stimme hörte sich anders an. Eine war voll von Kälte und Grausamkeit. Nur sehr schwach. Aber man konnte die Bosheit spüren.
Die andere Stimme klang entschlossen und war voller Stolz.
Die dritte Stimme hingegen hörte sich ängstlich und besorgt an.
Aber alle waren zu schwach als dass man sie irgendwem zu schreiben könnte.
[....Habt ihr gehört Prinz.....EIN NICHTS....]
„Mereen, würdest du bitte da weg gehen? Ich will die Halle aufschliessen.“
 Erschrocken sah sie in das Gesicht des Hausmeisters.
„Meine Güte, du bist ja noch weisser als die Wand! Ist etwas passiert?“
Mereen schüttelte den Kopf.
„Gut, dann mach Platz, ich will die Fechthalle aufschliessen.“
Nachdem die Halle offen war, blieb Mereen keine Zeit mehr um nach zu denken.
Fast alle Kinder aus dem Heim strömten in die Halle.
Manche die das Fechten lernen wollten, manche die nur zusehen wollten.
Am Ende war die Halle so voll, das Letztere weggeschickt werden mussten.
Madame Lemonde, eine Betreuerin und Lehrerin aus Frankreich, hatte den Unterricht übernommen.
Sie war eine unruhige, sehr schmale Frau, die nie stillstehen konnte. Mereen hatte sie nie richtig gemocht.
„Also Kinder“ schnatterte die Lehrerin „Ich werde euch heute die Grundregeln des Fechtens beibringen....“
Mereen sah sich um. Da waren viele Mädchen und Jungen die sie gut kannte. Unter ihnen war natürlich auch Sabrina. Ausgerechnet die! Sie grinste ihr frech zu.
„Ich denke, wir werden mit dem Florett beginnen.“
Ein Mädchen von weiter hinten hob die Hand. „Aber Madame! Wir sind doch gar nicht richtig angezogen...“
Das stimmte. Ausser Madame Lemonde hatte keiner die passenden Sachen an.
„Aber Kind, das macht doch nichts! Wir lernen doch erst die Grundbegriffe und die Grundschritte. Noch seid ihr nicht so weit, um richtig zu fechten.“ Schnatter schnatter...
Die Lehrerin stellte sich richtig in Pose.
Der Boden war mit Matratzen ausgelegt und in der hinteren Ecke des Raumes stand etwas, was an einen Schirmständer erinnerte, nur das da keine Schirme, sondern Degen, Säbel und Florette waren.
„Also Kinder, der Abstand zum Gegner, wie heisst der?“
Am liebsten hätte Mereen ihr den Vogel gezeigt. Woher in aller Welt, sollten sie das wissen?
Als die Lehrerin merkte, dass niemand eine Antwort hatte, beantwortete sie die Frage selber.
„Man nennt das Ganges.  Und wer kann mir sagen....ach, es hat ohnehin keinen Zweck... Das lösen der Deckung nennt man Finte und die Deckung selber Parade. Und jetzt versuche ich euch das alles beizubringen.“
Sie holte einen lagen Stock und dann versuchte sie den Kindern „Ganges“, „Parade“ und „Finte“ bildlich zu machen, indem sie unbeholfen mit dem Stock vor sich her wedelte.
Mereen hörte schon nicht mehr zu.
Sie versuchte sich einen Sinn aus den Stimmen und Worten zu machen. Vergeblich.
Plötzlich hallte wieder eine Stimme, oder mehr ein Gefühl das eine Stimme bildete, durch ihren Kopf, aber diese war klar, eine wahre Stimme, mit einem richtigen Klang. Als ob jemand mit ihr reden würde.
[Achte auf die Klinge und auf meine Augen.......hörst du....auf die Klinge und auf die Augen.....]
Die Stimme kannte sie nicht. Sie klang nicht böse, aber bestimmt und ernst. Mereen kannte keinen, der so eine Stimme hatte.
[Klinge....Augen....]
Wieder wurde sie in ihren Gedanken unterbrochen.
„So, ich hoffe, ihr habt das jetzt alle begriffen....mal sehen.....Mereen, kannst du mir eine Parade zeigen?“
Was? Eine Parade? Was war das noch mal...? Die Deckung? Oder...?
„Oh...“
Nicht schon wieder.
Jetzt steckte sie aber in der Klemme.
„Mereen!“
Mereen sog scharf die Luft durch ihre Zähne.
„Mist, Mist, Mist.....“ murmelte sie auf dem Weg zu Madame Lemonde, aber natürlich so leise, das man sie nicht hören konnte.
Die Lehrerin reichte ihr ebenfalls einen langen Stock.
„Dann zeig mal was du kannst!“
Widerwillig  nahm Mereen den Stock in die rechte Hand.
Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken.
„Also...“
[Achte auf......]
Plötzlich hatte Mereen das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füssen weggezogen. Die Stimme war wieder da. Nicht verschwunden, wie die anderen.
[....Achte auf....]
Diese Stimme ergriff immer mehr und mehr Besitz über sie, hüllte sie ein....aber alles was sie sagte stimmte auch...
