1. Ein Versuch
Der Schlag traf voll auf seinen
Hinterkopf auf. Niemand hatte ihn bis jetzt so fest geschlagen. Er hatte
das Gefühl, als explodiere sein Kopf. Viele kleine Sternchen tanzten
vor seinen Augen, bevor der Himmel sie alle verschluckte und er nur noch
Schwärze sah. Er spürte, wie man seine Hände nahm und sie
zusammen band. Dann stellte man ihn auf die Beine und jemand strich sanft
über seine Wange, die von Schrammen und Blutergüssen überdeckt
war.
„Keine Angst, mein Süsser,
dir wird nichts passieren, sofern du keine Schwierigkeiten machst. Es wäre
doch schade, wenn ich dich in eine Zelle sperren lassen müsste“, flüsterte
eine sanfte, aber gleichzeitig auch respekteinflössende Frauenstimme.
Er erkannte vor sich den leichten
Umriss einer wunderschönen, gut gebauten Frau, der allerdings sehr
verschwommen war.
„Bringt ihn in mein Zimmer!
Ich kümmere mich später um ihn“, befahl sie denen, die ihn hielten.
Er stöhnte, als er vorwärts
gestossen wurde und dabei das Gleichgewicht verlor, so dass er mit seiner
Schulter auf den Boden aufschlug. Wieder zog man ihn auf die Beine und
stützte ihn soweit, dass er wenigstens halbwegs gehen konnte.
Man brachte ihn, nicht wie
er erwartet hatte, in ein dunkles, finsteres Loch, sondern in einen hellen,
gut eingerichteten Raum, wo er auf ein weiches Bett geworfen wurde.
Er unterdrückte die kommende
Schwärze und rappelte sich auf. Keiner war ausser ihm im Zimmer und
soweit er gehört hatte, hatte man die Türe auch nicht abgeschlossen.
Sollte er die Chance nutzen und verschwinden? Doch wahrscheinlich würde
das nicht viel bringen, denn es war wohl kaum abzustreiten, dass vor der
Tür Wachen standen. Es wäre sehr fahrlässig, wenn das nicht
so wäre. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuwerfen,
bedauerte es aber gleich wieder, denn das verursachte nur noch mehr Kopfschmerzen.
Seine Hände arbeiteten heftig daran, die Stricke, mit denen sie gefesselt
waren, zu lösen, doch sie waren fest zugeschnürt. Er schürfte
sich dabei nur die Handgelenke auf.
Sein Blick klärte sich
langsam und er stellte fest, dass er in einem wunderschönen Zimmer
war, das von einer sehr geschmackvollen Person eingerichtet worden war.
Die gesamte Einrichtung hatte einen hellen, bräunlichen Ton, der immer
wieder von farbigen Flecken unterbrochen war. Da und dort lagen wie zufällig
hingeworfene Kleidungsstücke, Decken und Tücher, die alle zusammen
in eine warme Atmosphäre zusammenflossen, in der er vergessen könnte,
dass er hier ein Gefangener war.
Plötzlich ging die Tür
auf und eine Frau, die das Kürzeste anhatte, was man anhaben konnte,
ohne gleich nackt zu sein, kam herein. Sie trug ihre braunen Haare mit
einem strengen Knoten im Nacken. Ihre Augen waren aufmerksam und schienen
dauernd in Bewegung. Ihr Mund war ein wenig zu schmal, doch das hatte sie
mit ihrem Lippenstift perfekt ausgeglichen. Sie trug Handtücher und
Verbandszeug mit sich.
Er starrte sie an und wich
zuerst zurück, als sie näher kam, aber als sie beruhigend lächelte,
liess er zu, dass sie seine Wunden versorgte. Sie wusch seine Verletzungen
mit sanften Händen aus und strich eine kühlende Salbe darauf.
Bei den schlimmsten Schnittwunden, die von den Messerstichen stammten,
machte sie einen Verband darum, damit sie endlich aufhörten zu bluten
und er sich später keine Blutvergiftung einholen konnte. Sie löste
sogar die Fesseln, um seine Schürfungen zu behandeln. Danach ging
sie, ohne ein Wort gesagt und ohne die Fesseln wieder angelegt zu haben,
wieder hinaus.
Er sah ihr nach, fühlte
sich nach dieser Behandlung schon um einiges besser. Aber warum befahl
die Frau, die ihn vorher hatte hierher bringen lassen, so etwas? Warum
wollte sie, dass er gut versorgt wurde? Warum liess sie ihn ohne Fesseln
herumlaufen? Er war ihr Gefangener und hatte bestimmt nicht vor hierzubleiben,
wenn man ihm die Chance bot zu fliehen. Er ging zu einem Fenster und versuchte
es zu öffnen, doch es war abgeschlossen und vergittert.
„Vergessen Sie es, mein Süsser.
Das Fenster ist mit einem Code gesichert und wenn Sie es einschlagen, wird
der Alarm ausgelöst“, sagte da plötzlich wieder diese sanfte
Stimme.
Er drehte sich um und sah
die Frau nun ohne einen Schleier vor den Augen. Sie war wirklich wunderschön.
Von ihren langen, schlanken Beinen hin über ihre sanften Rundungen
bis hin zu ihrem wundervollen, gelockten Haar und ihren verführerischen
Lippen sah sie einfach hinreissend aus. Wenn sie nicht die wäre, die
ihn gefangen genommen hatte, hätte er bestimmt versucht etwas mit
ihr anzufangen. Aber in dieser Situation liess er das lieber bleiben; obwohl
es für ihn vielleicht Vorteile gehabt hätte, wenn sie sich überzeugen
liess, dass sie auf der falschen Seite stand. Aber er glaubte nicht daran,
dass sie sich nicht überzeugen lassen würde.
Sie lächelte über
seinen Blick. „Mein Name ist Judy Dexter. Ich bin ... die Leiterin dieses
Unternehmens. Wer sind Sie?“
Er sah sie ruhig an. Man hatte
ihm immer wieder eingebleut, dass man nie auf Fragen antworten sollte,
die einem später zum Verhängnis werden konnten. Wenn er ihr seinen
Namen sagte, dann würde sie bestimmt auch herausfinden, für wen
er arbeitete und was er hier suchen sollte. Und dann würde sie wissen,
wer er war und eventuell würde sie ihn später einmal umbringen
lassen, wenn sie es nicht jetzt schon tat.
Sie zuckte ungerührt
mit den Schultern.
„Ich würde gerne wissen,
was Sie hier machen, aber ich nehme an, das sagen Sie mir auch nicht freiwillig.“
Er zeigte wieder keine Reaktion.
Sie ging zur kleinen Bar und
schenkte sich ein Glas Champagner ein. Der Wein sprudelte auf und schäumte,
doch nichts ging daneben.
„Möchten Sie auch?“
Sie seufzte leise, als er
ihr keine Beachtung schenkte. Er wusste nicht, ob nicht irgendein Mittel
in diesem Wein war. Vielleicht hatte sie ja ein Gegenmittel genommen, so
dass es ihr nichts machen, ihn aber umbringen würde. Allerdings wäre
das ziemlich unlogisch. Warum sollte sie ihn vergiften wollen, wenn sie
ihn auf jede andere Art auch umbringen konnte?
Seine Blicke folgten jeder
ihrer Bewegungen. Er wusste zwar nicht, was sie jetzt noch tun könnte,
was sie nicht schon vorher hätte tun können, aber sicher war
sicher. Sie setzte sich auf einen Stuhl und deutete auf den anderen vor
ihr.
