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Viele Mitglieder der S.I. kannten in keiner Weise die Zeit, in der wir sagten, daß „seltsame Boten durch Europa reisen und weiter; sich treffen, unglaubliche Instruktionen überbringen" - („I. S.", Nr. 5, Dezember 1960). Jetzt, wo solche Instruktionen nicht mehr unglaublich sind, sondern komplexer und präziser werden, scheiterten diese Genossen fast überall dort, wo sie sie zu formulieren und zu verteidigen hatten; und mehrere zogen es sogar vor, es darauf erst gar nicht ankommen zu lassen. Neben denjenigen, die in der Tat niemals wirklich in die S.I. eingetreten waren, gab es zwei oder drei andere, die sich in ärmeren, aber ruhigeren Jahren verdient gemacht hatten, die, von dem Erscheinen selbst der von ihnen gewünschten Epoche völlig verbraucht, in der Tat aus der S.I. ausgetreten waren, aber ohne es eingestehen zu wollen. Somit mußten wir feststellen, daß mehrere Situationisten sich nicht einmal vorstellen konnten, was es hieß, neue Ideen in die Praxis einzuführen, und umgekehrt die Theorien an Hand der Tatsachen neu zu schreiben; das war es jedoch, was die S.I. fertiggebracht hatte.

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Daß einige der ersten Situationisten es verstanden haben, zu denken, Risiken auf sich zu nehmen und zu leben, oder daß unter den vielen, die verschwunden sind, mehrere durch Selbstmord oder in den Heilanstalten geendet sind, konnte sicher nicht durch Erbfolge auf jeden derjenigen, die zuletzt gekommen waren, den Mut, die Originalität und den Sinn für das Abenteuer übertragen. Die mehr oder weniger vaneigemistische Idylle – „Et in Arcadia situ ego" - deckte durch eine Art juristischen Formalismus der abstrakten Gleichheit das Leben derjenigen, die ihre Qualität weder in der Teilnahme an der S.I. noch in irgendetwas ihrer persönlichen Existenz bewiesen haben. Indem sie diese noch bourgeoise Konzeption der Revolution aufnahmen, waren sie nichts als die Bürger der S.I. Sie waren in Wirklichkeit in allen Lagen ihres Lebens die Männer der Zustimmung; in der S.I. glaubten sie ihr Heil dadurch zu finden, daß sie alles in das schöne Zeichen der geschichtlichen Negation stellten; doch sie hatten sich damit begnügt, diese Negation selbst stillschweigend gutzuheißen. Die, die nie „ich" und „du" sagten, sondern immer „wir" und „man", befanden sich häufig noch unterhalb des politischen Aktivismus, während die S.I. von Anfang an ein sehr viel weitergestecktes und tiefergehendes Projekt war als eine bloß politische revolutionäre Bewegung. Zwei Wunder trafen zusammen die ihnen der Ordnung der Welt gemäß in ihrer diskreten, aber stolzen Ausdruckslosigkeit begründet erschienen: die S.I. sprach, und wurde von der Geschichte bestätigt. Die S.I. mußte alles für diejenigen sein, die in ihr tatenlos waren; und die selbst anderswo nicht viel erreichten. So stützten einander sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formen des Nichtvorhandenseins in der beschaulichen Einheit, die auf der Exzellenz der S.I. basierte; und die auch die Exzellenz dessen garantieren sollte, was an ihrer übrigen Existenz am deutlichsten mittelmäßig war.18 Die Trübsinnigsten sprachen von Spiel, die Resigniertesten sprachen von Leidenschaft. Dies wenn auch kontemplative, Zugehörigkeit zur S.I. sollte als Beweis genügen, denn anders wäre niemand auf die Idee gekommen, ihnen Glauben zu schenken. Obgleich viele Beobachter, Polizisten oder anderes die die unmittelbare Präsenz der S.I. bei Hunderten von Störaktionen meldeten, die sich überall in der Welt sehr gut ganz allein entwickeln, den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Mitglieder der S.I. zwanzig Stunden am Tag gearbeitet, um den Planeten zu revolutionieren, müssen wir die Falschheit dieses Bildes unterstreichen. Die Geschichte wird im Gegenteil die bedeutsame Ökonomie der Kräfte verzeichnen, durch die es die S.I. verstanden hat, zu tun, was sie tut. Wenn wir also sagen, daß manche Situationisten wirklich zu wenig taten, so ist darunter zu verstehen, daß diese Leute buchstäblich fast nichts taten. Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die gut die dialektische Existenz der S.I. bestätigt: in ihr gab es keinerlei Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der Revolution oder irgendetwas anderem. Die besten Theoretiker unter uns waren stets die besten in der Praxis, und die, die als Theoretiker die traurigste Figur abgaben, standen auch am hilflosesten vor jeder praktischen Frage.

