Revolution und Konterrevolution in der modernen Kultur

Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die am weitesten emanzipierende Veränderung von der Gesellschaft und dem Leben, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung durch geeignete Aktionen durchzusetzen. Es ist gerade unsere Angelegenheit, bestimmte Aktionsmittel anzuwenden und neue zu erfinden, die auf dem Gebiet der Kultur und der Lebensweise leichter zu erkennen sind, aber mit der Perspektive einer gegenseitigen Beeinflussung aller revolutionären Veränderungen angewandt werden Das, was man Kultur nennt, spiegelt in einer gegebenen Gesellschaft die Organisationsmöglichkeiten des Lebens wider, es deutet aber auch auf sie hin Grundsätzlich wird unsere Epoche durch die Verspätung der politischen revolutionären Aktion gegenüber der Entwicklung der modernen Produktionsmöglichkeiten gekennzeichnet, die eine höhere Organisation auf Weltebene verlangen. Wir erleben eine wesentliche Krise der Geschichte, in der das Problem der rationellen Beherrschung der neuen Produktivkräfte und der Schaffung einer Zivilisation auf Weltebene jedes Jahr deutlicher gestellt wird. Doch hat die Aktion der internationalen Arbeiterbewegung, von der der Umsturz der ökonomischen Infrastruktur der Ausbeutung als Vorbedingung abhängt, nur lokale Halberfolge erzielt. Der Kapitalismus erfindet neue Kampfformen - Marktplanung, Erweiterung des Distributionssektors, faschistische Regierungen -, stützt sich auf die entarteten Arbeiterführungen und vertuscht durch verschiedene reformistische Taktiken die Klassengegensätze. So konnte er bisher die alten gesellschaftlichen Verhältnisse in der großen Mehrheit der hochentwickelten Länder aufrechterhalten und folglich weiterhin einer Sozialistische Gesellschaft die für sie unerläß1iche materielle Basis entziehen. Dagegen haben die unterentwickelten oder kolonisierten Länder, die seit mehr als zehn Jahren massenweise einen einfacheren Kampf gegen den Imperialismusaufgenommen haben, sehr wichtige Erfolge erzielt. Diese verschärfen die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft und fördern, besonders im Fall der Chinesischen Revolution, eine Erneuerung der gesamten revolutionären Bewegung. Diese Erneuerung kann sich nicht auf Reformen in den kapitalistischen oder antikapitalistischen Ländern beschränken, sie wird im Gegenteil überall Konflikte in Gang setzen, die die Machtfrage stellen werden.

Die Zersplitterung der modernen Kultur wurde auf der Ebene des ideologischen Kampfes durch den chaotischen Paroxysmusk dieser Antagonismen erzeugt. Die neuen, sich zur Zeit definieren den Begierden haben keinen Stützpunkt für ihre Formulierung: zwar ermöglichen die Mittel der Epoche ihre Verwirklichung, aber die rückständige wirtschaftliche Struktur ist nicht imstande, diese Mittel zur Geltung zu bringen. In der gleiche Zeit hat die Ideologie der herrschenden Klasse jede Kohärenz verloren, durch die Entwertung ihrer aufeinanderfolgenden Weltanschauungen, die sie zum historischen Indeterminismus neigen läßt; durch die Koexistenz von chronologisch abgestuften und prinzipiell feindlich gesinnten reaktionären Denkweisen wie z. B. dem Christentum und der Sozialdemokratie; gleichfalls durch die vermischten Beiträge aus mehreren, dem zeitgenössischen Westen fremden Zivilisationen, deren Werte erst seit kurzer Zeit anerkannt werden. Das Hauptziel der Ideologie der herrschenden Klasse ist folglich die Konfusion.