„Setzen Sie sich doch“, meinte
sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich stehe lieber“, antwortete er als ersten Satz, den er überhaupt
sagte.
Sie lächelte und das
machte sie noch attraktiver als sie sonst schon war. Es war ein Lächeln,
das jeden Mann erweichen liess und das eine Anziehungskraft hatte, der
keiner widerstehen konnte. Er aber liess sich nicht davon beeindrucken.
„Sie können ja sogar
sprechen“, flüsterte sie verführerisch und stellte ihr Glas auf
den Tisch.
„Wer hat Sie hierher geschickt?“
Er zeigte keine Reaktion.
Sie seufzte. „Wirklich schade.
Sie sind so weit gekommen, doch jetzt werde ich Sie leider töten lassen
müssen, denn Sie wissen, wo ich bin.“
Er zuckte ungerührt mit
den Schultern. „Ändert sich mein Wissen, wenn ich tot bin?“
Sie lächelte. „Sie gehören
wohl dem Buddhismus an, was? Glauben Sie an die Reinkarnation?“
Er antwortete nicht und sie
ging nicht weiter auf seine Bemerkung ein.
„Bevor Sie sterben, sollten
Sie mir aber noch ein paar Informationen geben.“
Er deutete eine Verbeugung
an. „Zu Ihrem Diensten, Ma’am, doch ich glaube kaum, dass ich Ihnen da
weiter helfen kann.“
Sie schmunzelte wieder. „Ich
bin da anderer Meinung.“
Mit einem Zeichen von ihr
ging die Tür auf und zwei Männer, die mehr Bären glichen
als Menschen, kamen herein.
„Das sind meine persönliche
Bodyguards. Sie werden dafür sorgen, dass Sie mir die Informationen
geben, die ich von Ihnen haben will.“
Er lächelte leicht. Viele
hatten es schon mit Folter bei ihm versucht, aber keinem war es je gelungen.
Er hatte keine Angst vor Schmerzen und auch keine Angst vor dem Tod. Sein
alter Lehrer hatte ihm beigebracht, wie man die Schmerzen wirkungsvoll
unterdrücken konnte.
Judy stand auf und drückte
auf einen Knopf auf dem Tisch, worauf sich dessen Platte umdrehte und eine
Fläche hervorkam, an der Halter befestigt waren, mit denen man einen
Menschen ohne Probleme festmachen konnte, um ihn zu foltern.
Einer dieser Bärenmänner
kam auf ihn zu, hob ihn, als wäre er eine Feder, auf diesen Tisch
und schnallte ihn fest. Er lag auf dem Bauch, Arme und Beine von sich gestreckt,
mit Lederriemen festgemacht, die erneut auf seiner wunden Haut scheuerten.
Er hatte keine Chance, sich zu befreien.
Man riss ihm das Hemd auf.
Der Schlag einer knallenden Peitsche traf ihn auf den Rücken und er
zuckte zusammen. Ein heisser Schmerz zuckte durch seinen ganzen Körper.
Bis jetzt hatte ihn noch nie jemand mit einer Peitsche gefoltert, aber
er hatte von Berufskollegen gehört, dass man das nicht aushalten konnte.
Es sei viel barbarischer als wenn man einfach zusammengeschlagen wurde,
bis man alle Knochen gebrochen hatte und nicht mehr klar denken konnte.
Wieder und wieder raste die
Peitschenschnur auf seinen nackten Rücken. Er unterdrückte die
Schmerzensschreie und begann langsam damit, sich zu konzentrieren und das
Komoru vorzubereiten, das ‚Sich-zurückziehen‘, um die Schmerzen zu
vergessen. Er atmete tief ein, versuchte, die Peitsche zu ignorieren und
spürte langsam Erleichterung. Die Stimme von Judy Dexter drang von
weit her in sein Ohr.
„Wollen Sie mir nicht sagen,
wer Sie geschickt hat und was Sie hier wollen?“
Er antwortete nicht. Seine
Gedanken schwebten frei irgendwo umher, getrennt von seinem Körper,
der Höllenqualen durchlitt. Und dann war es auf einmal vorbei. Er
spürte keine Schläge mehr, nur noch die brennenden Spuren auf
seinem Rücken. Seine Gedanken kehrten wieder zu seinem Körper
zurück.
„Wie es mir scheint, beherrschen
Sie das Komoru. Dann müssen wir es eben auf eine andere Art versuchen.“
Sie gab den Männern wieder ein Zeichen, worauf diese verschwanden.
Sie öffnete seine Fesseln,
aber als er aufstehen wollte, fiel er vom Tisch auf dem Boden, direkt auf
den Rücken, worauf es doppelt schmerzte. Er blieb erschöpft liegen
und hoffte inständig, dass die Schmerzen bald aufhörten. Judy
setzte sich neben ihn und musterte ihn freundlich, als habe sie nicht gerade
den Befehl gegeben, ihn zu foltern, auf eine so grausame Art und Weise,
wie er es selbst nie machen würde.
„Eigentlich bin ich nicht
so brutal, aber wenn man mir keine Wahl lässt, muss ich eben zu solchen
Mitteln greifen“, säuselte sie ihm ins Ohr. Er war nicht sicher, ob
er ihr das glauben sollte, aber es spielte sowieso keine grosse Rolle,
ob sie so grausam war oder nur so tat, als sei sie es.
Die Tür ging wieder auf
und er glaubte, unterdrückte Schreie zu hören. Er sah auf, war
aber viel zu erschöpft, um eine richtige Reaktion zu zeigen. Die Bären
hatten seine Frau Nora und seine zehnjährige Tochter Jessica fest
in ihren Klauen. Jessica sah ihn verängstigt an und verstand nicht,
was mit ihr geschah. Beide Bären grinsten hämisch, und er konnte
nichts dagegen tun.
„Nun, Mister, wollen Sie mir
nicht jetzt das geben, was ich will?“ fragte Judy erneut.
Er schloss die Augen und hoffte,
dass seine Familie nicht mehr da war, wenn er sie wieder öffnete.
Leider wurde seine Hoffnung enttäuscht. Seine Tochter sagte zu einem
der Bären, dass er solle sie loslassen, er täte ihr weh, worauf
dieser nur noch mehr grinste. Es schien ihm Spass zu machen, die Schwäche
aller Menschen ausnutzen: die Menschen, die sie liebten.
Als er seine Frau kennengelernt
hatte, hatte er sich gegen die Liebe gewehrt. Er wusste, dass er sie damit
nur in Gefahr bringen würde, wie er jetzt genau feststellen konnte.
Er hätte sie niemals heiraten und seine Tochter hätte nie auf
die Welt kommen dürfen. In seinem Beruf konnte man keine Menschen
brauchen, die man liebte. Es brachte nur Schaden.
Ein Mann gab seiner Tochter
eine Ohrfeige. Sie schrie auf und er konnte ihren Schmerz genau fühlen.
Seine Gedanken füllten sich mit Hass, aber er wusste genau, dass er
nichts tun konnte. Er war zu schwach und unbewaffnet.
„Haben Sie es sich überlegt?“
fragte Judy wieder.
Er nickte geschlagen. Was
hätte er sonst tun können? Die Frau lächelte erfreut. Sie
gab ein Zeichen, dass seine Familie wieder weggebracht werden sollte.