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Die Kontemplativen in der S.I. waren die vollendeten Prosituationisten, denn sie sahen ihre eingebildete Aktivität von der S.I. und von der Geschichte bestätigt. Die Analyse, die wir von dem Prosituationisten, und von seiner sozialen Stellung gemacht haben, trifft voll auf sie zu, und aus denselben Gründen: Träger der Ideologie der S.I. sind alle die, die es nicht verstanden haben, selbst die Theorie und die Praxis der S.I. zu leiten. Die 1967 ausgeschlossenen „Garnautins" stellten den ersten Fall des prosituationistischen Phänomens in der S.I. selbst dar; aber dieses Phänomen hat sich in der Folge noch verbreitet. Die neidvolle Unruhe des vulgären Prosituationisten ersetzten unsere Kontemplativen anscheinend durch den ungestörten Genuß. Doch die Erfahrung ihres eigenen Njchtvorhandenseins, die in Widerspruch zu den Forderungen nach geschichtlicher Aktivität tritt, die in der S.I. vorhanden sind - nicht allein in ihrer Vergangenheit, sondern auch vervielfacht durch die Ausweitung der gegenwärtigen Kämpfe führte zu ihrer ängstlichen Verstellung; bewirkte, daß sie noch übler dran waren als die Prosituationisten draußen. Die Rangordnung, die in der S.I. existierte, war von einem neuen Typ, war verkehrt: die, die sich ihr fügten, verschleierten sie. Sie hofften, in Angst und Sorge vor ihrem drohenden Ende, sie solange wie möglich dauern zu lassen, in fälschlicher Leichtfertigkeit und scheinbarer Unschuld, denn mehrere glaubten auch zu spüren, daß die Zeit für einige geschichtliche Belohnungen kommt; und sie haben sie nicht gehabt.

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Wir waren da, um das Spektakel zu bekämpfen, nicht um es zu regieren. Die Verschlagensten unter den Kontemplativen glaubten, daß die Verbundenheit aller mit der Soiree verlangte, daß ihre Zahl oder, in ein oder zwei Fällen, ihr Ansehen geschont würde. Da, wie überall anders, haben sie sich getäuscht. Dieser „Parteipatriotismus" hat in der wirklichen revolutionären Aktion der S.I. keine Grundlage. -„Die Situationisten sind keine besondere Partei. (...) Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen." ("Avviso al proletariato italiano sulle possibilita presenti della rivolutione Soziale", 19. November 1969) -‚und nie ist die S.I. etwas gewesen, das der Schonung bedarf19; um so weniger in der gegenwärtigen Epoche. Die Situationisten haben sich in einem sehr rauhen Jahrhundert frei eine sehr harte Spielregel gegeben; und sie haben sich ihr normalerweise gefügt. Es galt daher die unnützen Schwätzer hinauszuwerfen, die nur zu sprechen wußten, um über das zu lügen, was sie waren, und um gloriose Versprechen über das zu wiederholen, was sie niemals sein konnten.