[Achte auf die Augen....]
Mereen war es, als würde sich in den Augen der Lehrerin ihr Vorhaben spiegeln.
Und danach richtete sie sich.
Sie bewegte sich, als hätte sie diesen Sport schon Jahre lang studiert.
[Achte auf die Klinge...]
Es war wie ein Traum.
Keiner dieser Alpträume die sie immer hatte, sondern ein Traum in dem man zu schweben schien.
Diese Hülle, die die Stimme bildete war wie ein schützender warmer Mantel.
[....Achtung...!]
Mereen wich geschickt einem leichten, aber gezielten Hieb ihrer Widersacherin aus.
Widersacherin?
Aber das war doch ihre Lehrerin...oder?
Auf einmal fühlte Mereen ausser dem Gefühl der Geborgenheit auch noch Hass und Ungewissheit.
Und dann war der Traum vorbei.
Plötzlich und unerwartet.
Aber der Fechtkampf war ebenfalls beendet.
„Kind, wie kommt es, das ich von so einem Talent nichts weiss?“
„Äh...wie?“
„Mereen, du hast Fechtschritte gemacht, die man dir frühestens in einer hohen Schule fürs Fechten beigebracht hätte, und die waren sogar wunderbar elegant.“
Mereen bemerkte alle staunenden Blicke um sie herum.
„Oh....ja....natürlich...“
„Also gut, dann hoffe ich, das sich die anderen ein Beispiel genommen haben. Los, sucht euch einen Partner....“
Keiner wollte es mit Mereen versuchen.
Sie hatten alle Angst geschlagen zu werden.
Mereen selber war ziemlich verwirrt.
Die Stimme......die Stimme......
Am Ende blieb dann nur noch Sabrina übrig.
Mereen seufzte.
Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als es mit dieser Tussi zu versuchen.
„Also los Kinder!“
Das war das Stichwort:
Die Stimme schaltete sich wieder ein, als wenn jemand einen Schalter gedrückt hätte.
Und Sabrina fing an drauf los zu dreschen.
Während sich Mereen abmühte den Schlägen auszuweichen, gab ihr die Stimme aus ihrem Kopf immer mehr Anweisungen.
Nach links....
Nach rechts....
Wieder nach rechts....
Aber Sabrinas Paraden waren nicht gut.
Sie waren leicht zu durchbrechen.
Dann würde sie den Feind besiegen....
Langsam merkte Mereen, das sie die Kontrolle über die Stimme verlor. Wieder breitete sich Hass in ihr aus.
Die Gedanken wurden immer intensiver...
Feind......Feind......Feind......
Ihr Arm schnellte in die Höhe als Sabrina wieder einmal völlig die Parade vergessen hatte.
Und noch schneller sauste ihr Arm wieder hinab.
Der Stock traf Sabrina hart an der Schulter.
Dann machte es „klick“ in Mereens Kopf.
Die Stimme und somit auch der Hass waren fort.
Mereen starrte auf ihren Stock, dann auf die Schulter des Feindes.....nein.....von Sabrina....
„Ahh! Spinnst du?“
Sabrina weinte.
Wieder wurden sie angestarrt, aber es waren weder Bewunderung noch staunen in den Gesichtern der Kinder.
Madame Lemonde rauschte heran.
„Was macht ihr für einen Unsinn? Hört sofort auf damit!“
Als ob sie nicht sah, dass der Kampf schon längst zu ende war.
„Was ist hier passiert?“
Mereen war angespannt.
Ein Teil der Stimme steckte noch in ihr.
Und dieses Erlebnis ebenfalls....
Sabrina hörte auf zu weinen und sah sie zuerst ärgerlich, dann ängstlich an.
„I-ich habe sie----verärgert.... Ich denke...“
Wie?
Sabrina schob keine Schuld auf sie?
Dabei war sie doch schuld an dem Ganzen....oder die Stimme....
Selbst wenn es so gewesen wäre wie Sabrina sagte, , im Normalfall hätte sie alles zu ihren Gunsten verdreht.
Auch die anderen schien das zu wundern.
Mereen merkte, das sie Sabrina unentwegt anstarrte.
Sabrina wurde zu einem Arzt gebracht.
Sobald die Lehrerin mit ihr aus der Halle war, breitete sich auf allen Gesichtern in der Halle ein schadenfrohes Grinsen aus.
„Super, du hast es geschafft Mereen!“
„Ja, endlich ist Sabrina einmal dran!“
„Du hättest deinen Blick sehen sollen- einfach zum fürchten!“
„Kein Wunder, das Sabrina lieber still war!“
Ihr Blick?
„Sabrina dachte bestimmt, das du sie verhauen würdest!“
„Ich hab mich total erschreckt als ich deine Augen sah!“
„Ja, sie haben grün geleuchtet, wie die eines Tieres!“
Alle waren begeistert.
Sowas hatte es noch nie gegeben.
Sabrina und Angst!
Trotzdem konnte Mereen sich nicht so richtig freuen...
Diese Satz ging ihr jetzt nicht mehr aus dem Kopf......“Wie ein Tier“.........
 
 

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