„Also, wie heissen Sie, von
wem wurden Sie geschickt, was wollen Sie?“
Er setzte sich mühsam
auf. „Mein Name ist Alex Garcia. Hisayo Ming hat mich geschickt, um Kunstwerke
zu ihm zurückzubringen, die Sie ihm gestohlen haben. Er meinte, er
habe ein Recht darauf, sie wiederzuhaben. Er will auch Ihre ganze Bande
haben, aber dafür bin ich alleine zu schwach. Ich sollte nur Sie und
die Kunstwerke bringen. Den Rest will er die Polizei erledigen lassen.“
„Sie sind also der berühmte
Alex Garcia. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Sie scheinen ja
grossen Erfolg mit Ihrem Geschäft zu haben, was?“ Judy lächelte,
scheinbar ungerührt vom Rest, was er sonst noch gesagt hatte. Vermutlich
hatte sie damit gerechnet, dass er von Ming kam.
Er antwortete nicht. Er sah
seine Tochter vor sich, mit weit aufgerissenen Augen, in denen nur Schmerzen
und Angst war, wie diese ihn stumm baten, ihr zu helfen, dafür zu
sorgen, dass man ihr nicht noch mehr weh tat. Es war richtig, dass er es
gesagt hatte. Niemals hätte er seine Tochter leiden lassen können,
nur wegen ein paar Informationen, wegen denen die Welt nicht unterging.
„Von wo wussten Sie von meiner
Familie, wenn Sie nicht wussten, wie ich heisse?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Das war reiner Zufall. Sie hatten Ihre Jacke draussen gelassen und irgendwie
brachten es Ihre Frau und Ihre Tochter fertig, genau in diesem Moment vorbeizugehen
und die Jacke zu finden, als einer meiner Männer seine Runde drehte.
Ihre Tochter sagte: ‚Mum, das ist doch die Jacke von Dad‘ und als sie dann
auch noch ein Sackmesser fand, auf das ein Herz gekritzelt war, waren sie
sicher, dass Sie hier sind und haben nach Ihnen gesucht. Meine Männer
brachten sie dann hierher.“
Er schloss die Augen. Er hatte
ihnen gesagt, sie sollen sich von diesem Haus fernhalten. Warum taten sie
nie das, was er ihnen sagte? Die vorigen Male hatte es ja nichts ausgemacht,
aber diesmal hatte es ihn und auch sie in erhebliche Schwierigkeiten gebracht.
Würde er sie nicht so lieben, wie er es tat, dann wären sie jetzt
tot. Vielleicht wären sie sogar zu Tode gefoltert worden, nur weil
er nichts sagen wollte. Warum kapierten sie nicht, dass er einen nicht
gerade ungefährlichen Job machte? Aber es war auch seine Schuld. Er
hätte sie niemals hierher mitnehmen dürfen. Es war viel zu gefährlich.
Sie hätten zu Hause bleiben sollen, dort wäre ihnen so etwas
nie passiert.
Judy holte eine blaue Dose
von einem Tisch und befahl ihm, sich auf den Bauch zu legen. Sie öffnete
den Deckel und ein unangenehmer Duft entströmte.
„Es riecht grässlich,
ich weiss, aber es hilft, glauben Sie mir.“ Sie kniete sich neben ihn hin
und strich ein bisschen auf seine Wunden. Er zuckte zusammen. Die Salbe
brannte wie Feuer.
„Es geht gleich vorbei“, meinte
sie und strich seinen Rücken weiter damit ein.
Er musste sich beherrschen,
um sie nicht wegzustossen, denn er hatte das Gefühl, als ob die Salbe
noch mehr weh tat als die Peitschenhiebe selber. Es war, als ob das Feuer,
das von ihr ausging, durch seinen ganzen Körper raste, in jede Faser
seiner selbst und den Schmerz, den er sowieso schon verspürte, verstärkte
und nährte und ihn immer stärker werden liess.
„So, das hätten wir.
Sie hätten sich das ersparen können, wenn Sie mir alles schon
von Anfang an gesagt hätten.“ Er gab ihr wieder keine Antwort, setzte
sich nur langsam auf.
„Sagen Sie Mr. Ming, dass
er die Kunstwerke vergessen soll. Er soll endlich aufgeben. Er wird sie
nie mehr wiedersehen, ausser er kauft sie uns ab.“
Einer der Bären kam herein
und reichte ihm eine Decke, die er dankbar um sich schlang. Er führte
ihn hinaus, wo eine schwarze Limousine vorfuhr. Die Tür ging auf und
er wurde hineingestossen. Judy setzte sich neben ihn, worauf das Auto sofort
wieder losfuhr.
„Ich dachte, Sie wollen mich
töten“, sagte er.
Judy schüttelte lächelnd
den Kopf. „Ich töte grundsätzlich niemanden. Wir wollten sowieso
bald von hier verschwinden und da kommt es nicht darauf an, ob Sie Ming
jetzt sagen, wo ich war oder nicht.“ Er sagte nichts darauf.
„Wo ist meine Familie?“ fragte
er nach einer Weile.
„Sie wurde bereits zum Flugzeug
gebracht. Machen Sie sich keine Sorgen.“
Er sah aus dem abgedunkelten
Fenster. Die Menschen, die hier auf der Strasse entlang gingen, ahnten
nicht, was für eine Verbrecherin gerade an ihnen vorbei fuhr. Natürlich,
es gab schlimmere Verbrecher als sie. Soweit er wusste, hatte sie noch
nie einen Mord begannen, aber was sie alles schon geleistet hat, war unglaublich.
Sie könnte aus jedem noch so gut bewachten Raum mindestens eine Sache
stehlen, ohne dass sie je erwischt würde. Bis jetzt hatte man ihr
jedenfalls nie etwas nachweisen können. Es ging ein Gerücht herum,
dass sie sogar einmal in Fort Nokes eingebrochen war und dort ein paar
hunderttausend Dollar in Gold gestohlen hat. Allerdings glaubte er das
nicht. Fort Nokes war zu gut bewacht, da kam nicht einmal eine Maus unbeachtet
hinein.
Judy nahm eine Zigarette.
„Wollen Sie auch eine?“
Er schüttelte den Kopf.
Er konnte Zigaretten nicht ausstehen, obwohl sie manchmal die nötige
Ablenkung brachten. Sie zündete sich eine an und nahm einen tiefen
Zug.
Er versuchte, sich so aufrecht
zu halten, dass sein Rücken nicht an die Lehne kam, aber die Wunden
schmerzten trotzdem. Der Wagen wurde langsamer und fuhr direkt unter einen
Jet, der mit offenen Türen auf der Fahrbahn des Flughafens stand.
Der Fahrer öffnete die Tür und sie stiegen aus. Die kalte Nachtluft
strich um seine Schultern und er zog die Decke enger um sich.
„Versuchen Sie nicht noch
einmal, die Kunststücke zu ihrem Besitzer zurückzubringen. Dann
werde ich nämlich nicht mehr so gnädig sein können“, drohte
sie ihm und nickte in Richtung Flugzeug. „Steigen Sie jetzt ein. Der Pilot
weiss, wohin er Sie bringen muss.“
Er zögerte. „Und wohin
soll er uns bringen?“
Judy lächelte und zog
ebenfalls ihren Mantel enger um ihrer Schultern, als sie aus dem Windschutz
des Autos trat. „Er wird Sie zu Ihnen nach Hause bringen. Von dort aus
können Sie ja dann mit Ihrem Auftraggeber reden.“
Er zögerte wieder. Konnte
er ihr trauen oder hatte sie es so organisiert, dass das Flugzeug irgendwann
einfach explodierte und es aussah, als sei es ein Unfall? Wollte sie nur
ja nicht des Mordes verdächtigt werden? Seine dunklen Augen bohrten
sich in ihre.
