Verliebt in den Entführer - Teil 3
by Tia




Reggie hängte ihren Gedanken nach. Es erschien ihr unwirklich, dass ihr eigener Entführer sie befreite. Es war wie ein Märchen. Die Liebe hatte das Böse besiegt. Diese Geschichte würde einen guten, kitschigen Roman abgeben. Vielleicht sollte sie, wenn die Sache vorbei war, mit ihrer Mutter reden. Schliesslich war die ja Schriftstellerin. Sie könnte einen Roman schreiben.
„Wohin fahren wir jetzt?“ fragte sie Donnie nach einer Weile.
Sie waren noch immer mitten in der Stadt und es schien ihr, als kämen sie nicht von der Stelle. An jeder Ampel mussten sie anhalten und mindestens eine halbe Stunde lang warten, bevor endlich wieder fünf Meter fahren konnten. Jedenfalls kam ihr das Ganze so vor.
„Ich kenne jemanden, der ein wenig ausserhalb eine Wohnung besitzt. Zufälligerweise schuldet er mir noch einen Gefallen“, antwortete Donnie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Sie wollen hier bleiben?“
Er lächelte wieder. „Wenn die anderen zu suchen anfangen, könnten wir bereits über alle Berge sein. Warum sollten sie dann ausgerechnet hier suchen? Niemand wäre so blöd und bleibt hier, oder?“
Reggie sieht ihn lächelnd an. An seinem Hals war eine kleine Wunde, die ihr erst jetzt auffiel. Sie war nur ein schmaler, roter Strich, aber sie war ziemlich lange. Sie ging von seinem Ohrläppchen bis unter den Kragen der Jacke, die er trug. Reggie nahm nicht an, dass sie von einer Katze stammte, die ihn einmal gekratzt hatte.
„Was glauben Sie, wie lange wir uns verstecken müssen?“ fragte sie ihn.
Das Licht wechselte gerade auf grün und Donnie gab Gas.
„Ich weiss nicht. Vermutlich nur, bis der Spitzel im Weissen Haus sich selbst eine Falle stellt. Wenn sie ihn erwischt haben, ist die Gefahr vorbei. Dann wird Ihnen niemand mehr etwas tun.“
Sie wusste nicht recht, ob sie das als Beruhigung ansehen sollte oder nicht. Donnie hatte gesagt, der Spitzel sei so gut, dass er sie selbst bei ständiger Bewachung umbringen könnte. Dann musste er doch auch fähig sein, die Person zu spielen, die er ausgab zu sein. Das dürfte doch dann kein Problem für ihn sein. Aber wenn er sie wieder als Geisel nehmen konnte, konnte er es dann nicht auch mit Lee?
„Wird er Lee etwas tun?“ fragte sie ängstlich.
Sie fühlte sich hier bei Donnie wohl und sicher, aber bei dem Gedanken, dass immer noch einer dieser Verbrecherbande um Lee herumschlich, bekam sie eine Gänsehaut.
„Nein, ich glaube nicht. Immerhin ist sie die Tochter des Präsidenten. Ausserdem handelt er nur auf Befehle. Und Mulroney hatte den Befehl gegeben, die Suche nach ihr einzustellen. Sie ist nicht mehr Teil unseres Planes. Aber Sie sind es noch immer. Wenn Sie jetzt also einfach auftauchen, obwohl Sie in meiner Obhut sein sollten, wird er versuchen, Sie in seine Gewalt zu bringen. Bei Lee wird er das nicht machen.“
Nach dieser Beschreibung musste der Mann ein ziemlicher Idiot sein. Er tat nur das, was man ihm befahl. Wie hatte er jemals ins Weisse Haus gelangen können? Er musste sich wahnsinnig gut verstellen können.
„Sind Sie sich sicher?“ fragte sie zweifelnd.
Donnie nickte lächelnd. „Vertrauen Sie mir, Reggie. Lee wird bestimmt nichts geschehen. Sie ist in Sicherheit, und wir sind es auch bald.“
Reggie würde das gerne glauben. Aber diese Männer, die ihnen bestimmt schon bald auf der Spur sein würden, waren Profis. Sie fanden heraus, welche Freunde Donnie hatte und wo diese wohnten. Sie würden diese Wohnung von diesem Freund auch finden und damit auch sie, da war sich Reggie ganz sicher. Wenn Donnie das nicht klar war, dann kannte er diese Männer, denen er einmal vertraut hatte, nicht sehr gut.
„Was werden Sie machen, wenn alles vorbei ist?“ fragte sie ihn.
Er hatte seine Arbeit verloren, wenn man das so sagen konnte. Vielleicht fand er eine neue Gruppe, bei der er mitarbeiten konnte, aber das war sehr unwahrscheinlich. Er musste sich selbst etwas neues aufbauen.
„Ich weiss es noch nicht. Vielleicht nehme ich mein Geld und setze mich irgendwo zur Ruhe.“
Sie lächelte. Viele liessen sich schon mit vierzig pensionieren, aber bei Donnie konnte sie sich das einfach nicht vorstellen. Er sollte irgendwo in der Sonne liegen und nichts tun?
„Das meinen Sie doch nicht ernst, oder?“
Er schüttelte lachend den Kopf. „Natürlich nicht. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe das hier einfach getan, ohne mir über die Folgen im Klaren zu sein. Vielleicht bereue ich es irgendwann.“
Schmunzelnd sah er sie an. Auch das meinte er nicht ernst. Sie konnte es in seinen Augen lesen.
Er war sogar einen guten Grund zu haben, um aus der Gruppe herauszukommen. Irgendwie hatte er nie dort hineingepasst. Er war immer anders als die anderen gewesen und jetzt stellte sich heraus, warum. Seine Geiseln beeinflussten ihn mehr, als ihm lieb war. Jede Geisel, die er getötet hatte, hatte ihm leid getan und er hatte sich gewünscht, es nicht tun zu müssen. Immer wieder hatte er nach einem Ausweg gesucht, aus dem Milieu herauszukommen. Aber es war klar gewesen, dass die anderen ihn finden und umbringen würden. Jetzt hatte er es trotz alledem gemacht.
Und es war ihm egal. Sollten sie ihn doch suchen, und vielleicht auch finden; Reggie war in Sicherheit. Ihr konnten sie nichts tun. Sie war noch viel zu jung, um zu sterben und begann gerade erst jetzt zu leben. Es wäre einfach nicht fair, wenn sie jetzt umgebracht würde, nur weil eine Bande an einem entflohenen Mitglied Rache üben wollte.
„Da vorne in diesem Block ist die Wohnung. Sie ist nicht besonders gross, aber sie wird reichen. Schliesslich ist es ja nur vorübergehend“, sagte er und zeigte auf ein etwa fünfstöckiges Wohnhaus.
Es war weiss, mit einem rötlichen Teint. Die Balkone waren verteilt, keiner war unter einem anderen. Das verlieh dem Haus die Art eines Kaktus oder eines Baumes. Auch die Fenster waren verteilt und keines war auf derselben Höhe wie ein anderes. Man konnte nicht genau sagen, wo der eine Stock anfing und wo der andere aufhörte. Das Ganze sah irgendwie lächerlich aus, aber auch anziehend. Warum sollte alles schön in Reih' und Glied stehen, wenn man es auch anders haben konnte? Ein Architekt hatte hier sicher viel Freude gehabt.
Donnie fuhr den Wagen auf die Parkplätze, die vor dem Haus waren. Sie stiegen aus und Donnie nahm eine Tasche, die hinter dem Sitz lag, hervor. Sie gingen hinein. Im Lift drückte Donnie für den vierten Stock. Mit einem Ächzend bewegt sich der Lift. Bald funktionierte er nicht mehr. Er war schon ziemlich alt.
Auf jedem Stock waren zwei Wohnungen. Die rechte, vom Lift ausgesehen, hatte eher Sicht auf die Strasse und die Stadt, während die andere mehr auf das Bonzen-Viertel zeigte, wo die Reichen ausserhalb von New York ihre grossen Häuser mit den vielen Quadratmetern Land rundherum besassen.
Donnie hatte den Schlüssel für eine die Sicht auf die Stadt hatte. Er öffnete die Tür. Ein strenger Geruch schlug ihnen entgegen, der nach abgestandener Luft roch. Reggie öffnete automatisch die Fenster.
Sie waren im Wohnzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer und als Küche diente. Es verfloss ineinander. Das Schlafzimmer war geschlossen, genau wie das Badezimmer. Die Möbel waren alle aus echtem Leder und sahen aus, als wären sie noch nie benutzt worden, so als stünden sie nur zur Verzierung hier. Die ganze Einrichtung sah ziemlich teuer aus. Eine verdorrte Pflanze, die Donnies Freund vergessen haben musste, stand am Boden. Neben ihr lagen Blätter, die auseinanderfielen, wenn man sie berührte.
„Ihr Freund scheint ziemlich reich zu sein“, stellte Reggie fest, als sie auch das Schlaf - und das Badezimmer gesehen hatte. Im Schlafzimmer war der Boden mit teuren Teppichen bedeckt, die nur gerade dort benutzt waren, wo man ging, wenn man von der Türe zum Bett und zum Schrank ging. Sonst schien auch hier alles nur Dekoration zu sein. Im Badezimmer war alles aus Marmor, sofern Reggie das beurteilen konnte und so sauber gepflegt, das es glänzte.
„Könnte man sagen, ja. Er benutzt diese Wohnung nur, wenn er in New York ist, und das kommt vielleicht einmal, oder wenn es gut geht, zweimal im Jahr vor“, antwortete ihr Donnie.
Er packte die Tasche aus und versorgte alles. Es waren hauptsächlich Lebensmittel, die er im Kühlschrank verstaute, aber er hatte auch an Sachen wie Seife und Duschmittel gedacht, die er ins Badezimmer brachte.
Reggie sah aus dem Fenster. Der Regen hüllte alles ein und liess es verschwimmen, aber trotzdem, oder gerade darum, sah es irgendwie schön aus. Hier drin war es warm und gemütlich, während es draussen kühl und regnerisch war. Es liess die Wohnung freundlicher erscheinen, als sie eigentlich war.
„Warum nimmt er sich dann nicht einfach ein Hotelzimmer, wo er es viel angenehmer hat?“ fragte Reggie. Sie kannte auch einige Leute, die ein Wohnung in einer anderen Stadt hatten, aber diese benutzten sie mindestens vier oder fünf Monate im Jahr.