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Wenn es der S.I. passiert ist, daß sie als revolutionäre Organisation an sich angeschaut wurde, die die geisterhafte Existenz der reinen Idee der Organisation besitzt, und die für viele ihrer Mitglieder eine äußere Einheit bildete, gesondert von dem, was die S.I. tatsächlich erreicht hat, und zugleich gesondert von dem, was sie persönlich nicht erreicht haben, aber von hoch oben diese widersprüchlichen Wirklichkeiten überdeckte, dann offensichtlich deswegen, weil solche Schauleute weder begriffen haben noch wissen wollten, was eine revolutionäre Organisation sein kann, und nicht einmal, was die ihrige hätte sein können. Dieses Unverständnis wurde seinerseits durch die Unfähigkeit erzeugt, in der Geschichte zu denken und zu handeln, und durch den individuellen Defätismus, der eine solche Unfähigkeit beschämt anerkennt und sie nicht überwinden, sondern verschleiern möchten Diejenigen, die anstatt ihre wirklichen Persönlichkeiten in der Kritik und der Entscheidung über das, was die Organisation in jedem Moment tut und tun könnte, zu behaupten und zu entwickeln, faul die systematische Zustimmung wählten, haben nichts anderes gewollt, als diese Äußerlichkeit durch ihre eingebildete Identifizierung mit dem Ergebnis zu verbergen.

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Die Unwissenheit über die Organisation ist die zentrale Unwissenheit über die Praxis; und wenn sie gewollte Unwissenheit ist, drückt sie lediglich die ängstliche Absicht aus, sich aus dem geschichtlichen Kampf herauszuhalten und dabei trotzdem mit Vorliebe an den Sonn- und Urlaubstagen als unterrichtete und anspruchsvolle Zuschauer abseits spazieren zu gehen. Der Irrtum über die Organisation ist der zentrale praktische Irrtum. Wenn er beabsichtigt ist, zielt er darauf ab, die Massen zu benutzen Wenn nicht, ist er zumindest vollständiger Irrtum über die Bedingungen der geschichtlichen Praxis. Er ist folglich grundlegender Irrtum in der Theorie selbst der Revolution.

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Die Theorie der Revolution ist sicher nicht die alleinige Domäne wissenschaftlicher Kenntnisse im eigentlichen Sinn, und noch weniger hat sie es mit der Herstellung eines spekulativen Werks oder der Ästhetik der Brandrede zu tun, die sich in dem Schein ihrer Lyrik selbst beschaut und findet, daß es bereits wärmer ist. Diese Theorie hat effektive Existenz nur durch ihren praktischen Sieg: hier „müssen die großen Gedanken große Wirkungen haben; sie müssen wie das Licht der Sonne sein, das erzeugt, was es bescheint". Die revolutionäre Theorie ist die Domäne der Gefahr die Domäne der Ungewißheit; sie ist denen verwehrt, die die beruhigenden Gewißheiten der Ideologie wollen, einschließlich der offiziellen Gewißheit, standhafte Feinde jeder Ideologie zu sein.
Die Revolution, um die es geht, ist eine Form menschlicher Beziehungen. Sie nimmt teil an der sozialen Existenz. Sie ist ein Konflikt von universellen Interessen, die die Totalität der sozialen Praxis betreffen, und darin allein unterscheidet sie sich von den anderen Konflikten. Die Gesetze des Konflikts sind ihre Gesetze, der Krieg ist ihr Weg, und ihre Operationen lassen sich eher mit einer Kunst als mit einer wissenschaftlichen Untersuchung oder einer Bestandsaufnahme guter Absichten vergleichen. Die Theorie der Revolution wird nach diesem einzigen Kriterium beurteilt, daß ihr Wissen eine Macht werden muß.

