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Schiiten, neben den Sunniten die kleinere der beiden Hauptgruppen des Islam, die etwa
ein Zehntel aller Muslime ausmacht. Beide Gruppen unterscheiden sich weniger durch ihre
Riten und Gesetze als vielmehr aufgrund ihres Ethos, ihrer Theologie sowie in der Frage
der Rechtmäßigkeit des Imams.
Frühe Schiiten und ihr Ursprung
Der Begriff Schiiten geht auf den
arabischen Begriff Shiat Ali zurück, was soviel bedeutet wie die Anhänger
Ali Ibn Abi Talibs". Ali war der Schwiegersohn
des Propheten Mohammed und vierter Führer (Kalif) der
islamischen Gemeinschaft (Umma), die nach Mohammeds Tod neu gegründet wurde. Die
Sunniten verehren ihn als letzten der vier rechtmäßigen Kalifen".
Wie alle
islamischen Gruppen betrachten auch die heutigen Schiiten ihre Darstellung des Islam als
reinste Form der ursprünglichen Religion Mohammeds. Die ersten Schiiten bekannten sich zu
keinen einheitlichen oder klar abgegrenzten religiösen Zielen. Sie wurden ausschließlich
durch die politische Unterstützung Alis, des Anführers der muslimischen Gemeinschaft,
zusammengehalten, wie auch aufgrund ihrer Opposition gegen diejenigen, die sich ihrer
Ansicht nach gegen ihn auflehnten, wie Muawija (der Begründer der Omaijadendynastie
innerhalb des Kalifats) oder die Charidschiten. Nach Alis
Ermordung 661 n. Chr. suchten einige der Schiiten unter dessen Söhnen
nach dem rechtmäßigen Nachfolger für das Amt des Kalifen. Zwar würden aufgrund dieses
Vorhabens Alis Nachfolger zu Rivalen werden und die schiitischen Anhänger sich in
entsprechende Gruppen aufspalten, die Einheit der Schiiten wäre jedoch zumindest durch
die Aufrechterhaltung des Kalifats im Hause Alis gesichert. Die unterschiedlichen
Glaubensformen der Schiiten, die sie schließlich von den nichtschiitischen Muslimen
abgrenzten, sollten sich allerdings erst viel später herausentwickeln.
Während der
Omaijadenzeit (661-750 n. Chr.) ernannten die Schiiten wiederholt
Nachkommen Alis zu Imamen, die sie als würdige (allerdings
verschmähte) Führer der muslimischen Gemeinschaft ansahen. Vier Grundgedanken fanden bei
den Schiiten allgemeine Anerkennung:
(1) Ali
wurde von Gott zum Imam und rechtmäßigen Führer der (muslimischen wie auch
nichtmuslimischen) Welt erwählt,
(2) die
Existenz des Universums ist durch die Anwesenheit eines lebenden Imams bedingt,
(3) alle
Imame müssen Nachkommen Alis sein,
(4) Ali
und die Imame aus seiner Nachkommenschaft besitzen übermenschliche Fähigkeiten, die
andere Muslime ausschließlich ihren Propheten zugestehen, wie Unfehlbarkeit (Isma),
Wunderkräfte und von Gott verliehene Erkenntnis (Ilm).
Diese Überzeugungen
bilden einen Teil der traditionellen schiitischen Vorstellung des Imams, die bis heute das
Kernstück der meisten schiitischen Gruppen, mit Ausnahme der Zaiditen, geblieben ist und
vom Glauben der Sunniten abweicht. Letztere sehen in dem rechtmäßigen Leiter der
islamischen Gemeinschaft eine gewöhnliche Person, die allerdings außerordentlich
gottesfürchtig und in religiösen Wissenschaften erfahren sein muss, um von anderen
gewöhnlichen Personen gewählt zu werden. Einige Gemeinschaften, z. B. die
Ali-illahis und die Drusen, werden von den Hauptgruppen der Schiiten als so genannte
Extremisten (Ghulat) angesehen. Diese führten die Lehre weiter aus und erklärten
die Imame zu göttlichen Inkarnationen, wodurch sie von den Grundsätzen des Islam
abwichen.
Verschiedene schiitische Gruppen
und Sekten
Da Ali mehrere
Frauen und eine Vielzahl männlicher Nachkommen hatte, gab es auch viele rivalisierende Aliden.
Entsprechend spalteten sich die frühen Schiiten in unterschiedliche Gruppen. Während die
meisten der schiitischen Gruppen die Imame schließlich auf die Nachkommen Alis und dessen
Ehefrau Fatima (die Tochter des Propheten) beschränkten, haben z. B. die
Kaysanis bereits seit frühesten Zeiten die Nachkommenschaft Ibn Hanafiyyas, des Sohnes
einer anderen Ehefrau Alis, anerkannt. Aufgrund der Ernennung eines dieser Kaysani-Imame
machten die frühen Kalifen der Abbasiden ihren Anspruch auf Rechtmäßigkeit geltend.