„Wahrscheinlich damit er Freunden wie mir einen Gefallen zurückgeben kann“, antwortete Donnie und grinste wieder.
Reggie lächelte ebenfalls leicht und wandte sich vom Fenster ab. Ihr war langweilig und sie wünschte sich, sie könnte endlich ihren Vater kennenlernen. Lee hatte bestimmt schon das Vergnügen, mit ihm zu sprechen, während sie noch immer hier warten musste. Fast wollte sie schon das Risiko eingehen, trotz aller Warnungen zum Weissen Haus zu gehen, aber dann schob sie den Gedanken beiseite. Sie würde noch früh genug frei sein.
„Können wir nicht den Präsidenten anrufen und sagen, dass sie einen Spion in ihrem Team haben?“ fragte sie. Zögernd setzte sich auf die wertvollen Sofas und zog sich die Schuhe aus.
„Nein, das geht nicht. Ich bin sicher, er würde diesen Anruf auch hören und könnte ihn dann zurückverfolgen. Er würde uns finden.“ Donnie liess die Kaffeemaschine laufen.
„Wir müssen ja nicht von hier anrufen“, widersprach Reggie. Es gefiel ihr einfach nicht, untätig herumzusitzen.
„Dann könnte er sich anbieten, die Untersuchungen zu leiten und alles vertuschen, was ihn belasten könnte. Glauben Sie mir, Reggie, alles, was wir tun können, ist abwarten und darauf hoffen, dass irgend jemand einen Verdacht bekommt.“
Er gab ihr eine Tasse Kaffee und setzte sich in den Sessel vor ihr. Sie trank dankbar und fühlte, wie wieder ein bisschen Leben in ihr müdes Gehirn zurückkehrte. Den hatte sie seit Tagen vermisst.
„Wie sind Sie in diese Gruppe hineingekommen?“ fragte sie. Vielleicht konnte sie, wenn sie wusste, warum Donnie sie und die anderen vor ihr entführt hatte, ihm helfen, ein gutes Wort beim Richter einlegen oder so etwas. Falls man überhaupt jemals erwischen würde. Sie würde ihn nicht verraten.
Sobald sie frei war, würde man sie fragen, wer alles dabeigewesen war. Man würde ihr Verbrecherkarteien zeigen und sie musste dann alle identifizieren. Sie würde Donnie nicht der Polizei ausliefern. Schliesslich hatte er ihr Leben gerettet. Wäre er nicht gewesen, wäre sie schon lange tot und die Entführer mit dem Geld davon. Wenn man ihn gefangennehmen sollte, würde sie dafür sorgen, dass der Richter das erfuhr. Und dass er genügend berücksichtigte. Sie konnte auch ein wenig übertreiben. Lügen war noch nie ein grosses Problem für sie gewesen, vor allem nicht bei fremden Menschen.
Donnie seufzte leicht auf ihre Frage. „Meine Mutter ist schon früh gestorben, also lebte ich bei meinem Vater. Er war der Boss einer Gruppe, die sich anheuern liess und dann alle möglichen Geschäfte erledigte. Ich habe automatisch einen Platz dort eingenommen. Mit etwa zwanzig setzte ich mich ab und gründete meine eigene Gruppe. Bis jetzt hat es nur einen oder zwei Wechsel gegeben.“
Das war natürlich nicht die Antwort, die Reggie gerne gehört hätte. Mit dieser Vergangenheit musste er schon viele Vorstrafen gehabt haben, auch schon als Kind. Da würde ein gutes Wort beim Richter nicht reichen. Es müssten mindestens hundert gute Wörter sein.

Lee erblasste genauso Skeet McGowan. Sie wollten die Übergabe abblasen? Das konnten sie doch nicht machen. Sie konnten doch nicht einfach Reggie mitnehmen und verschwinden, für weiss wer wie lange Zeit? Man musste das doch irgendwie verhindern können. Sie durften das nicht machen!
Der Präsident erholte sich am schnellsten von diesem Schock wieder und gab einem Mann den Befehl, diese Spezialeinheit zu informieren. Dieser nickte und ging zum nächsten Telefon. Er sagte kurz etwas und hielt John den Hörer hin. „Er sagt, sie haben etwas entdeckt.“
Sofort nahm er den Hörer und lauschte. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde immer breiter und seine Augen fingen an zu leuchten. Lee hob fragend die Hände, doch er hörte immer noch zu.
„Beschatten Sie die Wohnung. Wenn Sie herauskommen, folgen Sie ihnen. Lassen Sie sich nicht abhängen.“
Er legte auf und lachte dann erleichtert. „Die Einheit hat einen Wagen verfolgt, in dem Reggie ist. Sie sind jetzt in einer Wohnung am Stadtrand.“
Erleichtert atmete sowohl Lee als auch McGowan auf.
„Dann lassen Sie uns sofort dorthin fahren und Reggie befreien“, sagte Lee und wollte schon zum Lift gehen.
Doch der Präsident hielt sie zurück. „Ich lasse meine Männer die Wohnung beschatten. Sie kommen also nicht heraus, ohne dass sie bemerkt werden. Wir können nicht dorthin fahren und die Wohnung stürmen. Vielleicht ist dort ja die ganze Bande versteckt und bringen Reggie sofort um, wenn wir ihnen zu nah kommen.“
Das gefiel Lee ganz und gar nicht. Sie konnten ja das ganze Haus stürmen und den Entführern eine Strafvermilderung oder so etwas anbieten, wenn sie Reggie freiliessen und sich ergaben. Sonst gab es bestimmt solche Spezialisten, die sich bis zur Wohnung schleichen und dort alle festnehmen konnten. Ausserdem war es ja gar nicht gesagt, wie viele es waren. Es könnten auch nur zwei oder drei sein. Mit denen würde diese Spezialeinheit wohl noch fertig werden.
Lee stellte fest, dass sie zuviel ferngesehen hatte. In einem Film funktionierte das, im richtigen Leben nicht. Sie mussten abwarten und Tee trinken, wie es ihr Vater sagte.
„Aber wann können wir dann etwas unternehmen?“ fragte Lee verzweifelt.
„Wenn wir sicher sind, dass nicht die ganze Bande dort ist. Wir können versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, was ich aber nicht tun würde. Wenn wir sehen, dass nur ein Mann mit Reggie das Haus verlässt, werden die Männer natürlich sofort zuschlagen. Aber bis sie alles abgeriegelt haben, ohne dass die Entführer etwas merken, und bis sie herausgefunden haben, wie viele es sind, können wir nichts machen, nur hoffen, dass Reggie am Leben bleibt“, antwortete der Präsident und lächelte beruhigend, „Ich verspreche dir, dass die Männer als tun werden, was sie können, um Reggie sobald wie möglich zu befreien.“
Lee wusste, dass die Männer in der Einheit gut waren, aber reichte es, um Reggie zu befreien? Waren sie gut genug, oder würden sie versagen?
Sie seufzte leicht und versuchte, sich zu entspannen. Am besten würde es wohl sein, wenn sie sich alle ein wenig ausruhten. Heute meldeten sich die Entführer wahrscheinlich nicht mehr.
Skeets Gesicht gewann langsam wieder an Farbe. Er fasste sich und wurde ruhiger. „Ich denke, ich werde jetzt nach Hause fahren und mich ein wenig hinlegen. Vielleicht kann ich Jamie noch erreichen. Sie melden sich sofort bei mir, wenn Sie etwas hören?“
Der Präsident nickte und gab ihm die Hand. „Ruhen Sie sich aus, Skeet. Und machen Sie sich nicht zu viele Gedanken. Reggie wird bestimmt nichts passieren.“
Dieser beistimmte dem zweifelnd bei, nickte Lee leicht lächelnd zu und verschwand dann mit ein paar Männern im Lift für das Personal.
„Ich habe für dich ein Zimmer herrichten lassen, gleich neben meinem. Ich hoffe, du kannst ein wenig schlafen.“
Lee lächelte. Es war rührend, wie er sich um sie kümmerte. Als wäre sie noch ein fünfjähriges Mädchen, das in der Nacht bei den Eltern schläft, weil sie Angst vor den bösen Dämonen unter dem Bett hat.
„Wo ist eigentlich ... meine Mutter?“ fragte sie plötzlich, als sie schon fast in ihrem Zimmer war.
John lächelte. „Michelle ist in Washington. Ich habe sie schon informieren lassen, dass du hier bist. Willst du, dass sie hierher kommt?“
Lee schüttelte den Kopf. „Ich muss mich erst von dir erholen“, meinte sie grinsend und schloss dann mit einem ‚Gute Nacht‘ die Tür.
John setzte sich an einen Schreibtisch und starrte auf die Rede, die er heute nachmittag hätte halten sollen. Sie war gut, und es war schade, dass er sie nicht hatte brauchen können. Vielleicht kam er später noch dazu, wenn dies hier vorbei war.

Donnie war so freundlich gewesen und hatte Reggie das Schlafzimmer überlassen, während er selbst auf der Couch schlief. Er hatte ihr sogar ein Pyjama besorgt, das ihr allerdings ein bisschen zu gross war. Sie zog es trotzdem an, denn sie wollte nicht noch einmal eine Nacht in diesen verschwitzten Kleidern verbringen.
Das Bett war sehr bequem, vor allem im Vergleich zu dem, in dem sie letzte Nacht geschlafen hatte. Sie schlief auf der Stelle ein.
Donnie hingegen blieb noch länger wach und dachte nach. Er wusste, dass hier irgend etwas nicht stimmte. Er hatte ein ganz mieses Gefühl. Allein, dass er Reggie befreit hatte, machte ihm Kopfzerbrechen - er verstand sich selbst nicht - aber irgend etwas anderes war auch nicht richtig. Es war ein Gefühl, dass er nicht beschreiben und nicht erklären konnte, aber es war da. Ein Instinkt, der ihn warnte. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, er solle auf seine Instinkte hören, aber er hatte es nie getan. Vermutungen und Gefühle waren ihm zu unsicher.