„Warum sollte ich Ihnen das
glauben?“ fragte er wieder.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Haben Sie schon einmal davon gehört, dass ich jemanden habe umbringen
lassen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Wie gesagt, ich bin nicht
der Typ dafür, der einfach Menschen umbringen lässt. Wenn Sie
alleine wären, dann müsste ich es mir überlegen, aber Ihre
Familie ist auch da drin und ich töte keine unschuldigen Menschen,
schon gar nicht zehnjährige Kinder, die nichts dafür können,
wenn sie das Kind von einem Spion sind.“
Er nickte langsam und drehte
sich um. Er glaubte ihr, obwohl er nicht wusste warum, aber er tat es.
Es war ein Gefühl, das ihm sagte, er soll es tun. Sie hatte wirklich
keinen Grund, ihn und seine Familie zu töten, wenn sie sowieso gleich
von hier verschwinden wollten.
2. Kurze Pause
Die Flugzeugtür wurde
hinter ihm geschlossen. Er hatte nicht angenommen, dass sie ihn und seine
Familie alleine fliegen lassen würde, und so war er auch nicht überrascht,
als ausser ihm noch zwei Bodyguards mit hinein kamen, die mit ihrer monströsen
Gestalt allen Platz wegzunehmen schienen.
„Dad!“ rief seine Tochter
und sprang auf. Ein Wächter hinter ihr drückte sie aber wieder
auf den Platz. Alex lächelte sie beruhigend an und ging zu ihr.
„Dad“, flüsterte sie
noch einmal und umarmte ihn. Er verzog das Gesicht, als sie zu fest auf
seine Wunden drückte.
„Was hast du, Dad?“
Er winkte ab. „Nichts, meine
Kleine. Es ist nichts.“
Er setzte sich wieder und
umarmte seine Frau. Nora achtete darauf, ihn nicht am Rücken zu berühren,
denn sie hatte ihn gesehen, als er so hilflos am Boden lag, mit roten Striemen
auf dem Rücken.
„Es tut mir leid, Alex. Es
tut mir so leid“, flüsterte sie.
Er lächelte verzeihend
und setzte sich auf seinen Stuhl, als das Flugzeug startete. Keiner von
den dreien sagte ein Wort, aber das brauchten sie auch nicht. Sie lebten
seit fünfzehn Jahren zusammen und kannten sich, da brauchte es nicht
mehr viele Worte. Seine Tochter kuschelte sich an ihre Mutter und schlief
gleich darauf ein. Seine Frau lächelte leicht und strich ihr sanft
über den Kopf.
„Jessi wollte unbedingt einkaufen
gehen und ich habe nicht darauf geachtet, wohin wir gehen. Es tut mir leid“,
entschuldigte sich Nora erneut.
Er nickte müde. Am liebsten
hätte er sich auch einfach an seine Frau gekuschelt und wäre
eingeschlafen. „Ist schon in Ordnung.“
Doch sie schüttelte den
Kopf. „Wir hätten dich fast umgebracht!“ entfuhr es ihr, „Und jetzt
musstest du alle Geheimnisse verraten, nur wegen uns.“
Er lächelte. „Irgendwann
hätte sie mich soweit gehabt, dass ich alles gesagt hätte.“
Seine Frau schien das ganz
anders zu sehen, aber sie schwieg jetzt. Mit ihm konnte man über solche
Sachen nicht diskutieren. Sie wusste, dass er sich immer in Lebensgefahr
befand, weil ziemlich viele Menschen auf ihn wütend waren. Sie hatte
schon viele Male versucht, ihn zu einem anderen Job zu überreden,
aber es war ihr nicht gelungen. Dieser Job war sein Leben. Er konnte sich
ein Leben ohne die Gefahr gar nicht vorstellen.
Er lehnte seinen Kopf an die
Wand und schloss die Augen. Er analysierte sein Verhalten, die Fehler,
die er gemacht hatte, um aus ihnen zu lernen. Das Problem war nur, er konnte
keine Fehler entdecken. Es war richtig gewesen, Judy Dexter die Wahrheit
zu sagen, weil sie seine Familie hatte. Er hätte sie nicht leiden
lassen dürfen. Ausserdem war in diesem Fall diese Information nicht
so schlimm gewesen wie in anderen. Es ging nur um Kunstgegenstände,
nicht um Waffen oder Bomben oder wahnsinnig viel Geld. Natürlich waren
diese Gegenstände wertvoll, aber eigentlich hatten sie nur Sammlerwert.
Vielleicht tauchten sie ja irgendwann einmal wieder auf und dann konnte
Ming sie zurückkaufen, wenn er wirklich so interessiert daran war.
Er unterdrückte ein Seufzen.
Das war einer der wenigen Fällen, die ausser Kontrolle geraten waren.
Er war bekannt dafür, dass er alle Aufträge richtig erledigte
und nicht scheiterte. Wenn das bekannt wurde, würde das für seinen
Ruf nicht gut sein, aber vielleicht konnte er es wieder aufholen, wenn
er dafür die nächsten noch perfekter als sonst machte. Es war
ein Einzelfall gewesen. Das nächste Mal wusste er, was er machen musste,
damit er das Ganze ohne Zwischenfälle abwickeln konnte.
Das Flugzeug begann zu rütteln
und er schrak auf. Hatte er sich etwa in Judy getäuscht? Hatte sie
nicht doch etwas manipuliert, so dass es jetzt wie eine Funktionsstörung
aussah?
Er sprang auf und begegnete
dem warnenden Blick der Wächter, also setzte er sich wieder, fragte
aber: „Was ist los mit dem Jet?“
Der Wächter zuckte mit
den Schultern. Er war nicht sonderlich beunruhigt. „Wahrscheinlich ein
Luftloch. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie stürzen schon nicht ab.“
Das erleichterte ihn nicht
gerade, aber er sagte auch nichts mehr. Das Flugzeug hörte aber nicht
auf zu rütteln und Jessica erwachte. Er konnte wieder die Angst in
ihrem Augen sehen.
Die Wache ging nach ein paar
Minuten - jetzt ebenfalls sichtlich beunruhigt - nach vorn zum Cockpit
und erkundigte, was los ist.
Gleich darauf schien es so,
als seien sie beschossen worden. Der Jet wackelte immer mehr und es konnte
bestimmt kein Luftloch mehr sein und auch kein Sturm - was er sowieso ausschloss,
denn es war wunderschönes Wetter.
Der Anblick draussen vor dem
Fenster wurde immer interessanter. Ein riesiges Flugzeug näherte sich
ihnen von der Seite, und es war ein Wunder, dass sie nicht schon lange
in dessen Zog gezogen worden waren. Es öffnete eine Art Luke, in der
der
kleine Jet ohne weiteres Platz gehabt hätte. Und genau das hatten
sie scheinbar auch vor. Sie wollten ihre kleine Maschine in die andere
hineinbringen. Darum wakkelte alles so gewaltig. Er starrte den grossen
Frachter durch das Fenster an. So etwas hatte er noch nie gesehen. Zwar
wusste er von solch grossen Flugzeugen, aber dass man auch während
dem Flug einladen konnte, davon hatte er noch nie gehört.
