Mein ferner lieber Mensch (Liebesbriefe)
Inhalt: Krankenzimmer Nr. 6 /Die Dame mit dem Hündchen /Eine traurige Geschichte
/Der Student /In der Schlucht /In der Osternacht 7Die Schalmei /Die Steppe /Missius.
Im Hof des Krankenhauses steht ein kleines Seitengebäude, das ein ganzer Wald von
Kletten, Brennesseln und Feuerkraut umgibt. Das Dach ist verrostet, der Schornstein halb
eingestürzt, die Treppenstufen sind verfault und vom Gras überwuchert, vom Kalkbewurf
sind nur noch die Spuren übriggeblieben. Die Hauptfassade ist dem Krankenhaus
zugewandt, die hintere blickt auf das Feld, von dem sie nur der Zaun, in dem Nägel
stecken, trennt. Diese Nägel, deren Spitzen nach oben gerichtet sind, und der Zaun, und
vor allem das Seitengebäude schauen so trübselig und gottverlassen drein, wie bei uns nur
Krankenhäuser und Gefängnisse auszusehen pflegen.
Wenn Sie sich nicht fürchten, sich an den Nesseln zu verbrennen, so folgen Sie mir auf
dem schmalen Pfad, der zum Seitengebäude führt, und sehen wir uns drinnen um. Wir
öffnen die erste Tür und treten in den Hausflur. Ganze Berge alten Gerümpels sind an den
Wänden und neben dem Ofen aufgestapelt: Matratzen, alte, zerlumpte Kittel, Beinkleider,
...
Die Moskauer Schauspielerin Olga Knipper (1868-1959) war 30, als sie den Arzt und
Dichter Anton Tschechow kennenlernte, er war 38 und schon im fortgeschrittenen
Stadium seiner Tuberkulose. Fünf gemeinsame Jahre nur blieben den beiden, in denen sie
häufig getrennt waren. Ihr faszinierender und bewegender Briefwechsel protokolliert die
Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe und außergewöhnlichen Ehe und gewährt zudem
Einblick in das Moskauer Gesellschaftsleben und die Arbeit Tschechows als
Bühnenautor.
Irgendwann habe ich einmal ein Buch von einem Deutschen gelesen, und da war ein
junger Mann, der seiner Braut ein schönes Geschenk machen wollte, und er schenkt ihr
Bücher - von wem? Von Cechov... Weil er ihn höher schätzte als alle berühmten
Schriftsteller... Das ist sehr richtig, ich war betroffen, damals...
(Leo Tolstoi)
Wenn schon angepriesen werden soll, so muß ich unbedingt Eine langweilige
Geschichte nennen, die mir teuerste von Cechovs erzählerischen Schöpfungen, ein ganz
und gar außerordentliches und faszinierendes Werk, das an stiller, trauriger
Merkwürdigkeit in aller Literatur kaum seinesgleichen hat.
(Thomas Mann)
Dies war ein Schriftsteller, der wirklich Charakter hatte, kein ungezügeltes Genie wie
Dostojewski, der einen mitreißt, aber auch erschreckt und verwirrt, sondern jemand, zu
dem sich ein Vertrauensverhältnis entwickeln ließ.
(W. Somerset Maugham)
Cechov, das ist für mich der größte Geist der ganzen Weltliteratur.
(Andrzej Szczypiorski)
Erzählungen II. Die Steppe. Erzählungen aus den mittleren Jahren 1887-1892
Der Fehltritt
Der Kollegienassessor Migujew blieb während seines Abendspaziergangs an einem
Telegrafenmast stehen und seufzte aus tiefstem Herzen. Vor einer Woche hatte ihn an
ebendieser Stelle, als er von seinem Abendspaziergang nach Hause zurückkehrte, das
frühere Stubenmädchen Agnija eingeholt und böse zu ihm gesagt: "Na warte! Dir werd ich
die Suppe versalzen, daß du noch lange an mich denkst! Unschuldige Mädchen zugrunde
richten! Das Kind leg ich dir vor die Tür, und aufs Gericht gehe ich, und deiner Frau
erzähl ich alles ..."
Und sie verlangte, er solle bei der Bank fünftausend Rubel auf ihren Namen einzahlen.
Migujew erinnerte sich daran, seufzte und machte sich des flüchtigen Abenteuers wegen,
das ihm so viele Sorgen und Leiden bereitet hatte und das er von Herzen bereute, aufs
neue bittere Vorwürfe.
Er kam zu seinem Landhaus und setzte sich auf das Treppchen vor der Haustür, um
auszuruhen. Es war genau zehn Uhr, ein Stückchen Mond sah hinter den Wolken hervor.