Aber seitdem er sich seine Gefühle für Reggie anmerken liess, war alles anders. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben hatte er einen Job nicht ausführen können, aus eigener und aus fremder Schuld. Er liess sich von seinen Gefühlen leiten, obwohl er wusste, dass es nicht richtig war. Er befreite eine junge Frau, die er selbst gefangengenommen hatte, trotz besseren Wissens, dass er sich dadurch sein Leben ruinierte. All das Wissen hatte ihm nicht helfen können.
Er stand auf und ging ans Fenster. Draussen war es dunkel, die Lichter der Stadt brannten. Durch den Regen hindurch war alles verschwommen. Autos fuhren trotz der Nässe mit einem Tempo durch die Strasse, dass jeden Moment ein Unfall passieren könnte.
Da sah er einen Lichtstrahl, der über seinen Lieferwagen fuhr. Er sah genauer hin. Jemand schlich um seinen Wagen herum und versuchte ihn aufzumachen, ohne dass die Alarmanlage losging. Sofort packte er seine Waffe, die er vor Reggie versteckt unter seinem Pullover in einem Halfter hatte und öffnete leise die Tür. Er sah sich um, aber niemand war hier. Schnell rannte er die Treppen hinunter und nahm die Hintertüre hinaus. Er rannte um das Haus und schlich dann auf den Parkplatz zu. Zum Glück hatte es hier keine Lampen.
Der Jemand hatte die Türe öffnen können und durchstöberte jetzt das Handschuhfach. Donnie kam langsam näher, und hoffte, dass er nicht bemerkt wurde. Er sah sich um, ob der Mann alleine hier war. Das war er nicht. Neben seinem Auto stand ein Personenwagen, in dem ein Mann an einer Zigarette zog. Die rötliche Glut schimmerte durch die Scheiben.
Donnie zog sich in den Schatten eines Baumes zurück. Im Wagen gab es nichts, was ihn verraten könnte. Es war ein ganz normaler, leerer Lieferwagen. Weder im Handschuhfach noch immer hinteren Teil war etwas. Der Mann zog sich aus dem Wagen wieder zurück und ging zum anderen Auto. Er öffnete die Türe, sagte etwas und ging auf den Eingang zu.
Donnie rannte lautlos zurück zum Hintereingang und hastete die Treppen hinauf. Bei der Wohnung zögerte er kurz schwer atmend und rannte dann noch ein Stück weiter die Stufen hoch.
Eine Sekunde später kam der Lift an und der Mann stieg aus. Er sah sich forschend um, aber um diese Uhrzeit war in einem Haus wie diesem nicht mehr viel los. Er musterte die Zimmertüre vom Apartment und prüfte den Flur. Einen Moment lauschte er an der Tür, schien aber nichts zu hören. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter. Verdammt, Donnie hatte nicht abgeschlossen.
Er ging mit gezückter Waffe hinein und bewegte sich dabei völlig lautlos. Genauso schloss er die Türe auch wieder. Donnie wusste, dass wenn der Mann Reggie allein hier vorfand, würde er sie sofort mitnehmen. Das konnte er nicht riskieren. Er musste es darauf ankommen lassen, ob der Mann wusste, wer er war oder nicht.
Mit versorgter Waffe ging er zum Lift und machte, dass sich die Türe öffnete. Dann machte er möglichst feste Schritte und wollte die Türe mit dem Schlüssel öffnen. Zögernd öffnet er sie, als er feststellte, dass sie nicht abgeschlossen war. Er zündete das Licht an.
Der Mann richtete seine Pistole direkt auf die Stirn. Sofort riss Donnie die Hände hoch und flüsterte ängstlich: „Bitte, nicht schiessen.“
Der Mann liess seine Waffe sinken, entsicherte sie aber nicht. „Wohnen Sie hier?“ fragte er mit dem Tonfall eines Polizisten bei einer Befragung.
Donnie nickte zitternd.
„Ich suche einen oder mehrere Männer, die mit einer jungen Frau hier wohnen. Sie sind erst heute abend gekommen. Haben Sie etwas gesehen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich war heute den ganzen Tag bei der Arbeit. Ich bin gerade erst jetzt heimgekommen.“
„Überstunden, wie?“
Donnie nickte lächelnd.
„Das kenn‘ ich“, meinte der Mann. Er nahm einen Schreiber und ein Stück Papier aus der Tasche seines Mantels und schrieb etwas darauf. „Das ist die Nummer, unter der Sie mich erreichen können, wenn Sie irgend etwas sehen. Melden Sie sich, auch wenn Sie denken, es ist nur etwas Banales. Es könnte sehr wichtig für uns sein.“
Donnie nickte wieder und nahm zögernd den Zettel entgegen. Der Mann nickte leicht lächelnd und verabschiedete sich. Donnie schloss die Tür sofort ab und sah auf die Nummer. Es war vermutlich eine Nummer, die zu einem Handy gehörte, das draussen auf dem Parkplatz war.
Er löschte das Licht aus, damit man ihn von aussen nicht sehen konnte und beobachtete den Wagen. Der Polizist kam aus dem Haus und setzte sich hinein. Donnie wartete ein paar Minuten, aber nichts rührte sich mehr. Er versorgte seine Waffe in einem Fach hinter dem Kühlschrank, das ihm sein Freund gezeigt hatte. Morgen würden sie von hier verschwinden müssen. Es ging bestimmt nicht lange, bis sie herausgefunden hatte, dass er nicht der brave Geschäftsmann war.
Er zog sich aus und legte sich auch schlafen.

„Der Kerl erschien mir ziemlich verdächtig. Ich habe ihn zwar nicht erkannt, aber trotzdem ... Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht der war, den er ausgab zu sein“, sagte Dennis Hemingway zu seinem Kollegen Jean Simmons.
Dennis und Jean waren beide schon mehrere Jahre in dieses Spezialeinheit und sie waren sich darüber einig, dass ‚Leute beobachten‘ langweilig war. Dummerweise dachten noch andere in der Einheit so, also meldete sich nie jemand freiwillig. Es wurde ausgelost und sie hatten das Gefühl, dass immer sie gezogen wurden.
Jean zog noch immer an seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem Spalt des halb geöffneten Fenster. Er langweilte sich. Man konnte nicht einmal lesen, weil niemand sehen durfte, dass sie in diesem Auto sassen.
„Du siehst doch Gespenster, Dennis“, gab er zur Antwort.
Dennis war anderer Meinung, aber Jean wusste, dass er nur Abwechslung suchte. Da konnte man schnell mal in einem braven Bürger einen Verbrecher sehen. War ihm ehrlich gesagt auch schon mehrere Male passiert.
„Nein, ich sag’s dir, ich hatte ein ganz mieses Gefühl bei dem Mann. Hast du ihn nicht gesehen? Er müsste doch hier hineingekommen sein. Wo ist überhaupt sein Wagen?“
Jean seufzte. Dennis glaubte, dass alle immer mit dem Auto herumfuhren, aber es gab tatsächlich Menschen, die den Bus benutzten.
Er stutzte. Den Bus? Die Bushaltestelle war doch vor dem Haus, aber er hatte keinen Bus gesehen. Nicht einmal im Vorbeifahren. Er hatte auch niemanden ins Haus gehen sehen.
Sich selbst beruhigend meinte er zu Dennis: „Es gibt noch einen Hintereingang. Er muss dort hineingekommen sein.“
Das beruhigte aber weder seinen Freund noch ihn selbst. Sein Herzschlag beschleunigte sich plötzlich. Es war unwahrscheinlich, dass der Mann den Hintereingang benutzte. Das Haus war von einer Steinmauer umgeben, die hinten keinen Ausgang hatte. Er musste also von vorne gekommen sein und sich an ihm vorbei geschlichen haben. Aber warum tat der Mann nicht, wenn nicht aus dem einfachen Grund, dass er einer der Verbrecher war?
„Am besten rufen wir Verstärkung und durchsuchen dann die Wohnung des Mannes“, schlug Dennis vor und legte schon die Hand an das Funkgerät.
Jean nahm sie wieder dort. „Wenn wir hier mit einem Kommando auffahren, wird der richtige Entführer das merken und verschwinden, während wir die Wohnung dieses Typs durchsuchen.“
Dennis starrte ihn an und ein Grinsen auf seinen Lippen wurde sichtbar. „Du meinst, wir sollen das ohne Verstärkung durchziehen?“
Jean nickte leicht. „Wir sagen es der Zentrale, aber wir ziehen es alleine durch. Du hast ja selbst gesagt, es war niemand anderer im Wohnzimmer. Ich denke, dass das Mädchen im Schlafzimmer ist. Und wenn sonst nur noch der Typ da ist, sollten wir es schaffen, oder?“
Dennis Grinsen wurde immer breiter. Er war froh darüber, dass er diesen eigentlich unerlaubten Schritt ins Haus gemacht hatte. Jetzt kamen sie von dieser Überwachung weg. Wenn sie Glück hatten, war die ganze Sache bald vorbei, dank Jean und ihm. Das gab ein Kompliment vom Chef, vielleicht sogar eine Gehaltserhöhung oder eine Beförderung. Na ja, das vielleicht nicht gerade, aber es würde bestimmt ihr Bild beim Chef ein bisschen verbessern.
Diesem lag die Sache nämlich ziemlich am Herzen. Alle wussten, dass der Präsident sich sehr persönlich darum kümmerte, aber niemand wusste, warum. Aber es musste ziemlich wichtig sein. Es ging ein Gerücht um, dass die Entführte irgend etwas mit dem Präsidenten zu tun hatte, dass sie verwandt mit ihm war oder so etwas in der Art. Die Gerüchte waren nicht so klar. Aber auf jedem Fall ging es dem Chef nicht mehr gut, wenn dem Mädchen etwas passierte.
In einem anderen Gerücht hatte er gehört, dass der Sicherheitschef Mulroney verhaftet worden war. Eigentlich war das sein oberster Boss, aber er bekam seine Befehle immer von seinem direkten Vorgesetzten. Er wusste auch nicht, ob die Gerüchte stimmten oder ob er wirklich nur wegen einer persönlichen Angelegenheit weggefahren war, wie alle sagten, die man fragte.
Das war jetzt aber nicht weiter wichtig. Sie würden es bestimmt noch früh genug erfahren. Jetzt gab es endlich mal wieder etwas zu tun.
Dennis hatte die Zentrale informiert und sie stiegen jetzt gemeinsam aus, um ins Haus zu gehen. Schweigend gingen sie in den Lift und fuhren hinauf. Im vierten Stock angekommen nahmen sie ihre Pistolen aus dem Halfter und nickten einander zu. Sie entsicherten die Waffen.