Die Wache kam zurück
und stellte sich wieder ruhig an ihren Platz. Er beobachtete sie, wartete
auf eine Erklärung, aber sie schien nun über dieses Manöver
informiert worden zu sein und hielt es nicht für nötig, auch
ihn zu informieren.
„Alex, was geht hier vor?“
fragte seine Frau verängstigt und sah ihm mit grossen, nervösen
Augen an.
Er konnte nur mit den Schultern
zucken. „Ich habe keine Ahnung, Nora.“
Gleich darauf sahen sie nur
noch die schwarze Hülle des grossen Flugzeugs und dann konnten sie
in sein Inneres blicken. Es war ein riesiger Laderaum, der ausser ihnen
jetzt leer war. Sobald sie sich vollständig im Innern der Maschine
befanden, schloss sich unter ihnen die Luke und es wurde einen Moment lang
stockdunkel, bis die Lichter angingen und die Tür ihres Jets geöffnet
wurde.
Eine Wache nach der anderen
ging hinaus. Sie liessen die verunsicherten Gefangenen alleine. Als Alex
es endlich wagte aufzustehen, kamen plötzlich wieder Wachen hinein.
Allerdings waren sie jetzt nicht mehr mit normalen Jeans und Hemden gekleidet,
sondern mit schwarzen Uniformen, so wie man sie sonst eigentlich nur im
Fernsehen sah.
„Aufstehen, Hände hoch
und hinausgehen!“ befahl einer und unterstrich seine Worte durch eine Geste
mit seinem Maschinengewehr. Auf Jessicas Wangen strömten Tränen
hinab.
Er befolgte die Anweisungen,
wobei die Decke von seinem Rücken rutschte. Sie wurden hinaus geführt,
wo ein nicht mehr ganz junger Mann in Anzug und Krawatte stand, umgeben
von zirka zehn Bodyguards.
„Sie können die Hände
wieder herunter nehmen“, meinte er mit einem russischen Akzent und sofort
drückte sich Jessica an ihre Mutter.
Alex stellte sich schützend
vor die beiden und fragte: „Was wollen Sie von uns?“
Der Mann lächelte. „Nicht
von euch, nur von Ihnen, Mr. Garcia.“
Alex legte den Kopf auf die
Seite und sah ihn auffordernd an.
„Kommen Sie doch erst mal
in ein bequemeres Quartier mit. Hier ist es so ungemütlich kalt, finden
Sie nicht auch?“
Er deutete auf eine Tür
und Alex und seine Familie folgten ihm langsam. Die Tür führte
in ein luxuriös eingerichtetes Zimmer. Der Boden war mit einem Teppich
belegt, der sich in einem undefinierbaren Muster in allen verschiedenen
Farben dahin zog. An der rechten Wand war eine kleine Nische, die als Küche
diente. Alles darin war aus Marmor. In der anderen Ecke war eine Polstergruppe
- natürlich alles mit echtem Leder bezogen.
„Setzen Sie sich doch“, meinte
der Mann und zeigte auf die Diwans.
Alex zögerte und ging
dann an ihm vorbei auf eine Couch zu. Nora und Jessica blieben bei der
Tür stehen und sahen sich immer wieder nervös nach ihr um, als
könne sie ihnen weglaufen.
„Was haben Sie denn mit Ihrem
Rücken gemacht?“ fragte der Mann Alex und schien ehrlich besorgt zu
sein. Alex antwortete nicht, sah ihn nur mit einem Blick an, der sagte,
dass ihn das nichts angehe, worauf der Mann abwehrend die Hände hob.
„Schon gut, es geht mich nichts
an. Setzen Sie sich doch auch, Miss Garcia und du auch, Jessica. Es passiert
euch hier nichts.“
Sie setzten sich, wenn auch
nur zögernd und in der Nähe der Tür.
„Es sieht im ersten Moment
vielleicht so aus, als wolle ich Ihnen irgend etwas tun, aber das ist nicht
der Fall. Im Gegenteil, ich brauche Ihre Hilfe.“
Er hob die Brauen. Warum sollte
dieser Mann sie entführen, um sie dann um Hilfe zu bitten? Das konnte
man doch alles auf festem Boden machen, mit einer normalen Einladung zum
Essen oder so.
„Was meinen Sie mit Hilfe?“
fragte er und gab seine Verteidigungsstellung auf. Seine Gefühle sagten,
dass ihnen hier wirklich keine Gefahr drohte.
Der Mann antwortete: „Zuerst
möchte ich mich vorstellen. Mein Name ist Captain Nicolai Mirankov.
Ich bin vom russischen Geheimdienst. Die Frau, von der Sie gerade kommen,
Mr. Garcia, Judy Dexter, hat von uns kostbare Objekte gestohlen, und nun
wird meine Abteilung für den Diebstahl verantwortlich gemacht. Diese
Gegenstände haben für Russland nicht nur materiellen Wert. Sie
repräsentieren einen Teil unserer Vergangenheit, unserer Geschichte.
Und wenn wir sie nicht innerhalb von vier Tagen wieder zurückbringen,
wird die gesamte Einheit einem Gericht überstellt, das bestimmt nicht
unparteiisch ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich möchte Sie
im Namen meiner Abteilung bitten, uns diese Objekte wieder zu bringen.“
Er sah ihn ohne jegliche Reaktion
an. Dann runzelte er langsam die Stirn.
„In vier Tagen? Für wie
viele Objekte von welchem Wert?“
Der Captain zögerte.
Aber er antwortete, weil er es musste, da er schliesslich Alex um Hilfe
bat und nicht umgekehrt: „Drei Objekte zu je hunderttausend amerikanischen
Dollars.“
Diesmal konnte er sich die
Reaktion nicht mehr verkneifen und er fragte: „Hunderttausend Dollar? Sind
Sie wahnsinnig? Objekte mit solchem Wert werden nicht einfach gestohlen!“
Mirankov zuckte mit den Schultern,
unberührt von Alex‘ Überraschung. „Das ist aber geschehen. Dreihunderttausend
Dollar liegen in Ihren Händen, wenn Sie den Auftrag annehmen. Keine
Sorge, Sie werden dafür auch ausreichend bezahlt.“
Er lächelte leicht. Kunstwerke
mit so viel Wert waren schon eine Herausforderung, vor allem weil dazu
noch das Leben von zwanzig oder mehr Männern und Frauen auf dem Spiel
stand. Ausserdem war es eine offizielle Organisation, die ihn hier um Hilfe
bat. Wenn er ihr helfen konnte, würde er auch von anderen legalen
Organisationen Aufträge bekommen. Es war die beste Werbung, die er
kriegen konnte. Er biss sich überlegend auf die Lippen.
„Es gibt da nur noch ein kleines
Problem. Ich weiss nicht, wo sich Judy Dexter und ihre Bande im Moment
befindet.“
Der Captain winkte ab. „Wir
beobachten sie rund um die Uhr. Sie brauchen sich keine Sorgen darüber
zu machen.“
Alex zuckte mit den Schultern
und meinte: „Ich habe noch nicht zugesagt. Ausserdem, warum wollen Sie
ausgerechnet mich? Wie Sie sehen können, bin ich nicht gerade in Topform
und ich bräuchte dringend wieder einmal ein bisschen Schlaf.“
Mirankov nickte verständnisvoll.