In der Kultur - wenn wir dieses Wort gebrauchen, lassen wir ständig die wissenschaftlichen oder pädagogischen Aspekte der Kultur beiseite, wenn auch die Konfusion offensichtlich auf der Ebene der großen wissenschaftlichen Theorien oder der allgemeinen Unterrichtsauffassungen spürbar ist; wir bezeichnen mit diesem Wort eine aus der Ästhetik, den Gefühlen und Sitten zusammen gesetzte Gesamtheit, die Reaktion einer Epoche auf das alltägliche Leben in der Kultur laufen die teilweise Annektierung der neuen Werte und die absichtlich anti-kulturelle Produktion mit den Mitteln der Großindustrie (Roman, Film), eine natürliche Folge der Verdummung der Jugend in Schule und Familie, als konfusionistische, konterrevolutionäre Verfahren parallel. Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluß, nachdem sie sie sterilisiert hat ihr gelingt es sogar, die subversiven Individuen zu benutzen: durch Verfälschung ihrer Werke, wenn sie tot sind und schon zu Lebzeiten durch die gesamte ideologische Konfusion, indem sie sie mit einer ihrer mystischen Lehren, mit denen sie Handel treibt, wie mit einer Droge narkotisiert.

So besteht einer der Widersprüche der Bourgeoisie in ihrer Liquidierungsphase darin, das Prinzip der geistigen und künstlerischen Kreation bestehen zu lassen, diesen Schöpfungen gleich entgegenzutreten, um sie dann doch zu benutzen. Sie muß nämlich den Sinn für Kritik und Forschung bei einer Minderheit aufrechterhalten, allerdings unter der Bedingung, daß diese Tätigkeit auf streng zerstückelte, utilitaristischen Fächer hin orientiert und jede gesamte Kritik und Forschung ferngehalten wird. Auf dem Gebiet der Kultur bemüht sich die Bourgeoisie darum, die in unserer Epoche für sie gefährliche Neigung zum Neuen auf bestimmte harmlose und konfuse, heruntergekommene Formen der Neuheit abzulenken. Durch die Handels Mechanismen, die die kulturelle Tätigkeit beherrschen, werden die Avantgarde Tendenzen von den Fraktionen getrennt, die sie unterstützen können, obwohl sie schon durch die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse beschränkt werden. Die Leute, die sich innerhalb dieser Tendenzen ausgezeichnet haben, werden im allgemeinen auf individueller Ebene um den Preis der obligatorischen Verleugnung akzeptiert: Kernpunkt der Debatte ist immer wieder der Verzicht auf eine Gesamtforderung und die Akzeptierung einer fragmentarischen Arbeit, die verschieden interpretiert werden kann. Das verleiht dem Ausdruck selbst der "Avantgarde", der letzten Endes immer wieder von der Bourgeoisie gehandhabt wird, etwas Verdächtiges und Lächerliches.

Der Begriff selbst der kollektiven Avantgarde ist mitsamt dem mit enthaltenen militanten Aspekt das neue Produkt der historischen Bedingungen, die gleichzeitig die Notwendigkeit eines kohärenten revolutionären Programms im kulturellen Bereich und die des Kampfes gegen die Kräfte nach sich ziehen, die die Entwicklung dieses Programms verhindern. Solche Gruppierungen werden dazu gebracht, einige durch die revolutionäre Politik erzeugte Organisationsmethoden auf ihr Tätigkeitsfeld zu übertragen und von nun an kann ihre Aktion nicht mehr ohne Verbindung mit einer Kritik der Politik verstanden werden. In dieser Hinsicht gibt es einen nennenswerten Fortschritt vom Futurismus, Dadaismus und Surrealismus bis zu den nach 1945 entstandenen Bewegungen. Jedoch findet man in jedem dieser Stadien denselben universalistischen Willen zur Veränderung, sowie dieselbe schnelle Zersplitterung, wenn die Unfähigkeit, die wirkliche Welt tief genug zu verändern, einen defensiven Rückzug auf die theoretischen Positionen selbst bewirkt, deren Unzulänglichkeit gerade an den Tag gebracht worden ist.