„Ich zähle bis drei. Du nimmt die linke Seite“, flüsterte Jean leise und zählte den Countdown hinunter.
Bei Null angekommen trat er die Tür mit einem lauten Kracher auf und Dennis richtete seine Waffe sofort auf die linke Seite. Der Mann, den er vorher kennengelernt hatte, sprang erschrocken auf. Er war nur noch mit dem Boxershorts und einem T-Shirt bekleidet. Sein Blick raste zwischen ihnen beiden umher.
„Was wollen Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ...“
Dennis warf ihm einen kurzen Blick zu und öffnete die Badezimmertür. Niemand war darin. Er deutete zur Schlafzimmer, ohne auf das protestierende Ausrufen zu achten.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Eine junge Frau kam heraus. Ihre Wellen fielen ihr ins Gesicht und standen ihr vom Kopf ab. Die Augen waren gegen des helle Licht zugekniffen. Sie hatte ein viel zu grosses Pyjama an und starrte die beiden Männer verschlafen an. Sie schien so müde zu sein, dass sie nicht bemerkte, wie erschrocken sie eigentlich sein müsste.
„Was ist denn hier los?“ fragte sie mit rauher Stimme.
„Wer sind Sie?“ fragte Jean. Er hatte ein Bild von der Entführten gesehen, das ein Jahr alt war. Das Haar war gleich, aber eigentlich sah sie nicht wie auf dem Foto aus.
„Sie ist meine Tochter“, antwortete der Mann und schien sich schon wieder ein bisschen gefasst zu haben.
Jean sah mit einem Seitenblick auf Dennis, warnend und strafend zugleich. Dieser achtete nicht auf ihn.
„Wo sind Sie vorhin hineingekommen, als Sie von der Arbeit kamen? Mein Freund hat Sie nicht durch den Eingang kommen sehen.“
Der Mann lächelte leicht, wie ein Junge, der erwischt wurde, wie er einen Apfel von einem Baum gestohlen hatte. „Es hat hinten eine Leiter stehen. Wissen Sie, ich habe kein Auto und mit dem Bus fahre ich nicht gerne, und da ich sowieso fast nebenan arbeite, kann zu Fuss gehen. Und ich will nicht immer um den ganzen Block herumlaufen, also klettere ich immer über die Mauer.“
Jean lächelte und sagte: „Entschuldigen Sie unser abruptes Eindringen, Sir, aber wir hatten Grund zur Annahme, dass Sie ein gesuchter Verbrecher seien. Tut uns wirklich leid. Die Tür werden wir natürlich bezahlen. Entschuldigen Sie vielmals. Wir wünschen Ihnen noch eine gute Nacht.“
Er lächelte entschuldigend und zog Dennis dann hinaus. Im Lift warf er ihm böse Blicke zu.
„Hey, Mann, es hätte doch wirklich gut zusammengepasst, oder? Ich meine, wer klettert schon mitten in der Nacht über eine Mauer?“

Noch immer ein wenig vom Schlaf betäubt sah Reggie auf die Tür, die von den beiden Männer wieder geschlossen worden war, sofern das überhaupt möglich war, denn das Schloss war zerstört. Sie hatte nicht die ganze Unterhaltung mitgekommen, war erst von Donnies Geschrei aufgeweckt wurden. Doch sie hatte verstanden, dass Donnie sie als seine Tochter ausgab und dass die beiden fremden Männer Polizisten waren, und vermutlich nicht normale Polizisten. Wahrscheinlich waren sie vom FBI.
Langsam sah sie zu Donnie. Er sah erschrocken aus, hatte sich schon wieder ganz gut unter Kontrolle. Er musterte sie kurz und wandte sich dann ab.
„Wir müssen sofort von hier verschwinden. Die werden mit einer ganzen Armee zurückkommen, wenn sie merken, dass nur ich allein hier bin, um Sie zu ‚bewachen‘. Es hat im Schrank Kleider und Unterwäsche in Ihrer Grösse, hoffe ich jedenfalls. Mein Freund hat das alles für uns besorgt. Packen Sie es sofort ein.“
Reggie schüttelte den Kopf, um den Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben. „Sie meinen, die haben mich erkannt? Ich habe doch selbst das Foto in der Zeitung gesehen. Darauf sehe ich schrecklich aus. Niemand würde mich erkennen. Die werden nicht noch einmal kommen, und wenn, dann nur um zu fragen, ob wir etwas Verdächtiges gesehen haben.“
Donnie war überrascht, dass sie so schnell reagierte. Sie schien es hingegen gar nicht zu bemerken. „Ausserdem, wie wollen Sie an ihnen vorbeikommen. Einer sitzt jetzt bestimmt hinten auf der Mauer und wartet auf Sie. Oder sie haben Verstärkung angefordert, um beide Ausgänge zu bewachen.“ Sie setzte sich auf einen Sessel und zog die Beine eng an ihren Körper.
„Sie sehen zuviel fern, Reggie“, sagte Donnie lächelnd und setzte sich dann ebenfalls wieder hin. Es war ihm auf einmal peinlich, dass er in Boxershorts vor ihr stand. Er zog die Decke um sich, als habe er kalt.
Im Gegensatz zu vorher schien sie das zu bemerken. Doch sie hielt ihren Mund, während Donnies Gesicht sich leicht rot verfärbte.
„Das sagen meine Adoptiveltern auch immer“, gab Reggie zu. Sie stand wieder auf, stellte einen der teuren, perfekt geschnitzten Stühle unter die Türfalle und setzte sich wieder hin. „Wollen Sie immer noch abhauen, oder spielen wir eine Familie?“
Donnie konnte nicht so schnell denken, wenn er müde und nicht in Gefahr war. Also starrte er sie verständnislos an.
„Sie wissen schon, Sie sind der brave Geschäftsmann, der seine Tochter, die bei seiner geschiedenen Frau lebt, ungefähr einmal im Monat sieht.“
Vielleicht brachte es ja doch etwas, wenn sie zuviel in die Flimmerkiste starrte. Wenigstens hatte sie dann genug Ideen, um Verstecken mit der Polizei zu spielen. In den Filmen hatte das immer funktioniert. Mit den richtigen Ausweisen, die Donnie bestimmt beschaffen konnte, war es kein Problem. Theoretisch jedenfalls.
„Sie wollen hier bleiben und so tun, als wären Sie meine Tochter?“ fragte er fassungslos. Er konnte sie irgendwie nicht verstehen. Sie hatte die Chance, endlich nach Hause - oder zu dem, was davon übriggeblieben war - zurückzukehren, aber sie blieb bei ihm und wollte seine Tochter spielen.
„Jedenfalls will ich das lieber als umgebracht zu werden. Bei Ihnen weiss ich sicher, dass Sie mich nicht töten werden“, meinte sie lächelnd. Sie zögerte, als in ihrem Mund schon die Worte ‚Weil Sie mich mögen‘ lagen, und sprach sie dann nicht aus.
„Es würde mir wirklich gefallen, Ihren Vater zu spielen, wenn man bedenkt, wie berühmt Ihr wirklicher ist“, bemerkte er, „Aber es ist trotzdem gefährlich, hier zu bleiben. Die Agenten werden zum nächsten Computer rennen und dort mein Gesicht in den Verbrecherkarteien suchen. Und glauben Sie mir, sie werden es finden.“
Das war allerdings ein Argument. Früher oder später fanden sie heraus, dass Donnie nicht ein Geschäftsmann in dem Sinne war, in dem sie glaubten. Und früher oder später - möglicherweise eher früher - fanden sie auch heraus, dass sie nicht seine Tochter, sondern eigentlich seine Gefangene war. Das gäbe ihnen zwar bestimmt einiges Kopfzerbrechen, aber aufhalten würde es sie bestimmt nicht.
Also nickte sie. „Okay, dann werde ich jetzt meine Sachen packen. Aber Sie sollten überlegen, wie wir hier rauskommen.“
In ihrem Ton lag eine Schärfe, die beide vergessen liess, wer vor einiger Zeit noch der Chef gewesen war. Ein Grinsen unterdrückend meinte darum Donnie: „Jawohl, meine Gebieterin.“
Sie grinste ebenfalls und schlurfte mit müden Beinen in ihr Zimmer zurück. Der Schrank war tatsächlich voll mit Kleidern von ihrer Grösse. Sogar eine Jacke und eine Kappe hatte es, obwohl sie diese kaum brauchen würde. Sie nahm die Tasche am Boden auf und begann die Kleider, die teils nicht gerade billig gewesen sein durften, sorgfältig hineinzulegen. Die meiste von ihrer neuen Garderobe gefiel ihr. Der Mann, der das besorgt hatte - wenn es ein Mann gewesen war - hatte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack.
Sie zog Bluejeans und ein T-Shirt an, darüber ein Hemd. Danach packte sie die Tasche und sah gerade noch, wie Donnie den Kühlschrank an die Wand zurück schob.
„Was machen Sie da?“ fragte sie verwirrt. Wer verschob schon seinen Kühlschrank?
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu und zeigte ihr dann die schwarze Waffe in seiner Hand. „Die musste ich verstecken, aber jetzt muss ich sie leider mitnehmen“, erklärte er und liess sie unter seinem Pullover, den er inzwischen angezogen hatte, verschwinden.
Reggie fühlte sich nicht besonders wohl mit dem Wissen, dass er eine Waffe unter seinem Arm trug. Doch er war ein Krimineller, und Kriminelle hatten meistens Waffen unter dem Arm, und manchmal auch noch welche an den Knöcheln.
Also sagte sie nichts und fragte statt dessen: „Und haben Sie einen Plan, wie wir hier herauskommen? Hat es an der Mauer wirklich eine Leiter?“
Donnie nickte. „Ich erzähle der Polizei nicht gerne Lügen, die nicht stimmen“, Reggie hob belustigt die Brauen, „Wenn an der Hintertüre eine Wache steht, machen Sie sich darauf gefasst, dass ich einfach zuschlagen werde. Das sage ich nur so als kleine Vorwarnung.“
Sie lächelte sarkastisch. „Vielen Dank, aber ich das schon im Fernsehen gesehen. Machen Sie sich also keine Sorgen um meinen Gemütszustand.“
Sie zeigte zur Tür und meinte, dass er vorausgehen müsse. Er nickte und ging leise rennend die Treppe hinunter. Reggie folgte ihm. Sie hatte grosse Lust, einfach zur Polizei zu rennen, aber sie wollte nicht sterben. Der Spion im Weissen Haus würde sie ihre Gefangenschaft, die jetzt sowieso keine mehr war, so schlimm machen, dass sie für einen psychischen Schock davontragen würde. Jedenfalls redete sie sich das ein, um keinen Unsinn zu machen. Der Spion könnte sie auch einfach umbringen, das war auch keine besonders angenehme Vorstellung.