„Sie wissen genauso gut wie ich, dass Sie der Beste in Ihrem Job sind,
auch wenn Sie nicht in Topform sind, wie Sie sagen. Ich kann versuchen,
eine Verlängerung einzuholen. Vielleicht einen oder zwei Tage. Sie
könnten sich einen Tag ausruhen und dann mit dem Job beginnen.“
Er nickte. Ein Tag sollte
reichen, um seinen Schlaf nachzuholen und die Wunden würden sich bis
dahin wenigstens schliessen. „Okay, ich mache es, aber nur, weil ich mit
dieser Frau noch eine Rechnung offen habe.“
Seine Frau Nora sah ihn entsetzt
an. „Du bringst dich um, wenn du das machst, Alex. Diese Frau ist unberechenbar.
Das hast du doch selbst gemerkt! Du kannst den Auftrag doch nicht wirklich
annehmen wollen. Du bist verletzt und brauchst medizinische Hilfe.“
Er lächelte sie beruhigend
an. „Keine Sorge, Nora. Ich habe nicht vor, mich noch einmal schnappen
zu lassen.“
Mirankov seufzte erleichtert.
„Wir bringen Sie, wenn es Ihnen recht ist, zu unserem Hauptquartier. Dort
bekommen Sie alle restlichen Informationen. Sie können sich ausruhen
und wenn Sie bereit sind, bringen wir Sie zu Judy Dexter.“
Alex war damit einverstanden.
„Würden Sie meine Frau
und meine Tochter nach Hause bringen? Ich möchte nicht, dass sie noch
einmal in eine solche Situation wie eben geraten.“
Bevor Mirankov antworten konnte,
protestierte seine Frau: „Das kommt gar nicht in Frage! Wir bleiben bei
dir, bis du anfängst. Wir gehen jetzt sicher nicht nach Hause!“
Er lächelte leicht und
sah auf den Boden. „Ihr bringt mich und euch selbst in Gefahr, wenn ihr
jetzt mitkommt! Wie kann ich mich konzentrieren, wenn meine wunderschöne
Frau bei mir ist?“ fragte er leise und verführerisch, liess aber keinen
Zweifel zu, dass er es zulassen würde, dass sie bei ihm blieben. Nora
ignorierte das Kompliment, das er ihr gemacht hatte.
„Aber in ihrem Hauptquartier
droht dir noch keine Gefahr“, meinte Jessica, die sich wieder ein bisschen
von ihrem Schrecken erholt hatte.
Alex kniete sich vor ihr nieder
und sah sie sanft an. „Es ist nicht so, dass ich euch nicht bei mir haben
möchte, ganz im Gegenteil, aber ich muss mich vorbereiten und es würde
euch dort auch gar nicht gefallen. Ich komme in spätestens fünf
oder sechs Tagen wieder nach Hause und dann machen wir alle zusammen Ferien,
okay?“
Jessica seufzte und auf einmal
lächelte sie mit glänzenden Augen. „Muss ich in dieser Zeit in
die Schule?“
Alex grinste auch. „Nein,
dein Urlaubsgesuch ist ja noch bis Ende Woche. Also kannst du zu Hause
noch ein bisschen Ferien machen, okay?“ Sie nickte, er stand auf und sah
zu Nora hinunter.
Sie zuckte mit den Schultern.
Wenn es Jessica egal war, nach Hause zu gehen, ging sie eben auch mit.
Er wandte sich wieder zu Mirankov.
Dieser sagte: „Wir werden
Ihre Frau und Ihre Tochter gleich mit dem Jet zu Ihnen nach Hause bringen.
In zwei Stunden sind sie sicher.“ Er winkte zwei Wachen zu und diese gingen
zum Jet, um ihn wieder startklar zu machen. „Wollen Sie, dass sie bewacht
werden? Es könnte sein, dass Dexter sie als Geiseln zurückholt.“
Aber Alex schüttelte
den Kopf. Nein, das war nicht Judys Art. Sie würde keine Geiseln holen.
Mirankov zuckte mit den Schultern
und sagte zu Nora und Jessica: „In ein paar Minuten können Sie starten.
Sie können schon einsteigen.“
Nora stand auf und lächelte
Alex an. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. „Ich
wünschte, du würdest es nicht tun“, flüsterte sie.
Er sah sie beruhigend an und
küsste sie. „Es ist mein Job, Nora. Wir haben schon ein paar Mal darüber
diskutiert.“
Sie nickte und fragte dann:
„Wann wirst du endlich auf mich hören?“
Sie wartete seine Antwort
nicht ab, sondern ging mit schnellen Schritten hinaus.
Jessica sah ihn an und meinte
dann sarkastisch: „Sie wird es überleben. Komm‘ bald wieder zurück,
Daddy.“ Sie umarmte ihn und diesmal achtete sie ebenfalls darauf ihn nicht
zu fest zu drücken.
„Pass ein bisschen auf deine
Mutter auf, Jessi“, flüsterte er.
Sie nickte, ging ein paar
Schritte, drehte sich noch einmal um, winkte und rannte dann zum Flugzeug,
wo ihre Mutter mit roten Augen auf sie wartete.
Er drehte sich um. Die Tür
wurde hinter ihm verschlossen und gleich darauf war ein ohrenbetäubendes
Rauschen zu hören, das aber bald wieder aufhörte, als der Jet
das Flugzeug verlassen hatte.
„Warum macht dieser Auftrag
nicht einer Ihrer Einheit? Sie sind doch ein Geheimdienst, oder?“ fragte
er schliesslich und versuchte seine Frau zu vergessen. Er liebte sie wie
wahnsinnig und könnte es nicht ertragen, sollte ihr etwas zustossen.
Mirankov nickte. „Das schon.
Aber ich fürchte, diese Angelegenheit wird nicht ganz legal ablaufen
und da wir verpflichtet sind, alles auf legalem Weg zu machen, muss ein
Ausstehender miteinbezogen werden.“
Alex sah aus dem Fenster den
Lichtern des Jets durch das Fenster nach. Der Captain stellte sich neben
ihn.
„Sie sollten Ihre Familie
für einen Augenblick vergessen. Sie werden sicher zu Hause ankommen,
darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“
Er nickte leicht. „Ich weiss.
Ich frage mich nur, warum sie sich ausgerechnet heute nicht an meine Anweisungen
gehalten haben. Nora sagte, sie wollten einkaufen gehen, aber in dieser
Gegend, in der Judy Dexter Quartier war, gibt es keine Einkaufshäuser.
Warum sollte sie dann also in die Gegend gehen, wo sie mich in Gefahr brachte?“
Mirankov musterte ihn, schien
aber wenig erstaunt zu sein. „Sie meinen, Ihre Frau hat Sie angelogen?“
Das stritt Alex heftig ab.
„Nein, sie würde mich nie anlügen. Warum sollte sie das tun?
Vielleicht war es eine Notlüge oder so etwas. Vielleicht ist ihre
Neugierde mit ihr durchgebrannt.“ Er wandte sich vom Fenster ab.
„Ich denke nicht, dass es
so war“, sagte da Mirankov plötzlich.
Alex drehte sich überrascht
zu ihm. „Was meinen Sie damit?“
Der Captain zuckte leicht
mit den Schultern. „Ich möchte Ihrer Frau nichts unterstellen, Mr.
