Statist in Hongkong

Inside ATV, 2

Nachdem der Agent John mir keine Hoffnung auf einen kurzfristigen Job bei Golden Harvest machen konnte, folgte ich einem Tip des Part-Time-Schauspielers und erfahrenen Komparsen Robert und stellte mich dem Besitzer des Garden Hostels vor. Seine erste Frage nach schwarzen Damenschuhen konnte ich bejahen und mit einem musternden Blick versprach er mir sofort Bescheid zu sagen, falls eine Statistin gesucht würde. Nach drei Tagen war es dann so weit. Er fragte "Brauchst Du einen Job?" Ich antwortete: "Ja, na klar" und alles war gebongt.

Um 14:00 Uhr wartete eine Horde teils betont cool, teils aufgeregt wirkender Europäer auf den ATV-Direktagenten Ricky Chan. Dieser, von gestandenen Komparsen hinter vorgehaltener Hand auch Tricky Ricky genannt, denn er ist als altes Schlitzohr bekannt dafür, ahnungslose Statisten übers Ohr zu hauen, kam erst mit halbstündiger Verspätung. Sofort verfrachtete er die für ihn wichtigeren Frauen in ein Taxi zur ATV-Sendezentrale, um dann später mit den "unwichtigeren" Männern nachzukommen, wo wir alle nach einigem hin und her mit provisorischen Studioausweisen ausgestattet wurden.

Die Studios am Clearwater Bay:
Eingang zum Studiogelände, das Tor nach Hong Kong Babylon. Die ersten Schritte sind voll banger Erwartungen.

Von dort ging es gemeinsam im überfüllten Studiobus zu den eigentlichen Filmstudios am Clearwater Bay, die sich in einer ansonsten kaum besiedelten Gegend, wie ein Kuhfladen aus Baracken vor einer Satellitenstadt gigantischer Wolkenkratzer ausbreiten. An der Security vorbei, gelangten wir über verschiedene Sets in die Requisite, wo die Männer in Anzüge und zwei der Frauen in Kostüme gesteckt wurden, danach hieß es ab zum Bürsten und Kämmen in die Garderobe.

So kommt der Zopf an den Kopf
Hier konnten wir beobachten, wie zwei emsige, leicht mollige Maskenbildnerinnen den ausschließlich großen, breitschultrigen und barbrüstigen Schauspielern der historischen Fernsehserie "Magic Crane, Mystic Needle" einzelne lange Strähnen in die Haare wirkten und zu Zöpfen flochten, während diese sich selbst mit geschickter Hand schminkten: Make up auflegten und die Augen großzügig mit Kajal nachzeichneten. Die Frisuren der kleinen, zierlichen Schauspielerinnen waren weit aufwendiger. Die Basis ist ein schwarzes Kopftuch mit daraus hervorlugenden eng am Kopf anliegenden Haarwellen und ein Zopf, der wie bei den Männern aus einzeln hinzukommenden Haarsträhnen geflochten wird. Danach geht es aber erst richtig los: Haarsträhnen kommen an die Seiten, Haarduts nach oben, die dann mit Haarteilen aller möglichen und unmöglichen Formen (Haarschleifen!), bunten Bändern, glitzerndem Schmuck und dem wieder gelösten Zopf zu den unterschiedlichsten Frisurenkreationen geflochten, gebunden und gesteckt werden. Am Ende wimmelt es in der Garderobe von kleinen Prinzessinnen mit komplizierten Haarkronen. Nur ihre Stimmen klingen ganz und gar nicht prinzessinnenhaft. Wir bleiben unbeachtet in der Ecke.

Die Studiokantine
Des Wartens müde, übersiedelten wir nach einer Stunde in die Kantine, in der es leider keine Speisekarte auf englisch, dafür aber gleich mehrere auf chinesisch gab. Pech, aber nicht schlimm, denn mit Zeigen auf die Teller essender Akteure können wir uns schnell verständlich machen Die Nudelsuppen, besonders aber die verschiedensten Sandwiches waren wirklich o.k. Trotz eifrigem Herumspürens nach rechts und links konnten wir keinen auch nur halbwegs bekannten Filmstar ausmachen. Schade, ich hätte so gerne 'mal den langhaarigen Bösewicht der neuen Fernsehserie "City Swordsman" in echt gesehen.