Bei der Hintertüre hielt sich Donnie den Zeigefinger auf die Lippen. Sie nickte stumm. Er drückte den Lichtschalter und es wurde dunkel. Seine Hand lag auf der Türfalle und er sammelte sich kurz. Dann öffnete er die Tür langsam. Er spähte hinaus, seine Augen suchten die Dunkelheit ab. Gleich neben der Wand sass ein Mann, dessen Kopf auf seiner Brust lag. Besonders wach sah er nicht aus. Bevor Reggie draussen war und sehen konnte, was er tat, schlug er ihm mit der Handkante in den Nacken, damit er nicht aufwachte, sollten sie Lärm veranstalten. Schnell zog er Reggie hinaus und schob sie die Leiter hoch, die an der Mauer lag. Sie zweifelte an der Sicherheit dieses Aufstiegs, kletterte aber schnell hoch, um schnell wieder runter zu kommen.
Auf der anderen Seite hatte es keinen Abstieg, doch dafür war stand eine Bank gleich unter Reggie. Sie sprang hinunter und wartete auf Donnie. Dieser rannte weiter, während er sie hinter sich her zog. Sie rannte über ein Grundstück, das wie ein Schrottplatz aussah, und kamen zur Strasse. Dort bremsten sie ihr Tempo und benahmen sich wie normale Spaziergänger. Doch sobald ein Taxi an ihnen vorbeifahren wollte, streckte Donnie den Arm aus und hielt es an. Er nannte dem Fahrer als Ziel die Bushaltestelle der Busse, die sehr lange Fahrten machten.
Reggie fragte nicht, was ihr Ziel in einem der Busse war. Vermutlich irgendein entferntes Aussenviertel auf der anderen Seite von New York, oder noch weiter weg; ein Dorf, eine kleine Stadt, wo ein Freund, der ihm zufälligerweise einen Gefallen schuldete, eine Wohnung hatte. Es wäre für sie viel logischer, wenn sie auf den Flughafen fliegen, dort mit gefälschten Ausweisen in ein Flugzeug steigen und weit weg fliegen würden. Bis irgendwer herausgefunden hatte, dass die Ausweise gefälscht waren und die zuständigen Polizeistellen informierte, waren sie schon längst wieder weg und niemand würde je erfahren, wo sie wären.
Es klang so einfach, zumindest im Fernsehen. Im wirklichen Leben wurde es schwieriger und sie wusste, dass sie sich da mehr auf Donnie verlassen sollte. Er hatte zwanzig Jahre mehr Erfahrung als sie, dazu noch in diesem Geschäft. Sie war ein behütetes und wenn möglich verwöhntes Kind, das noch nie irgendwelche Gewalt gesehen hatte, ausser vielleicht Prügeleien unter zwei wütenden Jugendlichen. Das war nie etwas ernstes, es hatte nichts mit dem Leben in diesem Business zu tun, in dem Donnie lebte. Wenn es bei ihnen Unstimmigkeiten gab, starb jemand. Aber das glaubte sie auch wieder einfach so zu wissen, obwohl es eigentlich aus dem Fernsehen stammte.
Der Fahrer hielt an und Donnie bezahlte ihn. Sie stiegen aus. Schnurstracks hielt er auf eine Tür zu, über der in leuchtenden blauen Buchstaben ‚Tickets hier‘ stand. Der Mann hinter den Tresen sah müde, sehr müde aus und er gähnte fast ununterbrochen. Mit monotoner Stimme fragte er sie nach ihrem Ziel.
„Washington D.C.“, antwortete Donnie und Reggie horchte auf. Warum in Gottes Namen wollten sie ausgerechnet nach Washington? Das war bestimmt wieder so ein Gangstertrick. Geh dorthin, wo dich niemand erwartet. Sie folgten ohne jede Einschränkung diesem Trick.
Jetzt, da sie einmal erwischt worden waren, an einem Ort, der so auffällig war wie sonst nichts, glaubte die Polizei - und wohl auch die Entführer, sollten sie etwas mitkriegen, dass sie sich nun ein besseres Versteck aussuchten. Das war aber nicht nach Donnies Sinne, wie es den Anschein hatte. Er wollte alle noch einmal an der Nase herumführen.
Der Mann gab ihnen die Tickets und sagte, dass der Bus erst morgen um sechs Uhr fuhr. Er habe Verspätung, weil unterwegs ein Reifen geplatzt war. Sie gingen in den Wartesaal, wo schon mehrere andere Gäste auf den Bus warteten.
Ein junges Pärchen sass in einer Ecke und hielten sich schlafend an den Händen. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während er wiederum seinen Kopf auf den ihren gelegt hatte. Gegenseitig stützten sich so beide. Auf dem Boden um sie herum lagen Krümel von den verteilten Brötchen. In der Hand des Mannes lag ein angebissener Apfel, der schon ziemlich gelb war.
In einer anderen Ecke hatte es sich ein Mann bequem gemacht. Er lag mit seinem Mantel bedeckt auf dem Boden und schlief. Er wälzte sich aber immer wieder hin und her. Wahrscheinlich war sein Bett zu Hause bequemer. Neben ihm lag seine Reisetasche, aus der ein Flaschenhals hervor schaute. Der Mann schlief wahrscheinlich gar nicht, sondern war so betrunken, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Auf den Stühlen, die in der Mitte des Raumes aufgestellt waren, sassen etwa zehn Passagiere, die im hellen, stechenden Licht Zeitung lasen. Auch sie gähnten ab und zu einmal, aber sonst hatte es den Anschein, als seien sie noch recht wach.
Donnie steuerte ebenfalls auf einen der Stühle zu und zog Reggie einfach mit. Sie würde sich lieber ebenfalls auf den Boden legen und einschlafen, aber sie ahnte schon, dass dieses überaus helle Licht ihren Schlaf stören würde. Also setzte sie sich neben Donnie.
„Wieso gehen wir nach Washington? Wollen Sie den Spion selbst aufspüren?“ fragte sie leise, so dass es niemand ausser ihm hören konnte.
Donnie nickte. „Genau das habe ich vor. Ich fühle mich äusserst wohl in Ihrer Gesellschaft, Reggie, das muss ich zugeben“, sie spürte, wie sie errötete, „aber ich weiss, dass Sie sich in meiner nicht so wohl fühlen wie ich mich in Ihrer.“
Sie errötete noch mehr, und protestierte, wobei sie die Stimme erhob. Sofort legte Donnie den Finger auf den Mund. „Das ist nicht wahr. Ich fühle mich sicher bei Ihnen, sicherer, als ich es im Weissen Haus tun würde.“
Auffordernd sah er sie an. „Aber ...?“
„Aber Sie werden verstehen, dass ich auch nicht immer so leben möchte wie Sie. Es ist aufregend, für eine gewisse Zeit, bis man kapiert, wie gefährlich es sein kann“, antwortete sie leise. Sie wünschte, sie könnte ihm sagen, was sie wirklich für ihn empfand. Das war nämlich weit mehr als nur, dass sie sich sicher bei ihm fühlte.
„Natürlich verstehe ich das. Darum gehen wir auch nach Washington. Ich werde Informationen auftreiben, die uns helfen, den Spion aufzutreiben. Vielleicht kann ich der Polizei den Hinweis mit dem Spion zukommen lassen, so dass Mulroney selbst redet, wenn dadurch seine Strafe ein wenig gemildert wird.“
Reggie lächelt dankbar. Sie war wirklich erfreut, dass er ihr so helfen wollte und sie indirekt nicht zwang, nichts zu tun und zu warten, bis etwas passierte. Ganz bestimmt konnte er den Verräter besser finden als alle anderen. Und wenn er ihn fand, würde Reggie mit allem, was sie hatte, dafür sorgen, dass er schon gar nicht geschnappt, und wenn, dass er keine Strafe oder keine allzu hohe bekam. Er hatte ihr das Leben retten, da konnte sie dasselbe auch für ihn tun. Das war doch nur ein fairer Handel.
Sie sah auf die Uhr. Bis der Bus ankam, mussten noch über sechs lange Stunden vergehen. Was sollte sie bloss bis dahin tun?
„Glauben Sie, dass die Polizei uns finden wird, bevor wir hier weg können?“ fragte sie leiser als zuvor. Wenn jemand die Polizei erwähnte, wurden alle Leute sofort viel aufmerksamer und lauschten.
„Nein, ich denke nicht. Wir könnten uns auch einen Mietwagen genommen haben, oder einen anderen Bus, der früher fuhr. Wir könnten auch nur gerade im nächsten Motel sein. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ausserdem, warum sollten sie uns suchen? Sie wissen nicht, dass wir nicht mehr da sind.“
Reggie lachte ein bisschen zu laut. Neugierige Blicke richteten sich auf sie, so dass sie sofort wieder ernst wurde. „Glauben Sie, ich habe nicht gesehen, wie Sie den Wachmann geschlagen haben? Der wird unterdessen schon längst Alarm geschlagen haben. Und der Verdacht wird logischer Weise zuerst auf uns fallen.“
Donnie war erstaunt über ihre Wachsamkeit. Eigentlich war er der Meinung gewesen, dass er sie überzeugt hatte, dass der Mann schlief, freiwillig. Das war falsch angenommen gewesen.

Als Jean und Dennis wieder beim Auto waren, spielte Jean eine Weile den Beleidigten. Dennis liess ihn und starrte statt dessen auf des Fenster seines Verdächtigen. Das Licht blieb und er konnte Schatten erkennen, die sich wenig bewegten. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgend etwas nicht stimmte. Der Mann war noch nicht so alt gewesen, um eine Tochter zu haben, die schon um die zwanzig war. Es stimmte einfach nicht.