Über die Frage der
Nachfolge kam es innerhalb einiger Gemeinschaften zu erneuten Teilungen, was zur
Entstehung neuer Richtungen oder sogar neuer Religionen führte.
Zeitgenössische
schiitische Sekten
Zu den bedeutendsten
schiitischen Gruppen der Gegenwart gehören die Imamiten, die Ismaeliten und die Zaiditen.
Die Imamiten, auch als Zwölferschiiten
bekannt, bilden die bei weitem größte schiitische Gruppierung, obwohl ihre Imame nie die
politische Macht der ismaelitischen oder zaiditischen Imame erreicht haben. Sie glauben an
eine Folge von zwölf Imamen, deren letzter angeblich auch heute noch lebt, obwohl er 874
n. Chr. in die Verborgenheit überging. Die Imamiten gelten im Iran seit
dem frühen 16. Jahrhundert n. Chr. als offizielle
Religion, zu der sich die Mehrheit der Bevölkerung bekennt. Stark vertreten ist sie auch
im Nahen Osten und Asien, insbesondere im Irak, in Südlibanon, Indien und Pakistan. Der
Bahaismus, eine Religion, die sich grundsätzlich vom Islam unterscheidet, geht auf den
Babismus zurück, eine Bewegung, die sich im 19. Jahrhundert aus der
Religion der schiitischen Imamiten des Iran entwickelte.
Die Ismaeliten, auch
als Siebenerschiiten oder Batinis bekannt, besitzen heute keinen eigenen Staat.
Ursprünglich erkannten sie bloß die Folge von sieben Imamen an und glaubten, ähnlich
wie die Imamiten, dass der letzte Imam im 8. Jahrhundert in die
Verborgenheit übergegangen sei. Für viele Ismaeliten wurde die Nachfolge nach zwei
Jahrhunderten jedoch wiederaufgenommen. Die Fatimiden, eine von Fatima abstammende
schiitische Dynastie, begründeten in Nordafrika eine Kalifendynastie, gründeten die
Stadt Kairo und herrschten zwei Jahrhunderte lang (909-1171) in Ägypten. Andere
Ismaeliten, wie z. B. die Qaramita, die ihren eigenen Staat in
Bahrain und Oman gründeten, erkannten jedoch keinen Imam der Fatimiden an.
Im 11. Jahrhundert
spaltete sich die schiitische Dynastie in verschiedene Gruppen. Bei einer davon, den
Nisaris, kam es zum Bruch mit den Kalifen von Kairo, woraufhin sie ihren eigenen
unabhängigen Kleinstaat in Iran und Syrien gründeten. Von ihren Feinden wurden sie Assassinen
(arabisch: Haschischgenießer) genannt, wobei diese auf ihren angeblichen Genuss von
Haschisch anspielten. Berichte über die gewagten Mordanschläge der Nisaris, die bis zu
den Kreuzfahrern durchdrangen, verbreiteten sich schließlich in ganz Europa, wobei die
Bezeichnung Assassin" auf einen fanatischen oder bezahlten Mörder übertragen
wurde. Die Imame der Nisaris gelten als Vorfahren des Aga Khan. Dies ist der
offizielle Titel für die Imame der Hodschas, der größten heute bestehenden Gruppe der
Ismaeliten. Den Hodschas zufolge ist der heutige Aga Khan ihr 49. Imam.
Die Tayyibis waren auch eine Splittergruppe der Fatimiden, obwohl ihre Imamenfolge
ebenfalls in der Verborgenheit endete. Viele von ihnen verließen Kairo, um im 12. Jahrhundert
eine Gemeinschaft im Jemen zu begründen. Im 16. Jahrhundert wanderte eine
Gruppe von ihnen nach Indien aus, wo in Bohra eine weitere Gemeinschaft entstand. Die
Bohras, deren Imam auch in Verborgenheit lebt, folgen einem religiösen Leiter, den
absoluten Dai, den sie als einzigen Vertreter des verborgenen Imams und höchste
Autorität in Fragen der Lehre und des Rechtes anerkennen. Die Drusen, die heute
gewöhnlich als nichtislamische Sekte gelten, gehen auch auf eine Splittergruppe der
fatimidischen Ismaeliten des 11. Jahrhunderts zurück.