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Die revolutionäre Organisation der proletarischen Epoche wird von den verschiedenen Momenten des Kampfs definiert, in dem sie, jedesmal, erfolgreich sein muß; und sie muß auch, in jedem dieser Momente, darin erfolgreich sein, daß sie keine getrennte Macht wird. Man kann von ihr nicht sprechen, wenn man von den Kräften abstrahiert, die sie hier und jetzt einsetzt, oder von der umgekehrten Aktion ihrer Feinde. Jedesmal, wenn sie zu handeln versteht, vereint sie die Praxis und die Theorie, die ständig auseinander hervorgehen, aber nie glaubt sie, das durch einfache voluntaristische Proklamation der Notwendigkeit ihrer totalen Fusion bewerkstelligen zu können. Wenn die Revolution noch sehr weit entfernt ist, ist die schwierige Aufgabe der revolutionären Organisation vor allem die Praxis der Theorie. Wenn die Revolution beginnt, ist ihre schwierige Aufgabe, mehr und mehr, die Theorie der Praxis; dann aber hat die revolutionäre Organisation ein ganz anderes Gesicht.
Dort sind nur wenige Individuen Avantgarde, und das müssen sie durch den Zusammenhang ihres allgemeinen Projekts beweisen und durch die Praxis, die es ihnen gestattet, es zu kennen und mitzuteilen; hier gehen die Arbeitermassen mit ihrer Zeit, und sie müssen sich in ihr als ihre alleinigen Besitzer behaupten, indem sie den Gebrauch der Totalität ihrer theoretischen und praktischen Waffen beherrschen, insbesondere dadurch, daß sie es ablehnen, irgendeine Macht an eine getrennte Avantgarde zu delegieren. Dort können zehn wirksame Leute für den Beginn der Selbst-Erklärung einer Epoche genügen, die in sich eine Revolution enthält, die sie noch nicht kennt, und die ihr nirgends gegenwärtig und möglich erscheint; hier muß die große Mehrheit der proletarischen Klasse alle Macht innehaben und ausüben, indem sie sich in Form von beschließenden und ausführenden permanenten Versammlungen organisiert, die nirgends auch nur irgendetwas von der Form der alten Welt und den Kräften, die sie verteidigen, fortbestehen lassen.

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Dort, wo sie sich als die Form selbst der sich revolutionierenden Gesellschaft organisieren, sind die proletarischen Versammlungen egalitär, nicht weil sich in ihnen alle Individuen mit dem gleichen Grad geschichtlicher Intelligenz befänden, sondern weil sie gemeinsam wirklich alles zu tun haben, und weil sie gemeinsam alle Mittel dazu besitzen. Die totale Strategie eines jeden Moments ist ihre unmittelbare Erfahrung: dabei haben sie alle ihre Kräfte einzusetzen und sofort auch alle Risiken auf sich zu nehmen. In den Erfolgen und Mißerfolgen des konkreten gemeinschaftlichen Unternehmens, indem sie gezwungen waren, ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen, zeigt sich die geschichtliche Intelligenz ihnen allen.

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Die S.I. hat sich nie als ein Modell der revolutionären Organisation präsentiert, sondern als eine bestimmte Organisation, die sich in einer genau umrissenen Epoche mit genau umrissenen Aufgaben beschäftigt hat; aber selbst insoweit hat sie nicht alles zu sagen gewußt, was sie warm und wußte sie nicht alles zu Seine was sie sagte. Die organisatorischen Irrtümer der S.I. in ihren eigenen konkreten Aufgaben hatten ihre Ursache in den objektiven Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Epoche, und auch in den Subjektiven Unzulänglichkeiten bei unserem Begreifen der Aufgaben einer derartigen Epoche, der Grenzen, auf die wir stießen, und der Kompensationen, die sich viele Individuen auf halbem Weg zu dem geschaffen haben, was sie tun möchten und was sie tun können. Die S.I., die die Geschichte besser als irgendwer sonst in einer anti-geschichtlichen Epoche begriffen hat, hat dennoch die Geschichte zu wenig begriffen.

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Die S.I. war immer anti-hierarchisch gewesen, hat es jedoch fast nie verstanden, egalitär zu sein. Sie hat insofern recht gehabt, als sie ein anti-hierarchisches Organisationsprogramm vertrat und beständig selbst formell egalitäre Regeln befolgte, durch die allen Mitgliedern ein gleiches Entscheidungsrecht zuerkannt wurde und durch die sogar ein heftiger Druck auf sie ausgeübt wurde, von diesem Recht in der Praxis Gebrauch zu machen; aber sie hat insofern sehr unrecht gehabt, als sie die in diesem Bereich angetroffenen, teilweise unvermeidlichen und teilweise auf die Umstände zurückzuführenden Hindernisse nicht besser gesehen und nicht besser zum Ausdruck gebracht hat.