„Wir sollten Verstärkung rufen und den Hintereingang bewachen. Wenn sie zu fliehen versuchen, werden sie ihn benutzen“, sagte er zu seinem Freund.
„Sie sind nicht die, nach denen wir suchen, schon vergessen?“ erinnerte Jean ihn. Er glaubte immer noch nicht, dass sie es war.
Dennis wurde sich bewusst, dass er sicher war, dass sie es waren, dass er nicht nur ein schlechtes Gefühl bei ihnen hatte. Was machte ihn so sicher? War es die Art des Mannes? Er sah nicht so aus wie ein Geschäftsmann, der den ganzen Tag am Bürotisch sass. Im Gegenteil, eigentlich sah er ziemlich kräftig aus. Oder war es das Mädchen? Sie hatte die gleichen Locken wie die Entführte und obwohl ihr Gesicht nicht gleich aussah, könnte es doch sie sein. Sie hatte, als er sie sah, die Augen gegen das Licht zusammengekniffen und war vom Schlafen noch ganz ‚zerknittert‘. Wenn er sie am Tag gesehen hätte, hätte er sie bestimmt erkannt. Ausserdem war das Foto ja auch schon älter. Sie könnte sich unterdessen verändert haben.
„Wir sollten trotzdem Verstärkung rufen. Nur zur Sicherheit. Vielleicht haben die richtigen Entführer mitbekommen, was gelaufen ist und versuchen jetzt zu fliehen. Schaden tut es bestimmt nicht“, erwiderte Dennis wieder.
Jean seufzte, nahm aber trotzdem das Mikrophon in die Hand und bat die Zentrale um Verstärkung.

Am nächsten Morgen wachte Lee unerwartet früh auf. Es war gerade erst sieben Uhr. Sie hatte geglaubt, sie würde durchschlafen bis am Mittag, aber sie war viel zu beunruhigt dazu. Ihre Freundin war noch immer in den Händen dieser Entführer, und sie konnte ihr nicht helfen.
Sie stand auf und sah erstaunt einen Stuhl, auf dem Kleider in ihrer Grösse lagen. Sie duschte sich ausführlich in ihrem eigenen Badezimmer und zog dann die neuen Sachen an. Es war ein gutes Gefühl, wieder ganz sauber zu sein.
Eine der Verbindungstüren führte zum Wohnzimmer. John sass bereits dort, ass Frühstück und sah Berichte durch. Erstaunt sah er auf, als sie eintrat.
„Ich hätte dich noch nicht so früh erwartet“, meinte er und sie lächelte müde. Warum sie so früh auf war, konnte er sich wohl denken.
Sie setzte sich neben ihn und griff sich eines der Brötchen, die in einer Korb auf dem Tisch lagen. Sie schmeckten so, als wären sie noch nicht fünf Minuten aus dem Ofen heraus genommen worden.
„Hast du schon etwas von Reggie gehört?“ fragte sie hoffend.
Er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Nein, die Entführer haben sich noch nicht gemeldet. Aber die Männer, die das Haus bewachen, in dem sie vermutlich sind, haben -"
„Vermutlich? Warum nur vermutlich?“ bemerkte Lee.
„Es könnte sein, dass sie schon wieder geflohen sind. Wir wissen es nicht genau. Es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein.“
Sie nickte leicht. Sie konnte ja nicht erwarten, dass diese Profis nicht gemerkt hatten, dass ihnen immer ein Wagen gefolgt war. Sie sah ihren Vater an, damit er fortfuhr.
„Die Männer haben einen Verdächtigen, der mit einer jungen Frau im Haus wohnt. Sie sagen zwar, dass das Mädchen seine Tochter sie, aber die beiden Männer sind die besten, die wir haben. Ich glaube ihnen, wenn sie sagen, dass sie nicht sicher sind, ob die wirklich die Wahrheit erzählen. Sie werden heute morgen noch hierher kommen, zusammen mit der Identifizierung. Du kannst uns sagen, ob er einer der Entführer ist.“
Sie stimmte sofort zu. Endlich konnte sie einmal etwas tun, sei es auch nur zu sagen, ob sie ihn kannte oder nicht.
„Ich habe allerdings nur zwei oder drei gesehen“, gab sie zu.
John winkte ab. „Wenn du ihn nicht kennst, werden meine Männer nach Verbindungen zu diesem Fall suchen. Das geht allerdings viel länger.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür und zwei Männer im Anzug kamen herein. Sie gaben dem Präsidenten die Hand.
„Das ist Lee Peterson. Sie war eine der Entführten“, stellte er sie vor und warf ihr dabei einen bittenden Blick zu. Sie verstand den Wink. Noch niemand wusste, dass sie seine Tochter war.
„Das sind Jean Simmons und Dennis Hemingway. Sie haben das Haus heute Nacht überwacht.“
Sie gab den beiden die Hand und lächelte leicht. Sie sahen nicht so aus, wie sie sich Agenten des FBI vorstellte. Sie war sich zwar nicht sicher, wie sie sich vorstellte, aber so wie die beiden sicher nicht.
„Wir haben den Mann identifizieren können. Seine Name ist Donald Franco Marcano. Er wurde schon in mehreren Mordfällen als Verdächtiger aufgeführt, aber meistens wurde er nicht verurteilt. Man konnte ihm nie einen richtigen Beweis anhängen. Ausserdem ist er einer der führenden Unterwelt-Bosse. Über ihm ist nur noch einer, nämlich sein Vater“, sagte der Mann, der Lee als Jean vorgestellt worden war.
Er nahm ein paar Bilder hervor und zeigte ihm einen Mann in den Vierzigern. Seine Haare waren überall mit Gel nach hinten gekämmt, zeigten aber auf den schwarzweissen Bildern noch keine grauen Strähnen.
„Ja, das ist einer von ihnen. Er und ein anderer haben uns entführt. Er war aber sehr höflich zu uns. Ich glaube nicht, dass er uns etwas getan hätte“, sagte Lee.
Es war der Mann, den die anderen Donnie nannte, der eine Art zweiter Chef war, gleich hinter Mulroney. Vermutlich hatte er nach Mulroneys Verhaftung das Kommando übernommen und befohlen, dass alles abgebrochen wurde. Dabei kümmerte er sich selbst um Reggie, damit sie nicht davonlief.
Aber es machte keinen Sinn. Warum sollte Reggie sagen, sie sei seine Tochter? Sie war seine Gefangene, und hatte keinen Grund, Sympathien zu ihm zu hegen.
„Das Mädchen konnten wir nicht identifizieren, sie sah ziemlich ... verschlafen aus. Man sah nicht besonders viel von ihrem Gesicht, aber wir nehmen an, dass es Regina Cormack ist“, sagte nun Dennis.
Unwillkürlich musste Lee lächeln. Kurz nach dem Schlafen sah Reggie immer aus, als hätte sie sich eine Woche lang nicht mehr gekämmt. „Dann ist es Reggie“, meinte sie und grinste.
Die beiden Männer musterten sie kurz und nickten. „Das nehmen wir auch an. Wir haben eine Fahndung höchster Priorität eingeleitet.“
„Warum eine Fahndung? Sind sie denn nicht mehr im Haus?“ fragte nun der Präsident erstaunt. Ihm hatte schon die Erleichterung überfallen, dass nun alles wieder in Ordnung sei.
Jean schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie müssen abgehauen sein, kurz bevor wir Verstärkung angefordert hat. Unser Mann am Hintereingang haben wir bewusstlos aufgefunden. Er wurde niedergeschlagen. Es ist vermutlich Marcano gewesen.“
Seufzend meinte John: „Haben Sie schon einen Verdacht, wo sie jetzt sind?“
Die Männer sahen einander an und wurden langsam nervös. Jetzt wussten sie mit Bestimmtheit, dass dem Präsidenten viel an der Sache lag. Wenn sie den Mann und das Mädchen nun nicht mehr fanden, würde es eine Katastrophe geben.
„Nein, Sir, wir haben keine Ahnung“, antworteten sie ehrlich, „Doch wir nehmen an, dass sie nicht dorthin wollen, wo man sie vermutet. Vermutlich gehen sie genau dorthin, wo wir glauben, dass sie nicht sind.“
„Und wo wäre das?“ fragte Lee neugierig. Es war ein guter Trick. Sie sollte ihn sich merken, falls sie mal etwas ähnliches machen müsste.
„Entweder blieben sie ganz in der Nähe des Hauses und haben sie irgendwo ein Motel genommen, oder dann sind sie nach Washington D.C. gegangen“, antwortete Jean sachlich. Er war sich sicher, dass es Washington war, aber New York konnte man nicht ausschliessen.
„Warum ausgerechnet Washington?“ fragte Lee.
„In Washington ist das Weisse Haus“, erklärte John ihr, „Ich hatte vor, morgen oder übermorgen wieder zurück zu reisen. Wenn ich dort bin, sind die Sicherheitsmassnahmen immer verschärft. Kein Krimineller würde mit seiner Geisel ausgerechnet nach Washington gehen, wo an jeder Ecke ein Polizist steht.“
Lee wusste, dass das ein bisschen übertrieben war, aber es wurde ihr jetzt klar. Nur war da etwas noch ziemlich faul. „Hat Reggie gesagt, sie sei Donnies Tochter?“ fragte sie die Agenten.
Dennis schüttelte den Kopf. „Nein, aber sie hat es gehört, als er es sagte. Sie hat nicht widersprochen.“
Warum sollte sie das tun? Hatte er ihr Drogen gegeben? Sie vielleicht mit Hypnose dazu gezwungen, so zu tun, als sei sie seine Tochter? Oder machte sie es freiwillig? Aber das war doch unsinnig. Sie war seine Geisel. Er hatte gedroht, sie umzubringen, wenn der Präsident nicht bezahlte.
Den anderen schienen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen. „Mr. President, wenn wir sie finden, was sollen wir dann tun?“ fragte Dennis verwirrt. Er war schon lange bei dieses Einheit, aber so ein Fall war ihm noch nie unter die Finger gekommen; eine Geisel, die freiwillig bei ihrem Geiselnehmer bleiben wollte.
„Verhaftet Marcano und bringt Reggie dorthin, wo wir dann sind. Wenn sie freiwillig bei ihm geblieben war, wird sie sich vor Gericht verantworten müssen“, antwortete John. Es war ihm nicht recht, so etwas zu befehlen, aber so sagte es das Gesetz.