Die Zaiditen, die nach
Zaid Ibn Ali, ihrem fünften Imam (gestorben 740), benannt wurden, lehnen die
traditionelle schiitische Lehre des Imamats ab. Zaid, der Begründer der zaiditischen
Sekte, focht das Imamat seines quietistischen Bruders Muhammad Al-Baqir (der von den
Imamiten und den Ismaeliten als fünfter bzw. vierter Imam anerkannt wird) an, indem er
gegen die herrschenden Omaijadenkalifen rebellierte. Zaids Forderung bestand darin, dass
ein wahrer Schiite als Nachfahre Alis und Fatimas gewillt sein müsse, seinen Anspruch auf
das Kalifenamt gegen die Unterdrücker zu erkämpfen. Seiner Theorie nach hat ein Imam
keine übermenschlichen Fähigkeiten und ist somit, abgesehen von der Tatsache, dass er
ein Nachkomme Ali Ibn Talibs sein muss, eher mit dem Ideal der sunnitischen Kalifen
vergleichbar.
Die Zaiditen gründeten
ihr eigenes Kalifat und ihren eigenen Staat in Jemen und überlebten seit dem 9. Jahrhundert
bis 1963 zahlreiche Angriffe und Besetzungen durch fremde Mächte. Ein weiterer
zaiditischer Staat wurde im 9. Jahrhundert in Tabaristan, südlich vom
Kaspischen Meer im Iran, gegründet, konnte sich allerdings nicht lange halten und hatte
auch keine eigenen Imame. Wie die Ismaeliten spalteten sich auch von den Zaiditen weitere
Richtungen ab. Die Abspaltungen waren zunächst dadurch bedingt, dass die Zaiditen über
das Verständnis ihrer Imame uneinig waren und später aufgrund unterschiedlicher
gesetzlicher und doktrinärer Standpunkte.
Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der schiitischen Sekten
Sowohl die Imamiten wie
auch die Ismaeliten schreiben ihren Imamen vererbbare übernatürliche Fähigkeiten zu,
wobei ihre Lehren über das Imamat sich nicht unterscheiden. Beide glauben, dass der Koran
neben einer äußeren oder exoterischen (Zahir) auch eine innere oder esoterische
Bedeutung (Batin) besitzt. Infolgedessen bedienen sich beide Richtungen des
Instruments der Exegese (Tawil), d. h., der Deutung der verborgenen
Bedeutung des Korans durch die von Gott verliehene Erkenntnis des Imams. Die Sufis haben
bezüglich des Korans ähnliche Vorstellungen und setzen ebenfalls Tawil ein. Der
einzige Unterschied besteht darin, dass ihre Imame die von Gott erleuchteten (Marifa)
Sufimeister (Shaykhs) sind. Die Imamiten und Isamaeliten werden dazu angehalten,
ihre wahren Überzeugungen aus Gründen der Selbsterhaltung" (Taqiyya)
zu verbergen. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es im Lauf der islamischen
Geschichte häufig gefährlich war, sich zum schiitischen Glauben zu bekennen.
Die Zaiditen wiederum
lehnen sowohl die Auffassungen der Imamiten als auch die der Ismaeliten ab. Ihre Imame
besitzen keinerlei übernatürliche Kräfte, sondern werden lediglich als die Personen mit
den besten Führungseigenschaften sowie als religiöse Gelehrte betrachtet.
Sowohl Imamiten wie
auch Ismaeliten glauben an dieselbe Nachfolge der Imame, und zwar bis zum sechsten, zu
Dschafar As Sadik, obwohl die Isamaeliten gewöhnlich als ersten Imam Alis Sohn Hasan und
nicht Ali selbst betrachten. Beide Richtungen stimmen darin überein, dass die Ernennung
zum Imam durch dessen Vorgänger (Nass) erfolgen muss, wobei sie sich jedoch nicht
einig sind, welcher der beiden Söhne Dschafars von seinem Vater zum Nachfolger ernannt
wurde. Für die Imamiten war es Musa und für die Ismaeliten der ältere, vor
seinem Vater verstorbene Sohn Ismail. Für die Zaiditen, die keinen Nachfolger
ernennen, ist jeder, der die entsprechende Abstammung vorweist, berechtigt, das Amt des
Imams zu beanspruchen, auch wenn er dadurch einem bereits amtierenden Imam den Kampf
ansagen müsste.
Die Imamiten und einige
der Ismaeliten (Qaramitas und Bohras) glauben, dass die Kette der Nachfolge zu irgendeinem
vergangenen Zeitpunkt durch das Eintreten in die Verborgenheit des letzten Imams
unterbrochen wurde, wobei dieser unter Gottes Schutz weiterlebt und am Ende der Zeit als
Mahdi zu den Menschen zurückkehren wird. Die Imamiten und Qaramitas kennen zwölf bzw.
sieben Imame. Hingegen besteht für die Hodschas, den Großteil der heutigen Ismaeliten,
und die Zaiditen die Nachfolge der Imame bis zum heutigen Tag.