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Die Gefahr der Hierarchie, die in jeder wirklicher Avantgarde zwangsläufig präsent ist, läßt sich geschichtlich am ehesten an den Beziehungen einer Organisation nach außen ermessen, zu den Individuen oder den Massen, die diese Organisation dirigieren oder manipulieren kann. In diesem Punkt gelang es der S.I. in keiner Weise eine Macht zu werden: indem sie Hunderte ihrer erklärten oder möglichen Anhänger draußen ließ, sie oft genug zur Autonomie zwang. Wie bekannt ist, wollte die S.I. stets nur eine sehr kleine Anzahl von Individuen zulassen. Die Geschichte hat gezeigt, daß das nicht genug war, um bei allen ihren Mitgliedern im Stadium einer so weitgehenden Aktion „die Beteiligung an ihrer totalen Demokratie (...)‚ die Erkenntnis und die Selbstaneignung des Zusammenhangs ihrer Kritik (...) in der kritischen Theorie im eigentlichen Sinn und in der Verbindung dieser Theorie mit der praktischen Aktivität" („ Minimumdefinition revolutionärer Organisationen", angenommen von der 7. Konferenz der S.I., Juli 1966) zu garantieren. Diese Beschränkung sollte jedoch vielmehr dazu dienen, die S.I. gegen die verschiedenen Möglichkeiten der Kommandogewalt zu garantieren, die eine revolutionäre Organisation, wenn sie Erfolg hat, außerhalb ausüben kann. Die S.I. mußte sich also weniger deswegen auf eine sehr kleine Zahl von Individuen, deren Gleichheit vermutet wurde, beschränken, weil sie anti-hierarchisch ist; vielmehr war die S.I. gerade deswegen, weil sie nicht mehr als diese sehr kleine Anzahl unmittelbar in ihrer Aktion zum Einsatz bringen wollte, im wesentlichen ihrer Strategie tatsächlich anti-hierarchisch.

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Was die Ungleichheit betrifft, die sich so häufig in der S.I. manifestiert hat, und mehr als je zuvor, als sie ihre jüngste Säuberung nach sich zog. So gerät sie einerseits zur Anekdote, da es sich traf, daß eben die Situationisten, die faktisch eine hierarchische Position akzeptierten, die schwächsten waren: dadurch, daß wir in der Praxis ihr Nichts aufdeckten, haben wir noch einmal den triumphalistischen Mythos der S.I. bekämpft und ihre Wahrheit bestätigt. Andererseits muß daraus eine Lektion gezogen werden, die allgemein für die Perioden avantgardistischer Aktivitäten gilt - die wir gerade erst verlassen -, Perioden, wo die Revolutionäre sich, selbst wenn sie es ignorieren wollen, gezwungen sehen, mit dem Feuer der Hierarchie zu spielen, und nicht alle wie die S.I. die Kraft haben, sich dabei nicht zu verbrennen: die geschichtliche Theorie ist nicht der Boden der Gleichheit, die Perioden der Gleichheit sind leere Blätter in ihr.