Der Mann mit dem Herz aus Eisen
Am Set "unserer" Fernsehserie um einen gefühllosen Geschäftsmann und Gangster "Der Mann mit dem Herz aus Eisen" warteten schon zwei Chinesen. So lümmelten auch wir uns in die Sessel des recht abgenutzt wirkenden Reiche-Leute-Clubs und registrierten interessiert, wie ein Handwerker mit etwas Farbe den schwarzen Flügel in einen weißen umwandelte. Da muß jedes Musikerherz leiden, doch es handelte sich lediglich um eine Attrappe. Nachdem die letzten Aufbauarbeiten erledigt sind, verschwinden die Handwerker. Nebenan beginnen die Dreharbeiten zu einer Arztserie, doch bei uns bleibt es still.

Die Minuten dehnen sich zu Stunden, zu Ewigkeiten ereignislosen Wartens, die ersten von uns schlafen ein. Plötzlich, nach fünf Stunden geht es los. Neu hinzukommende Chinesen erteilen Befehle, alles redet kantonesisch, während wir in der Hektik verwirrt herumstehen. Die beiden Däninnen werden auf ihre Plätze gerückt, andere, so auch ich, vom Set gescheucht. Nach einer halben Stunde sind die ersten zwei Shots fertig und es folgt eine Stunde Dinnerpause. Bei ATV kann man wirklich fett werden: ständig Pausen, nur weiß man nie, wie lange.

Beim Dreh
Sobald die Dreharbeiten weitergehen, herrscht nur noch Hektik und dabei wird man wieder mager. Plötzlich spricht niemand mehr englisch. Für jede Einstellung müsssen wir uns umgruppieren, damit der Club belebter erscheint. Dabei sind wir kaum im Bild zu sehen. Meist gibt es extreme Naheinstellungen der chinesischen Hauptdarsteller. Nur am Rand oder hinten sieht man ein paar Haare oder Körperteile der Extras: Füße, Schultern, Ohren. Zweimal durfte ich aus dem Bild gehen, mal von vorne nach hinten, dann von links nach rechts. Wenn es hochkommt, sind wohl gerademal meine Beine - natürlich in schwarzen Damenschuhen - in der Endfassung zu sehen.

Nach stundenlangem Warten endlich beim Dreh: Ein Blick über die Schulter des Kameramanns auf den sogenannten Reiche-Leute-Club. Auf Film sieht er nicht mehr so schäbig aus.

Agent Tricky Ricky war ganz begeistert von den beiden langhaarigen Däninnen, eine blond, die andere brünett und hat sie sofort in seine Kartei aufgenommen. Das führte einen Briten aus Macao dazu, sie umgehend zu warnen: "Seid vorsichtig! Erst ist er nett, dann will er euch für blue movies (Pornos) verpflichten." Damit begann er eine Reihe von Horrorstories über überfallene und ausgeraubte Touristen, fiese chinesische Geschäftemacher aus der Unterwelt, und von Statisten, die nach den Dreharbeiten mitten in der Einöde zurückgelassen werden. Wir hielten ihn für einen paranoiden Spinner.

Rückweg
Das änderte sich, als wir nach Drehschluß um 0:30 tatsächlich mitten in der nächtlichen Einöde standen. Der letzte Bus war vor einer halben Stunde gefahren, der nächste sollte erst wieder in drei Stunden fahren. Wir blieben zusammen wie eine Herde verlorener Schafe und machten uns auf den Weg Richtung Hauptstraße. Dort fanden wir eine ebenfalls verwaiste Bushaltestelle, nicht einmal ein Taxi kam in der nächsten halben Stunde vorbei. Plötzlich tauchte wie ein Wunder ein privater Kleinbus auf. Kurzerhand stellten wir uns auf die Straße und hielten der Wagen an. Gott sei Dank sprach einer der Extras kantonesisch und konnte einen Gruppenpreis mit dem Fahrer aushandeln, der sich überreden ließ uns zurück in die bewohnten Gegenden Hongkongs zu fahren. Nach einer Stunde waren wir wieder in Tsimshatsui und ich konnte beginnen, meine Sachen für den Rückflug um 9:00 zu packen.
Anja Böhnke

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Noch zur Sache: Die Erfahrungen mit Statisten und Agenten in Hongkong machte ich im Oktober 1992 sowie im März/April 1994. Der geschilderte Dreh fand im April 1994 statt. Erstveröffentlichung: Die Kleine Mechthild Nr. 11 und 12, August und September 1994. © Anja Böhnke.