Der Futurismus, dessen Einfluß sich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg von Italien aus ausbreitete, nahm die Haltung der Zerrüttung von Literatur und Kunst auf, die zwar zahlreiche Form Neuheiten mit sich brachte, aber nur auf eine äußerst schematische Anwendung des Begriffs eines durch die Maschinen erzeugten Fortschritts gegründet war.

Der kindisch technische Optimismus des Futurismus verschwand mit der Zeit des bürgerlichen Wohlbefindens, die ihn getragen hatte. Vom Nationalismus zum Faschismus brach der Italienische Futurismus zusammen ohne je zu einem vollständigen Verständnis seiner Zeit zu gelangen. Der in Zürich und New York von Flüchtlingen und Deserteuren aus dem ersten Weltkrieg gegründete Dadaismus wollte die Ablehnung aller Werte der bürgerlichen Gesellschaft verkörpern, deren Bankrott so glanzvoll zutage getreten war. Seine gewalttätigen Manifestationen im Deutschland und Frankreich der Nachkriegszeit richteten sich hauptsächlich auf die Zerstörung der Kunst und des Schreibens sowie in geringerem Maß auf einige Verhaltensweisen (siehe z. B. die absichtlich schwachsinnigen Vorstellungen, Reden und Spaziergänge Seine historische Rolle ist es, dem herkömmlichen Verständnis der Kultur den tödlichen Stoß versetzt zu haben. Die fast sofortige Auflösung des Dadaismus wurde durch seine völlig negative Definition notwendig. Es ist aber sicher, daß der dadaistische Geist einen Teil aller Bewegungen bestimmt hat, die auf ihn gefolgt sind, und daß sich ein historisch dadaistischer Aspekt der Negation in jeder späteren konstruktiven Position wiederfinden wird, solange die sozialen Verhältnisse nicht abgeschafft worden sind, die die Wiederholung von verfaulten Strukturen erzwingen, deren geistiger Prozeß völlig beendet ist. Die Gründer des Surrealismus, die in Frankreich an der Dada-Bewegung teilgenommen hatten, waren darum bemüht, das Feld einer konstruktiven Aktion zu bestimmen, indem sie von der moralischen Revolte und dem äußersten Verschleiß der traditionellen Kommunikationsmittel ausgingen, die durch den Dadaismus an den Tag gelegt wurden. Der Surrealismus ging von einer poetischen Anwendung der Freudschen Psychologie aus und übertrug die von ihm entdeckten Methoden auf die Malerei, den Film und einige Aspekte des alltäglichen Lebens; dann, in einer verschwommenen Form, auch sehr weit darüber hinaus. Denn es kommt für ein Unternehmen solcher Art nicht darauf an, absolut oder relativ Recht zu haben, sondern für eine gewisse Zeit erfolgreich zum Katalysator der Begierden einer Epoche zu werden. Die durch die Liquidierung des Idealismus und einen kurzfristigen Anschluß an den dialektischen Materialismus gekennzeichnete Periode des Fortschritts des Surrealismus endete kurz nach 1930, aber sein Zerfall wurde erst mit dem Ende des zweiten Weltkrieges offenbar. Der Surrealismus hatte zu dieser Zeit schon in einer größeren Zahl von Ländern Fuß gefaßt. Er hatte außerdem eine Disziplin eingeführt, deren durch kommerzielle Erwägungen oft gemäßigte Strenge nicht überschätzt werden darf, die aber eine wirksame Kampfmaßnahme gegen die konfusionistischen Mechanismen der Bourgeoisie darstellte. Das surrealistische Programm ist mit seiner Behauptung der Souveränität der Begierde und der Überraschung und seinem Vorschlag einer neuen Anwendung des Lebens viel reicher an konstruktiven Möglichkeiten als man allgemein annimmt.Sicher hat der Mangel an materiellen Möglichkeiten den Umfang des Surrealismus stark eingegrenzt. Aber das spiritistische Ende seiner ersten Führer und vor allem die Mittelmäßigkeit der Epigonen führen zwangsläufig dazu, die Ursache für die Negation der Weiterentwicklung der surrealistischen Theorie im Ursprung dieser Theorie selbst zu suchen.