Garcia, wirklich nicht, aber bevor wir Sie engagieren wollten, haben wir
natürlich Ihre Akten geprüft, und auch die Ihrer Familie. Dabei
haben wir ein paar Hinweise gefunden, dass Ihre Frau nicht ganz so unschuldig
ist, wie sie sich gibt.“
Alex wurde immer verwirrter.
Was sollte das denn heissen? Was meinte er damit: Sie ist nicht so unschuldig,
wie sie sich gibt?
Mirankov öffnete eine
Schublade im Gestell und holte eine Akte hervor. „Das ist die Akte Ihrer
Frau. Sie hat in ihrer Vergangenheit für eine Gruppe namens LOTFA
gearbeitet zu haben, was soviel heisst wie ‚Lovers of the Fine Art‘; Kunstliebhaber
also. Sie war kaum volljährig, als sie da angefangen hat.“
Alex spürte, wie ihm
langsam alles klar wurde, worauf Mirankov hinauswollte.
„Sie glauben, dass das alles
.. kein Zufall war? Dass ...?“ Er schüttelte vor dieser schrecklichen
Erkenntnis den Kopf. „Nein, das würde Nora nicht tun. Das glaube ich
nicht! Sie würde mich nicht verraten.“
Mirankov war aber davon überzeugt,
dass er recht hatte. „Diese LOTFA-Organisation hat damals viele wertvolle
Kunststücke gestohlen. Eine Zeitlang geriet sie in den Hintergrund,
als ob sie aufgelöst worden wäre. In letzter Zeit wurden aber
wieder vermehrt Kunstgegenstände gestohlen, aber noch keine Gruppe
hat sich dazu bekannt. Es ist durchaus möglich, dass es die LOTFA
ist, die auch uns unsere Objekte gestohlen hat. Wenn es so ist, dann ist
es bestimmt kein Zufall, dass Ihre Frau heute dort aufgetaucht ist.“
Alex schüttelte ungläubig
den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Würde seine Frau ihn verraten
für ein paar alberne Kunstwerke? Anderseits, warum war sie sonst dort?
Noch etwas fiel ihm ein, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Judy Dexter wusste nicht,
wer ich bin. Sie sagte, es sei reines Glück gewesen, dass man sie
gefangennehmen konnte. Sie hätten meine Jacke gefunden mit dem Taschenmesser,
auf das Jessi ein Herz gekritzelt hatte. Es war aber gar nicht in der Jacke.
Ich weiss genau, dass ich es gebraucht hätte, es aber nicht gefunden
habe.“
Ihm wurde plötzlich schmerzlich
klar, dass seine eigene Frau ihn verraten hatte. Sie hatte mit Judy zusammengearbeitet
und sich einen schönen Plan ausgedacht, wie sie ihn am Besten überlisten
konnten, damit es wirklich so aussah, als sei alles purer Zufall. Sie hatte
ihn verraten, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mirankov musterte ihn besorgt,
denn dieser starke, selbstbewusste Geheimagent wurde vor seinen Augen zu
einem geschlagenen Mann. „Es ist alles nur ein Verdacht, Mr. Garcia“, versuchte
er ihn zu beruhigen, „Es kann auch sein, dass Ihre Familie auch gefoltert
wurde und Judy nach diesen Details gesucht hatte, um die Geschichte zu
erfinden. Vielleicht wusste sie Ihren Namen schon lange bevor Sie ihn sagten.“
Natürlich, diese Version
wäre auch, aber mit der anderen wurde vieles klarer. Nora war in letzter
Zeit oft weggegangen, ohne ihm zu sagen, wohin sie ging. Sie erfand immer
Ausreden, doch er verzieh es ihr, weil er sie liebte. Wenn sie zurückkam,
war es immer Nacht und sie wurde von einem schwarzen, kleinen Bus gebracht.
Sie trug dann zwar keine schwarze Kleidung, aber in ihrem Schrank hingen
schwarze Jeans und ein schwarzer Pullover, die aber nie da waren, wenn
sie weg war. Obwohl sie ihm erzählte, dass sie schwarz eine ganz schreckliche
Farbe fände.
Alex setzte sich und starrte
vor sich hin. Konnte das wirklich wahr sein? Könnte es sein, dass
sie noch immer für diese LOTFA arbeitete und ihn verriet? Nur für
ein paar Kunstwerke? Eigentlich dürfte er ja gar nicht erst auf den
Verdacht kommen, so dass sie dieses Spiel immer weiter spielen konnte,
aber sie hatte nicht mit Mirankov gerechnet. Der machte ihr jetzt einen
Strick durch die Rechnung. Warum hatte er es selbst nicht gemerkt? War
er blind gewesen, weil er seine Frau liebte? Es war ja ein bekanntes Sprichwort,
dass Liebe blind machte.
„Sie wussten, dass meine Frau
etwas mit Judy Dexter macht. Warum haben Sie mich über Ihren Plan
aufgeklärt, während sie auch da war und alles hören konnte?
Sie wird bestimmt gleich ihre Freunde bei der LOTFA anrufen und sagen,
dass sie sich vorbereiten sollen. Der ganze Plan wird scheitern.“
Mirankov setzte sich vor ihn
auf einen Stuhl. „Ich weiss, aber die LOTFA ist nicht ungefährlich,
wie Sie sicher selber gemerkt haben. Wenn ich Ihre Frau hinausgeschickt
hätte, wäre sie wahrscheinlich auf den Gedanken gekommen, dass
ich etwas weiss und hätte alles daran gesetzt, um mich - und vielleicht
auch Sie - umbringen zu lassen.“
Alex starrte ihn ungläubig
an. „Sie würde mich umbringen lassen wollen? Das glaube ich nicht.
Das würde sie nicht tun!“
Mirankov zuckte ungerührt
mit den Schultern. Er kannte Alex‘ Frau nicht und konnte darum objektiv
nachdenken. Und aus seiner Sicht würde sie alles tun, um ihre Identität
zu schützen. „Vielleicht lässt sie Sie nicht umbringen, aber
sie wird auf jeden Fall etwas unternehmen, um Sie aufzuhalten. Sie sollten
sich also vorsehen, wenn Sie wieder hineinzukommen versuchen.“
Alex nickte langsam. Er musste
sich an den Gedanken gewöhnen, dass seine Frau ihn vielleicht gar
nicht mehr liebte, sondern er nur noch ein Mittel zum Zweck war. Er hatte
ihr immer alles von seinen Aufträgen erzählt, bis ins kleinste
Detail, weil er ihr vertraute. Sie war einfach so an Informationen herangekommen,
die man sonst für viel Geld kaufen musste. Das war vermutlich der
einzige Grund, warum sie ihn nicht schon längst verlassen hatte.
Er straffte sich langsam,
verdrängte die Gedanken an sie und fragte: „Wie lange brauchen wir
noch bis zu Ihrem Stützpunkt?“
„Noch ungefähr fünf
Minuten. Dann gehen wir runter und Sie können sich ausruhen“, antwortete
Mirankov und war erleichtert darüber, dass sich Alex scheinbar wieder
gefasst hatte.
Er stand auf und holte aus
einem Schrank einen Pullover heraus, der sehr warm und bequem aussah.
„Sie können den anziehen.
In Russland ist es selten so warm, dass man ohne einen Pullover herumlaufen
könnte.“ Alex nickte dankend und zog ihn über seine brennenden
Wunden an.
„Sind Sie verheiratet, Mr.
Mirankov?“ fragte er nach einer Weile.
Dieser nickte und wusste schon,
was die nächste Frage war, bevor Alex sie stellte.