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Künftig sind die Situationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall. Alle diejenigen, die es zu sein denken, brauchen lediglich den Beweis für „die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit" ihres Denkens anzutreten, vor der Gesamtheit der proletarischen revolutionären Bewegung, überall dort, wo sie ihre Internationale zu schaffen beginnt; und nicht mehr allein vor der S.I.. Was uns betrifft, so brauchen wir in keiner Weise mehr zu garantieren, daß solche Individuen Situationisten sind oder daß sie keine sind; denn das haben wir nicht mehr Ob ‚ und das war niemals nach unserem Geschmack. Doch die Geschichte ist ein noch strengerer Richter als die S.I. Dagegen können wir garantieren, daß diejenigen keine Situationisten mehr sind, die gezwungen waren, die S.I. zu verlassen, ohne in ihr das gefunden zu haben, was sie in ihr zu finden lang und breit versichert haben - die revolutionäre Verwirklichung ihrer selbst -, und die in ihr folglich ganz normal lediglich den Knüppel gefunden haben, um von ihm geschlagen zu werden. Der Begriff selbst des „Situationisten" wurde von uns lediglich deshalb verwandt, um bei der Wiederaufnahme des sozialen Kriegs eine gewisse Anzahl von Perspektiven und Thesen durchzubringen. Jetzt, wo das geschehen ist, mag dieses situationistische Etikett in einer Zeit, die noch Etiketten braucht, gut für die Revolution einer Epoche bleiben, aber auf ganz andere Weise. Wie im übrigen eine gewisse Anzahl von Situationisten Veranlassung finden mag, sich unmittelbar untereinander zu assoziieren - und zwar zunächst für die aktuelle Aufgabe des Übergangs aus der ersten Periode der von den Massen aufgenommenen revolutionären Parolen zu dem geschichtlichen Begreifen der Gesamtheit der Theorie, und zu ihrer notwendigen Entwicklung -, das werden die Modalitäten des praktischen Kampfes bestimmen, und kein organisatorischer Apriorismus.

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Die ersten Revolutionäre, die zu der jüngsten Krise in der S.I. intelligent geschrieben und sich dem Begreifen ihrer geschichtlichen Bedeutung am besten angenähert haben, haben bisher eine grundlegende Dimension des praktischen Aspekts der Frage vernachlässigt: die S.I. besitzt tatsächlich, aufgrund dessen, was sie getan hat, eine gewisse praktische Stärke, die sie immer nur für ihre Selbstverteidigung benutzt hat, die jedoch, falls andere sie für sich ausnutzen, unser Projekt verderben könnte. Die Anwendung der Kritik, die die S.I. so treffend auf die alte Welt angewandt hat, auf sie selbst ist ebensowenig allein eine Sache der Theorie auf einem Boden, wo unsere Theorie zudem keine Gegner fand: sie ist eine präzise kritisch-praktische Aktivität, die wir unternommen haben, indem wir die S.I. zerschlagen haben. Eine sehr kleine Anzahl von Erfolgsjägern konnte sich beispielsweise, indem sie sich die routinemäßige Unterstützung einiger redlicher Genossen sicherte, die sich allerdings von ihrer Schwäche selbst geleitet wenig scharfsichtig und wenig anspruchsvoll zeigten, daran versuchen, eine Zeitlang die Kontrolle über die S. 1. zu behalten, zumindest als Gegenstand eines Prestige, mit dem sich handeln läßt. Diejenigen, die überall anderswo so wehrlos und unbedarft waren, fanden da ihre einzige Waffe und ihre einzige Bedeutung. Nur das Bewußtsein des Übermaßes ihrer Unfähigkeit hielt sie davon ab, sich ihrer zu bedienen; doch sie konnten sich dazu letzten Endes gezwungen fühlen.

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Die Orientierungsdebatte des Jahres 1970, ebenso wie die praktischen Fragen, die gleichzeitig zu lösen waren, hatten gezeigt, daß die Kritik der S.I., die bei allen eine sofortige prinzipielle Zustimmung fand, nur dadurch wirkliche Kritik werden konnte, daß sie bis zum praktischen Bruch ging, denn der absolute Widerspruch zwischen dem wiederholt bekräftigten Einverständnis und der Paralyse vieler in der Praxis -einschließlich der minimalsten Praxis der Theorie - war das Zentrum selbst dieser Kritik. Nie war in der S.I. ein Bruch so sehr vorauszusehen. Und deshalb war dieser Bruch dringend geworden. Im Verlauf der Entwicklung dieser Debatte sahen sich diejenigen, die die damals vorhandene Mehrheit der Mitglieder der S.I. bildeten eine Mehrheit, die im übrigen formlos, uneinig, untätig und ohne nennenswerte Perspektive war, von einer extremen Minderheit sehr schlecht behandelt. Auf diese Leute konnte man keine große Rücksicht mehr nehmen, ohne Lügen zu müssen. Und bekanntlich muß man „die Menschen sehr rücksichtsvoll behandeln oder beseitigen, denn sie rächen sich für leichte Beleidigungen und für schwere können sie es nicht mehr."