„Was?“ rief Lee aus, „Du willst sie anklagen?“
Jean und Dennis warfen sich einen Blick zu. Warum sagte das Mädchen ‚du‘ zum Präsidenten? Das war nur ganz wenigen Menschen vorbehalten. Viele sprachen ihn mit dem Vornamen an, aber mit ‚du‘? Soweit sie wussten, sagte nur seine Familie zu ihm ‚du‘.
John fiel es auch auf, dass sie ihm ‚du‘ sagte, aber er liess sich nichts anmerken. „So ist das Gesetz. Irreführung der Behörden. Beihilfe krimineller Machenschaften. Was auch immer. Dagegen bin selbst ich machtlos.“
Lee schnaubte laut. Reggie sollte angeklagt werden, weil sie entführt worden war. Da konnte doch irgend etwas nicht stimmen. Lautlos fragte sie sich, warum Reggie freiwillig bei Donnie blieb. Klar, er war nett zu ihnen gewesen. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht. Aber er blieb ihr Feind. Was war geschehen, seit sie hatte fliehen können? Hatte sich Reggie etwa verliebt?

Im Bus war es heiss. Obwohl es erst neun Uhr morgens war, schien die Sonne schon ziemlich stark. Alle schwitzten wahnsinnig, aber man konnte die Fenster nicht aufmachen. Manche fächerten sich mit einem Heft ein bisschen Luft zu, während die anderen schliefen, so dass sie die Hitze nicht spürten.
Reggie und Donnie sassen ziemlich weit hinten. Sie hatten genauso heiss wie ihre Umwelt. Reggie hatte soviel ausgezogen, wie sie konnte, aber trotzdem lief ihr der Schweiss noch immer in Strömen den Rücken hinab.
„Wir wären besser in New York geblieben“, flüsterte sie zu sich und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss aus dem Gesicht.
„Wir können beim nächsten Halt immer noch aussteigen. Das wäre vielleicht sogar klug. Wenn die Polizei darauf kommt, dass wir in diesem Bus sitzen, gehen sie nach Washington, während wir noch immer in New York sind“, meinte Donnie.
Reggie hatte sich während der Reise immer wieder gefragt, warum sie das tat. Hatte sie solche Angst vor diesem Spion? Er konnte ihr nichts tun, wenn sie nicht in seine Nähe kam. Zwar hatte sie keine Ahnung, wer er war, aber sie konnte den Kontakt auf ein paar Personen beschränken; auf Lee, den Präsident und seine Familie, ihren Vater und ihre Mutter. Wenn sie wüssten, dass sie einen Spion unter sich haben, würden sie nach ihm suchen. Aber sie wussten es ja nicht, also suchten sie nicht nach ihm. Es wäre doch besser, wenn man sie informieren würde.
Donnie hatte ihr gesagt, er würde sie entweder finden oder dafür sorgen, dass man ihn nicht fand. Wenn man nicht nach ihm suchte, würde man ihn noch weniger finden. Sie mussten der Polizei sagen, dass sie jemandem nicht trauen konnte. Das sagte sie auch Donnie, doch er schüttelte wieder nur den Kopf.
„Nein, das geht nicht, Reggie. Überlegen Sie doch mal: Wenn wir anrufen, dann wissen alle, dass ein Spion gesucht wird. Wenn wir aber nichts sagen und jemand auf den Verdacht kommt, wird er ganz diskret vorgehen und es in aller Stille erledigen, damit der Spion sich nicht der verstecken kann.“
Sie widersprach trotzig: „Ich kann mich ja direkt mit dem Präsidenten verbinden lassen und nur ihm sagen, dass es einen Spion gibt.“
Ein Lächeln erschien in Donnies Augen. Er bewunderte ihre Hartnäckigkeit und hoffte, ihm gingen die Argumente nicht aus. Sobald sie einen Grund hatte, anzurufen, war es vorbei.
„Glauben Sie, das fällt nicht auf, wenn Sie auf einmal anrufen, und nur mit dem Präsidenten sprechen wollen? Zumindest der Spion wird wissen, was los ist.“
Seufzend lehnte sich Reggie wieder zurück. Donnie hatte recht. Egal, was sie machte, der Spion würde es wissen. Es hatte gar keinen Sinn, darüber nachzudenken. Es liess sich nicht ändern. Sie würde abwarten müssen. Mehr konnte sie im Moment einfach nicht tun.
Sie legte den Kopf auf die Lehne und versuchte, ebenfalls zu schlafen, wie die anderen. Aber sie konnte nicht. Ihre Gedanken schweiften um eine Möglichkeit, den Präsidenten zu warnen und irgend etwas zu unternehmen. Sie wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Zwar fielen ihr die Augen fast im Stehen zu, aber schlafen war trotzdem unmöglich.
Donnie ging es ähnlich. Er hatte den Kopf an das Fenster gelegt und die Augen geschlossen, aber er schlief nicht. Er dachte darüber nach, was er hier eigentlich tat. Er zwang Reggie gewissermassen, bei ihm zu bleiben, indem er ihr Angst vor einem Spion machte, der vielleicht noch gar nicht wusste, was sich hier abspielte. Nur damit sie bei ihm blieb. Wie lange wollte er dieses Versteckspiel spielen? Sie konnte nicht bis an sein Lebensende bei ihm bleiben? Wollte er sie nur einmal verführen und sie sich abschminken? Was wollte er eigentlich von ihr? Er wusste es nicht. Sein Plan war gewesen, sie vor seinen Freunden zu retten, die sie umbringen wollten. Weiter hatte er nicht studiert. Er hatte angenommen, dass sich dann alles von alleine ergeben würde.
Der Bus fuhr auf einen grossen Parkplatz einer Autobahnraststätte. Der Fahrer sagte, dass sie eine halbe Stunde Zeit hätten, um Frühstück zu essen. Reggie und Donnie standen auf und gingen mit den anderen in das klimatisierte Restaurant. Aufatmend setzten sie sich an einen freien Tisch.
„Ich hoffe doch, Sie haben Geld, oder?“ fragte Reggie, als sie die Karte studierte. Die Preise waren alle vollkommen überteuert, aber für eine Raststätte, die ausserhalb lag, musste es wohl so sein.
Donnie lachte. „Natürlich habe ich Geld.“
Reggie fand das gar nicht so lustig. Sie waren so überstürzt abgehauen, dass Donnie im ganzen Ärger vielleicht das Geld vergessen hatte. Doch er war Profi, der seit seiner Kindheit im Geschäft war. Vermutlich dachte er bei einer Flucht immer als erstes ans Geld.
Sie bestellten sich beide etwas zum Essen. Die Kellnerin war unhöflich und gereizt. So wie sie aussah hatte sie wohl die ganze Nacht schon arbeiten müssen.
„Steigen wir jetzt wieder ein oder fahren wir nach New York zurück?“ fragte Reggie, als die Kellnerin wieder weggegangen war.
Donnie zuckte mit den Schultern. „Was ist Ihnen lieber? Wir können beides tun. Es ist mir eigentlich egal“, antwortete er.
Reggie war es eigentlich auch egal. Sie wusste, dass der Präsident bald wieder nach Washington zurück ging, aber sie wusste nicht wann. Es könnte auch erst in einer Woche sein. Wahrscheinlich war es das beste, wenn sie nach Washington gingen. Sie konnten sich ein wenig einleben. Vielleicht hatte Donnie irgendeinen guten Freund, der ihm einen Gefallen schuldete, so dass dieser sich ein wenig nach dem Spion umschauen konnte.
„Ich hätte da eine Idee, Reggie, aber Sie müssen damit einverstanden sein“, erklärte da Donnie und zögerte. Sie nickte ihm auffordernd zu.
„Der Sohn des Präsidenten, Christopher Leard, treibt sich oft ausserhalb der Reichweite seiner Bodyguards herum, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es wäre kein Problem, an ihn heran zu gelangen. Ich könnte arrangieren, dass Sie ihn kennenlernen. Erklären Sie ihm Ihr Problem. Er könnte ohne Aufmerksamkeit zu erregen nach dem Spion suchen.“
Reggies Herz fing an zu klopfen. Sie sollte den Sohn des Präsidenten treffen, der Bruder ihrer besten Freundin. Das war phantastisch. Der Junge sah wirklich gut aus, man sah ihm nicht an, dass er eigentlich ein Jahr jünger als sie war. Sie hatte gehört, dass er gerne Risiken einging. Machte er das auch gerne für andere Personen?
„Was meinen Sie mit Kennenlernen?“ fragte Reggie, obwohl ihre Entscheidung eigentlich feststand.
„Er feiert gerne grosse Partys. Er kann nie alle Leute kennen, die dort erscheinen. Sie gehen einfach mit einem Freund von mir mit und beginnen dann ein Gespräch mit Christopher“, Donnie zögerte leicht, „Vermutlich werden Sie Ihre weiblichen Reize ein wenig einsetzen müssen.“
Reggie lief rot an und sah auf ihr Essen. Sie sollte sich an ihn heranmachen. Mit einem Auge bemerkte sie, dass es auch Donnie ein wenig peinlich war. In seinen Augen lag aber nicht nur Verlegenheit, sondern auch schon Eifersucht. Sie machte sich an Christopher heran, nicht an ihn. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man geliebt wurde. Vor allem dann, wenn man die Liebe erwidern konnte.
„Wie sehr muss ich sie einsetzen?“ fragte sie weiter, um ihm zu zeigen, dass sie nicht alles für das tun würde.
„Bis er sich bereit erklärt, Ihnen zu helfen. Wenn Sie Glück haben, hat er nicht von dieser Entführung gehört. Vielleicht erkennt er Sie nicht.“
Sie runzelte leicht die Stirn. „Und warum sollte er mir helfen? Nur um mir einen Gefallen zu tun?“
Donnie lächelte geheimnisvoll. „Sagen Sie ihm, Sie können ein Treffen mit Marcano arrangieren, wenn er den Spion hochgehen lässt.“
Wieder runzelte sie die Stirn. Sie wusste gar nicht, dass sie das konnte. „Wer ist Marcano? Warum sollte ihn das überzeugen?“
Donnie legte einen Finger auf den Mund. „Bitte, Reggie, nicht so laut. Marcano ist der Boss in der Unterwelt. Er ist über alles informiert, was im Verbrechermilieu vorgeht. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass der junge Leard sich sehr für Marcano interessiert.“
Sie überlegte kurz. Donnie kannte also den Boss der Unterwelt. Wenn er ein Treffen arrangieren konnte, dann bedeutete dies, dass Marcano wusste, was er hier tat. Und er tat nichts dagegen. Es war irgendwie nicht ganz klar.