Der an der Wurzel des Surrealismus liegende Irrtum ist die Idee des unendlichen Reichtums der unbewußten Phantasie. Der Grund für den ideologischen Mißerfolg des Surrealismus besteht darin, die Wette eingegangen zu sein, das Unbewußte sei die endlich entdeckte große Lebenskraft; weiter darin, daß er die Geschichte der Ideen dementsprechend überprüft und sie nicht weitergeführt hat. Wir wissen schließlich, daß die unbewußte Phantasie arm und die automatische Schrift eintönig ist, sowie daß eine ganze Art von "Ungewöhnlichkeit", die von weitem die unveränderliche surrealistische Attitüde zur Schau trägt, außerordentlich wenig überraschend ist. Jede formale Treue gegenüber diesem Phantasiestil führt letztlich zu etwas zurück, das den modernen Bedingungen des Imaginären genau entgegengesetzt ist: zum herkömmlichen Okkultismus. Wie stark der Surrealismus von seiner Hypothese über das Unbewußte abhängig geblieben ist, kann man an der Arbeit der theoretischen Vertiefung messen, die von der zweiten surrealistischen Generation versucht wurde: Callas und Mabille verknüpfen alles mit den beiden aufeinanderfolgenden Aspekten der surrealistischen Praxis des Unbewußten - der erste mit der Psychoanalyse und der zweite mit kosmischen Einflüssen. Praktisch ist die Entdeckung der Rolle des unbewußten eine Überraschung und eine Neuigkeit gewesen, aber kein Gesetz für zukünftige Überraschungen und Neuigkeiten. Das hatte schließlich auch Freud entdeckt, als er schrieb: "Alles das, was bewußt ist, nützt sich ab. Das, was unbewußt ist, bleibt unverderblich. Ist es aber einmal befreit worden, wird es nicht auch wieder zerfallen? "

Indem der Surrealismus einer scheinbar irrationalen Gesellschaft entgegen trat, in der der Bruch zwischen der Wirklichkeit und den immer noch lautstark verkündeten Werten bis zum Absurden getrieben wurde, benutzte er das Irrationale gegen sie, um ihre oberflächlichen logischen Werte zu zerstören. Der Erfolg des Surrealismus hat viel zu der Tatsache beigetraten, daß die Ideologie dieser Gesellschaft in ihrem modernsten Aspekt eine strenge Hierarchie künstlicher Werte aufgegeben hat, wiederum aber ganz offen das Irrationale und bei derselben Gelegenheit auch das benutzt, was vom Surrealismus übrig geblieben ist. Vor allem muß die Bourgeoisie einen neuen Anfang des revolutionären Denkens verhindern. Sie ist sich des gefährlichen Charakters des Surrealismus bewußt gewesen. Jetzt, da sie ihn in dem üblichen ästhetischen Handel auflösen konnte, stellt sie mit Gefallen fest, daß er den äußersten Punkt der Zerrüttung erreicht hatte. So pflegt sie eine Art Sehnsucht nach ihm und bringt gleichzeitig jede neue Forschung in Verruf, indem sie sie automatisch auf das surrealistische Schon-da-Gewesene zurückführt - d.h. auf eine Niederlage, die für sie von niemandem wieder in Frage gestellt werden kann. Die Ablehnung der Entfremdung in der Gesellschaft der christlichen Moral hat einige Menschen zum Respekt vor der völlig irrationalen Entfremdung der primitiven Gesellschaften gebracht - das ist alles. Wir müssen weiter voran gehen und mehr Rationalität in die Welt bringen - das ist die Vorbedingung, um ihr die Leidenschaft zu bringen.

Nächstes Kapitel: Die Auflösung als höchstes Stadium des bürgerlichen Denkens

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