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Es genügte danach zu erklären, daß eine Spaltung notwendig geworden war. Jeder hatte sich für seine Partei zu entscheiden; und jeder hatte übrigens seine Chance, denn das zu lösende Problem lag unendlich tiefer als die ins Auge springende Unzulänglichkeit des einen oder anderen Genossen. Die Tatsache, daß diese erzwungene Spaltung auf der anderen Seite keinen einzigen Spalter erzeugt hat, der sich halten konnte, ändert nichts an ihrem Charakter einer wirklichen Spaltung; sondern bestätigt ihren Inhalt selbst. In der S.I. nahm in dem Maße, wie die Zahl schrumpfte, die Handlungsfähigkeit derjenigen ab, die gerne etwas vom Status quo beibehalten hätten. Die Tatsache selbst, daß das Programm dieser Spaltung darin bestand, nicht mehr die Bequemlichkeit der Situationisten zuzulassen, die nichts von dem durchführten, was sie vorbrachten oder gegenzeichneten, machte es den anderen immer unmöglicher, in derselben Art des Bluffs weiterzumachen, ohne daß sogleich daraus die Schlüsse gezogen wurden. Diejenigen, die nicht die Mittel haben, um für das zu kämpfen, was sie wollen, oder gegen das, was sie nicht wollen, können nur kurze Zeit zahlreich sein.

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Im Gegensatz zu den vorangegangenen Säuberungen, die, unter weniger günstigen geschichtlichen Umständen, bezwecken sollten, die S.I. zu stärken, und die sie jedesmal stärker gemacht haben, bezweckte diese, sie zu schwächen. Es gibt keinen Erlöser: noch einmal war es an uns, das zu zeigen. Die Methode und die Ziele dieser Säuberung wurden natürlich von den revolutionären Elementen außerhalb gebilligt, und zwar ohne jede Ausnahme.
Man wird schnell verstehen, daß das was die S.I. in der jüngsten Zeit getan hat, während der sie ein relatives Schweigen bewahrt hat, und was in den vorliegenden Thesen erklärt wird, einen ihrer wichtigsten Beiträge zur revolutionären Bewegung bildet. Nie hat man uns in die Angelegenheiten, die Rivalitäten und den Umgang der linksradikalsten Politiker und der progressivsten Intelligentsia verwickelt gesehen. Und jetzt, wo wir uns schmeicheln können, unter diesem Gesindel die empörendste Berühmtheit erlangt zu haben, werden wir noch unzugänglicher werden, noch untergründiger. Je bekannter unsere Thesen werden, um so obskurer werden wir selbst sein.

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Die wirkliche Spaltung in der S.I. war eben die, die sich jetzt in der weiten und formlosen Bewegung der heutigen Rebellion vollziehen muß: die Spaltung zwischen einerseits der ganzen revolutionären Wirklichkeit der Epoche und andererseits allen Illusionen über sie.

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Weit davon entfernt, auf andere die ganze Verantwortung für die Fehler der S.I. zu schieben, oder sie mit Hilfe der psychologischen Besonderheiten einiger unglücklicher Situationisten erklären zu wollen, akzeptieren wir diese Fehler als einen Teil des geschichtlichen Unternehmens, das die S.I. geführt hat. Wer die S.I. schafft, wer Situationisten schafft, hat auch ihre Fehler erzeugen müssen. Wer der Epoche zu entdecken hilft, was sie vermag, ist nicht vor den Mängeln der Gegenwart sicherer und an dem unschuldig, was an Verhängnisvollem noch kommen kann. Die ganze Wirklichkeit der S.I. erkennen wir an, und insgesamt freuen wir uns, daß sie das ist.

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Man möge aufhören, uns zu bewundern, als könnten wir über unserer Zeit stehen und möge die Epoche vor sich selbst erschrecken, indem sie sich für das bewundert, was sie ist.

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Wer das Leben der S.I. betrachtet, findet darin die Geschichte der Revolution.
Nichts hat sie schlecht machen können.

Guy Debord,
Gianfranco Sanguinetti