„Also weiss dieser Marcano, was Sie hier tun?“ fragte sie zweifelnd. Vielleicht gab es doch etwas, was Marcano nicht wusste.
„Ja, er weiss es. Und er steht auf meiner Seite. Er ist nicht für das Töten, wissen Sie. Das würde man ihm nicht zutrauen, aber er vermeidet es so wie ich, jemanden zu töten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Er hielt es für einen dummen Plan, Sie umzubringen, als ich ihm das mitteilte, doch er unternahm nicht. Er hat nur angedeutet, dass er mir helfen werde, wenn ich das ändern will.“
Die Verbindung von Donnie zu Marcano musste ziemlich eng sein.
„Er würde es für mich riskieren, dass er festgenommen wird? Ich meine, Christopher könnte doch der Polizei den Treffpunkt mitteilen und alle hochgehen lassen“, meinte Reggie. Wollte Marcano dieses Risiko wirklich eingehen, nur um einem Menschen das Leben zu retten?
„Christopher lebt nicht wie sein Vater. Bei allem, was er tut, überlegt er sich, ob es seinem Vater gefällt oder nicht. Wenn es ihm gefallen sollte, macht er es nicht. Er würde nie jemanden an die Polizei verraten, der seinem Vater nicht gefällt.“
Reggie lachte. Also stimmte es doch, wenn die Leute behauptete, dass Christopher ein Rebell sei. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass es so schlimm war. Sie war einverstanden damit, Christopher um Hilfe zu bitten. Es würde bestimmt ganz lustig werden, sein Gesicht zu sehen, wenn er jemanden begegnete, der ein Treffen zwischen ihm und seinem Vorbild vorbereiten konnte.
Lee und ihr Vater sassen schweigend am Tisch und assen. Ihre Gedanken kreisten um das gleiche Thema. Warum gab sich Reggie als Donnies Tochter aus? Die Drogen hatten sie ausgeschlossen, genauso wie die Hypnose. Man konnte keinem Menschen sagen: Du bist jetzt mein Kind, und dieser dachte dann auch, dass er das war. Mit irgend etwas musste Donnie sie dazu gezwungen haben, zu sagen, dass sie seine Tochter sei. Irgendeine Drohung musste sie überzeugt haben. Sie würde das doch nie freiwillig machen. Auch nicht, wenn sie sich verliebt hatte?!
„Wann willst du sagen, dass ich deine Tochter bin?“ lenkte sie sich selbst ab.
John sah erstaunt auf, überlegte kurz und gestand: „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Es ist für einen Präsidenten ziemlich schwierig, Fehler zuzugeben.“
Lee hatte mit Politik nicht viel am Hut, aber sie konnte sich die Schwierigkeiten vorstellen. Die Presse würde über ihn herziehen. Sie würde in ihrem Leben jedes Missgeschick finden und ein riesiges Drama daraus machen. Der Präsident musste vielleicht auf seine Wiederwahl verzichten.
Die Entscheidung war schwer. Sie mussten einen guten Zeitpunkt abwarten. Am besten war es, wenn sie warteten, bis Reggie wieder in Sicherheit war. Die Erklärung, warum sie entführt worden waren, musste dann kommen.
„Einer meiner Berater hat mir gesagt, dass bereits Gerüchte über dich kursieren. Alle fragen sich, warum du hier untergebracht bist, und nicht in einem anderen Hotelzimmer. Die einen sagen, du seist die Freundin meines Sohnes, die anderen liegen richtig und sagen, du bist meine Tochter. Ein paar ganz freche Mäuler behaupten, ich habe ein Verhältnis mit dir.“
Lees Mundwinkel glitten nach oben. Sie war noch nicht einmal volljährig und sollte ein Verhältnis mit einem Mann haben, der über dreissig Jahre älter war. Da hatte die Gerüchteküche aber ein bisschen zuviel Phantasie verbraucht.
„Wissen deine Berater, wer ich bin?“ fragte sie neugierig. Es war bestimmt nicht einfach, diesen Beratern klar zu machen, dass Lee hier bleiben soll, ohne ihnen den Grund zu nennen.
John nickte. „Ja, sie wussten auch schon von der Adoption. Ich habe ihnen den Auftrag gegeben, dass sie dich während der ganzen Zeit beobachten sollen. Ich wollte sicher sein, dass du es wirklich gut hast, bei deinen Pflegeeltern.“
Gerührt glitt ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es war gut zu wissen, dass immer jemand da gewesen wäre, wenn ihre Eltern sie misshandelt hätten, oder wenn es ihr schlecht gegangen wäre.
„Sir! Entschuldigen Sie die Störung, Mr. President, aber wir haben eine Spur. Wir sind sicher, dass der Verdächtige den Bus genommen hat, um nach Washington zu kommen. Der Nachtwächter hat eine Beschreibung bestätigt.“ Der Mann stürzte schwer atmend ins Zimmer.
Der Präsident stand auf und sah den Mann an. „Mit dem Bus nach Washington. Sind Sie ganz sicher, dass es wirklich der Verdächtige und seine Geisel sind?“
Der Mann nickte und schnappte nach Luft. „Der Mann sagte allerdings, sie hätte nicht so ausgesehen, als habe sie besonders viel Angst vor Marcano, Sir. Sie sei freiwillig bei ihm geblieben. Sie hätte genug Möglichkeiten zum Abhauen gehabt.“
Der Präsident sah auf Lee. Ihre Stirn war gefurcht, genau wie die seine. Dann nickte er dem Mann zu.
„Sorgen Sie dafür, dass die Verfolgung aufgenommen wird. Aber verhaften Sie niemanden ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Ich will immer wissen, wo sie sich aufhalten und was sie tun, wenn möglich auch, was sie sagen.“
Der Mann nickte und ging wieder hinaus. Zu Lee sagte der Präsident: „Es macht einfach keinen Sinn, oder sehe ich ihn nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Reggie lässt sich gerne von ihren Gefühlen beeinflussen. Aber ich glaube nicht, dass sie so weit gehen würde, um mit Marcano abzuhauen. Das ist nicht ihr Stil. Es hat bestimmt noch einen anderen Grund. Er muss sie mit etwas bedrohen, ihr solche Angst einjagen, dass sie nichts mehr zu tun wagt.“
John runzelte die Stirn. „Aber was könnte das sein? Wenn er sie umzubringen droht, könnte sie weglaufen, und er würde festgenommen werden. Vielleicht aber verspricht er ihr einen Anteil am Lösegeld, wenn sie bei ihm bleibt.“
Diese Möglichkeiten erschienen ihr vollkommen unwirklich. Reggie hatte genug Geld, schliesslich war ihr Vater ja Skeet McGowan. Es machte sie halb wahnsinnig, nicht zu wissen, warum ihre beste Freundin etwas tat. Sonst hatte sie immer im Voraus sagen können, wie sie sich entschied und was sie jetzt dann tat.
„Komm, Lee, es hilft nichts, wenn wir nachdenken, was es sein könnte. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, die uns nie in den Sinn kommen würden.“
Sie setzte sich wieder hin und griff nach einem weiteren Brötchen, an dem sie aber lustlos knabberte. Der Hunger war ihr vergangen. Sie konnte nicht verstehen, warum Reggie das tat.
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Christopher, dein Bruder, weiss nicht, wer du bist, aber er macht heute abend in Washington eine Party. Wenn du möchtest, kannst du hingehen und ihn kennenlernen. Danach kannst du mir sagen, ob mein Bild von ihm wirklich falsch ist oder nicht.“
Eigentlich hatte Lee keine Lust, auf eine Party zu gehen, aber ihren Bruder würde sie schon ziemlich kennenlernen. Sie fragte sich, was er tun würde, wenn er zuerst mit ihr so sprach, als sei sie eine Freundin, und danach erfuhr, dass sie in Wirklichkeit seine Schwester war.
„Wie ist denn dein Bild von ihm?“ fragte sie.
„Alles, was er macht, macht er, um mich zu ärgern“, antwortete er seufzend, „Michelle und ich haben versucht, ihm so viele Freiheiten wie möglich zu lassen, aber scheinbar ist das nicht so eingeschlagen, wie wir es gewollt haben. Auf öffentlichen Anlässen sorgt er regelmässig dazu, dass wir uns blamieren.“
Sie lächelte. „In den Zeitungen stand immer wieder, dass Christopher sich wieder einmal daneben aufgeführt hat. Und um ehrlich zu sein, ich habe mir immer gewünscht, dass ich ihn einmal kennenlerne.“
John lachte. „Dann hast du jetzt ja die Gelegenheit dazu. Pass nur auf, dass du nicht vergisst, wer du bist und wer er ist.“
Lee nickte lachend. „Keine Angst. Darauf achte ich schon.“
Es war erleichternd, wieder einmal zu lachen. Die Sorgen um Reggie verflüchtigten sich ein wenig. Ihr würde nichts geschehen, sonst wäre sie bestimmt schon lange abgehauen. Sie konnte sich auf ihr Treffen mit Christopher freuen.
„Übrigens, ich habe Skeet McGowan über die neusten Fortschritte informieren lassen. Er sucht noch immer nach Jamie Campbell. Vielleicht wird er gegen Mittag hierher kommen, aber dann bist du schon weg. Ich habe einen Jet für dich bereit machen lassen. In Washington wird dich dann jemand abholen und dafür sorgen, dass du Michelle kennenlernst und dass du ein paar Kleider bekommst, die sich für eine Party gehören“, erklärte John ihr.
„Und wann kommst du nach?“ fragte sie. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, ganz alleine mit ihrer richtigen Mutter zusammen zu sein. An John hatte sie sich unterdessen gewöhnt, aber an Michelle noch nicht.
„Vermutlich komme ich morgen. Keine Sorge“, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, „Michelle wird dich nicht auffressen. Sie versteht, wenn du dich ein wenig unwohl fühlst. Aber ich versichere dir, dieses Gefühl wird schnell verschwinden.“
 
 

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