Auf der Straße und vor den Häusern war keine Menschenseele - die älteren
Sommerfrischler legten sich bereits schlafen, und die jüngeren gingen im Wäldchen
spazieren. Migujew, der sich eine Zigarette anstecken wollte, suchte in beiden Taschen
nach Streichhölzern und stieß mit dem rechten Ellenbogen an etwas Weiches; er sah aus
Langerweile nach, und sein Gesicht verzerrte plötzlich ein solcher Schrecken, als hätte er
neben sich eine Schlange entdeckt. Auf dem Treppchen lag gleich an der Tür ein
längliches Bündel. Es war in etwas eingepackt, das sich wie eine kleine Steppdecke
anfühlte. Das eine Ende des Bündels war ein wenig offen, und der Kollegienassessor
stieß, als er die Hand hineinsteckte, auf etwas Warmes und Feuchtes. Er sprang
erschrocken auf und sah sich wie ein Verbrecher um, der vor der Polizeistreife flüchten
will.
"Hat sie es mir doch tatsächlich vor die Tür gelegt!" stieß er erbittert zwischen den Zähnen
hervor und ballte die Fäuste. "Da liegt er ... der Fehltritt! O Gott!"
Er war vor Angst, Wut und Scham wie gelähmt. Was sollte er jetzt anfangen?
Briefe 1877-1904
Die Dame mit dem Hündchen. Späte Erzählungen 1893 - 1903
In die Dienste dieses Orlow trat ich wegen seines Vaters, eines bekannten Staatsmannes,
den ich für einen ernstzunehmenden Feind meiner Sache hielt. Wenn ich bei seinem Sohn
lebte, so hoffte ich, könnte ich aus den Gesprächen, die ich mit anhören, und aus den
Papieren und Notizen, die ich auf dem Schreibtisch finden würde, in aller Ausführlichkeit
die Pläne und Absichten des Vaters kennenlernen.
Gewöhnlich läutete um elf Uhr vormittags in meinem Dienerzimmer die elektrische Klingel
und kündigte mir an, daß der Herr erwacht sei. Trat ich mit der ausgebürsteten Kleidung
und den geputzten Stiefeln in das Schlafzimmer, saß Georgi Iwanytsch unbeweglich im
Bett, nicht verschlafen, sondern eher vom Schlaf ermattet, starrte auf einen Punkt und
schien keineswegs befriedigt über sein Erwachen. Ich half ihm beim Ankleiden, aber er
fügte sich mir nur ungern, schweigend und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu
nehmen; dann, nach dem Waschen, begab er sich mit nassem Haar und frisch nach
Parfüm duftend zum Kaffee trinken ins Eßzimmer. Er saß am Tisch, trank Kaffee und
blätterte in den Zeitungen; wir beide, das Stubenmädchen Polja und ich, standen ergeben
an der Tür und schauten ihm zu. Zwei erwachsene Menschen mußten mit gespannter
Aufmerksamkeit zusehen, wie ein dritter Kaffee trank, und Zwiebäcke knabberte. Das
war aller Wahrscheinlichkeit nach lächerlich und unsinnig, aber ich sah für mich nichts
Erniedrigendes darin, daß ich an der Tür stehen mußte, obwohl ich ein ebensolcher
Adliger und ein ebenso gebildeter Mensch war wie Orlow.
Bei mir zeigten sich damals Anzeichen einer Schwindsucht, und mit ihr begann etwas, was
vielleicht noch wichtiger war...
Flattergeist. Erzählungen 1888-1892
Ein Untersuchungsrichter erscheint eines Tages in einer Zeitungsredaktion
und bringt ein Manuskript, das er abdrucken lassen möchte. Das Sujet seines Romans sei
nicht neu, Liebe und Mord, sagt er. Der Redakteur liest, er glaubt hinter ein Geheimnis
gekommen zu sein, doch soll der Leser diese Aufzeichnungen des Untersuchungsrichters
selbst zur Kenntnis nehmen, eben jenes Drama auf der Jagd.Cechov schrieb diesen
Roman als Vierundzwanzigjähriger im Jahr 1884.
Die Insel Sachalin
Die größte nichtrussische Briefausgabe des größten russischen Geschichtenerzählers und
Dramatikers; eine Umfassende Auswahl aus der gesamten Korrespondenz des Dichters,
wobei alle russischen, darunter die bisher publizierten Bände der historisch-kritischen
Ausgabe , alle wichtigen ausländischen Editionen und alle bisherigen deutschen
Briefbände zu Rate gezogen wurden.
Aus Gründen, die man jetzt nicht ausführlich darlegen kann, mußte ich mich bei einem
Petersburger Beamten namens Orlow als Diener verdingen. Er war etwa fünfunddreißig
Jahre alt und nannte sich Georgi lwanytsch.
"Ich übernehme es, alle, die Cechov kritisieren, umzubringen - diese stumpfsinnigen,
großmäuligen, schimmmelbedeckten Dunstkenner. Um Cechov zu verstehen, muß man
ganz einfach ein anständiger Mensch sein."Maxim Gorki"Er ist der subtilste Analytiker
menschlicher Beziehungen. Wenn wir diese "Geschichten über Fastnichts" lesen, weitet
sich unser Horizont, und wir gewinnen einen erstaunlichen Sinn für die Freiheit." Virginia
Woolf"Ich bewundere Cechov maßlos - wie wohl jeder, der Geschichten schreibt. Er ist
unnachahmlich."Frank O`ConnorCechov, das ist für mich der größte Geist der ganzen
Weltliteratur."
(Andrzej Szczypiorski)