„Können Sie sich vorstellen,
dass Ihre Frau Sie an den Feind verraten würde?“
Mirankov schüttelte den
Kopf. „Nein, das könnte ich mir nicht.“
Alex seufzte leicht. „Ich
mir auch nicht.“
Der Lieutenant klopfte ihm
freundschaftlich und aufmunternd auf die Schultern. „Vielleicht stimmt
ja alles auch nicht. Es könnte ja sein, dass sie wirklich nicht mehr
bei der LOTFA ist und das alles ein blöder Verdacht ist.“
Alex schüttelte leicht
den Kopf und stand wieder auf. Das Flugzeug neigte sich nach unten und
durch das Fenster konnte er schon die vielen Lichter von Moskau erkennen.
Sie waren irgendwie beruhigend, gleichzeitig aber auch warnend. Sie ermahnten
ihn davor, etwas Überstürztes zu denken, aber auch davor, leichtsinnig
zu sein und zu glauben, es sei alles nur ein Verdacht, der zwar begründet,
aber sonst total unrealistisch war. Und es schien ihm, als habe er schon
immer irgend etwas gewusst, habe es aber bis jetzt verdrängt und es
nicht wahrhaben wollen.
Das Flugzeug setzte mit einem
leichten Ruck auf dem Boden auf und hielt gleich darauf an.
Mirankov und Alex stiegen
hinaus und wurden schon von einer schwarzen Limousine erwartet. Sie sprachen
auf dem Weg zum Hauptquartier kein Wort. Nicht nur, weil Alex seinen Gedanken
nachhing, sondern auch, weil er fast einschlief. Die bequemen Polstersessel
luden ihn ein sich zurückzulehnen, einzuschlafen und alles zu vergessen.
Schläfrig rappelte er sich auf, als sie endlich ankamen und liess
sich von Mirankov in das riesige Gebäude durch die fast ausgestorbenen
Büros in einen Wohnteil führen.
„Dieses Zimmer wurde für
Sie zur Verfügung gestellt. Fühlen Sie sich wie zu Hause“, erklärte
ihm Mirankov mit einer alles umfassenden Handbewegung.
Alex nickte dankend und sah
sich um. Es war ein richtiges kleines Appartement. Es hatte eine Nische
mit einer Küche, ein Teil als Wohnraum und ein Schlafzimmerteil. Neben
der Küche hatte es ein Badezimmer, das nicht sehr gross, aber mehr
als ausreichend war.
Mirankov nickte ihm freundlich
zu und schloss die Tür hinter sich. Alex unterdrückte einen Seufzer.
Er zog sich aus und legte sich auf das weiche Bett. Am liebsten würde
er einfach hier liegen bleiben und nie mehr aufstehen, vor allem nicht
um zu Judy Dexter zu gehen. Warum hatte er nur eingewilligt? Das war doch
völlig hirnrissig, etwas im Geheimen zu planen, wenn die Spionin direkt
daneben sitzt! Er wusste noch nichts von seiner Frau. Er fragte sich, was
passieren wird, wenn er sie deswegen zur Rede stellte? Würde sie alles
abstreiten? Oder würde sie es zugeben und zu der harten, kalten Frau
werden, die sie in Wirklichkeit sein musste, wenn sie bei der LOTFA arbeitete?
Würde sie vielleicht sogar versuchen, ihn umzubringen? Das glaubte
er nicht; das wollte er nicht glauben. Nur weil er herausgefunden hatte,
wer sie wirklich war, würde sie ihn sicher nicht gleich umbringen.
Wahrscheinlich würde sie sich von ihm scheiden lassen und auf Nimmerwiedersehen
verschwinden, aber das war jetzt auch nicht mehr so schlimm. Sie war nicht
mehr die Frau, die er noch vor wenigen Stunden geliebt hatte. Und auch
wenn sie es abstreiten würde, er konnte sie nie mehr so lieben, wie
er es einmal getan hatte, denn sie hatte ihn angelogen und ihm verschwiegen,
dass sie bei der LOTFA gearbeitet hatte.
Wusste es seine Tochter auch?
Wusste sie, wer ihre Mutter war? War sie etwa auch schon in dieses Netz
verstrickt? Freiwillig oder hatte ihre Mutter sie dazu gezwungen? Nein,
das konnte er nicht glauben. Bestimmt wusste Jessica überhaupt nichts
davon, und Nora hatte sie schon mehr oder weniger gezwungen zu diesem Haus
zu gehen. Wahrscheinlich hatte Nora Jessi irgendwie überredet.
Er starrte die Decke an und
nahm den Schmerz der Wunden an seinem als willkommene Ablenkung auf. Wie
würde Judy Dexter reagieren, wenn er wiederkam und erneut versuchte,
ihr etwas wegzunehmen, das ihr eigentlich gar nicht gehörte? Bestimmt
wusste sie unterdessen, dass er kommen würde. Was würde sie also
tun? Sie hatte gesagt, das nächste Mal würde sie nicht mehr so
gnädig sein. Wenn er sich erwischen liess, würde sie ihn töten?
Oder versuchte sie es wieder mit Folter und Schmerzen, um noch ein paar
Informationen aus ihm herauszupressen? Vielleicht wollte sie ihn ja auch
zu Tode foltern, um ihm die letzte Lektion seines Lebens zu erteilen. Dieser
Frau traute er das zu.
Er fand es sowieso ein Wunder,
dass sie ihn nicht gleich getötet hatte. Sie sah zwar wie eine sanfte,
wunderschöne Frau aus, aber er hatte geglaubt erkannt zu haben, dass
sie in Wirklichkeit tief in ihrem Innern stark, hart und kalt war, bereit
für eine Sache zu töten. Dann hatte er eine Weile lang geglaubt,
er habe sich in ihr getäuscht, weil sie ihn nicht tötete und
jetzt wusste er nicht mehr, was er denken sollte und was wirklich war.
Vielleicht hatte sie ihn nicht getötet, weil seine Frau ein Mitglied
der LOTFA war. Konnte es sein, dass Nora ein gutes Wort für ihn eingelegt
hatte, weil sie ihn nach fünfzehn Jahren Ehe doch noch mochte, wenn
vielleicht auch nicht mehr liebte? Hatte sie ihm vielleicht das Leben gerettet?
Müsste er ihr dafür dankbar sein?
Es war nur ein schwacher Trost
zu glauben, sie liebe ihn immer noch, denn jetzt, da er wusste, wer sie
wirklich war, konnte er sich nicht daran hindern, sie darauf anzusprechen,
wenn er sie wiedersah. Dadurch würde ihre ganze Ehe den Bach hinunter
fliessen wie ein verwelktes Blatt im Herbst. Sie würde nie mehr ein
gutes Wort für ihn einlegen. Das konnte er dann nicht mehr von ihr
erwarten. Vielleicht würde sie Judy Dexter sogar zustimmen, wenn diese
sie fragte, ob er umgebracht werden soll. Sie hatte sich solche Mühe
gegeben, fünfzehn Jahre lang zwei Frauen zu spielen, da würde
sie einem Spielverderber wie ihm bestimmt nicht verzeihen; einmal ganz
davon abgesehen, ob er ihr verzeihen würde, sollte sie es tun.
Er schob diese Gedanken energisch
beiseite. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, was passieren
würde, denn er wusste nicht, was wirklich war und was nicht. Langsam
spürte er den Schlaf kommen und nahm ihn dankbar hin.