Die Autorität und ihre
Ausübung im schiitischen Glauben
Die drei schiitischen
Richtungen haben recht unterschiedliche Auffassungen von der praktischen Ausübung der
religiösen Autorität, obwohl die Theorien der Imamiten und Ismaeliten, wie z. B.
über die Lehre vom Amt der Imame, weitgehend übereinstimmen. Da der Kontakt der Imamiten
zu ihrem Imam seit dem 9. Jahrhundert abgebrochen ist, erfolgte ihre
religiöse Leitung traditionsgemäß durch die Geistlichkeit, d. h. durch
die traditionellen Hüter der von den Vorschriften der Propheten und Imamen abgeleiteten
Schriften.
Unter den Geistlichen
waren es die Rechtsgelehrten (Fuqaha), die sich zu Vertretern der verborgenen Imame
erklärten und als solche allmählich anerkannt wurden. Über mehrere Jahrhunderte hinweg
gelang es eifrigen imamitischen Rechtsgelehrten, sich den Großteil der verschiedenen
religiösen Pflichten und Privilegien anzueignen, die nach dem Amt des zwölften Imams
nicht mehr ausgeübt wurden, wie z. B. die Leitung des Freitaggebets, das
Verteilen und Eintreiben verschiedener Steuern, die Ernennung von Richtern (Qadis),
das Fällen gesetzlicher Entscheidungen in Angelegenheiten, in denen keine
Präzedenzfälle bekannt sind (ijtihad) sowie die Ausfertigung von Rechtsgutachten
(Fatwas). Folglich sind die imamitischen Rechtsgelehrten aufgrund dieser Funktionen zu
großem Wohlstand und politischer Macht gekommen. Seit dem 18. Jahrhundert
hat sich unter ihnen auch eine religiös-politische Machthierarchie herausgebildet. Die
obersten Würdenträger (Ajatollah oder Marja Al-Taqlid) besitzen eine weitaus
größere Autorität als die Rechtsgelehrten der Sunniten, der traditionellen Ismaeliten
oder der Zaiditen. Als kollektives Organ sind sie eher mit dem Sultan oder dem Kalifen der
Sunniten vergleichbar. Nur der absolute Dai" der ismaelitischen Bohras übt
eine größere Autorität aus.
Unterschiede zwischen
Schiiten und Sunniten
Autorität
Im Mittelpunkt des
imamitischen und ismaelitischen Glaubens steht ihre jeweilige Vorstellung von der
Rechtmäßigkeit des Imams, wodurch sie sich von der Autoritätsauffassung der Sunniten
und schiitischen Zaiditen grundlegend unterscheiden. Sowohl die Sunniten wie auch die
Zaiditen lehnen den Glauben an die absolute Macht der Imame ab, insbesondere die
Vorstellung, dass sie sich im Besitz des wissenschaftlichen Gesamtwissens (wie
Rechtswissenschaft, Theologie und Exegese) befinden. Diese absolute Autorität erlaubte es
einigen ismaelitischen Imamen sogar, die Abschaffung des islamischen Gesetzes (Scharia)
zu verkünden.
Gesetz, Ritus und
Theologie
Die im Hadith
enthaltenen Vorschriften, Aussprüche sowie Berichte über das exemplarische Handeln (Sunna)
des Propheten werden von den Muslimen als göttliche Eingebungen angesehen, die zunächst
mündlich (über mehrere Jahrhunderte) und dann schriftlich überliefert wurden. Neben dem
Koran wird der Hadith von den Muslimen als zweithöchste autoritative Schrift
betrachtet. Es existieren eine Vielzahl von Sammlungen, wobei jede islamische Gruppe
bestrebt ist, ihre eigene zu besitzen. Da im Koran nur wenige Vorschriften, Riten und
doktrinäre Stellungnahmen enthalten sind, greifen die meisten Muslime zur Bekräftigung
ihrer Riten, Gesetze und Theologie auf den Hadith zurück.
Im Unterschied zu den
Sunniten glauben die Imamiten und Ismaeliten, dass die Aussprüche und das exemplarische
Handeln ihrer Imame gleichfalls das Ergebnis göttlicher Eingebung sind und somit wie jene
des Propheten (aufgrund ihrer von Gott verliehenen Erkenntnis, Unfehlbarkeit und
Makellosigkeit) auch als Hadith betrachtet werden könne. Auch glauben sowohl
Imamiten wie auch Ismaeliten daran, dass der Hadith seine Gültigkeit nur dann
erhielte, wenn er entweder von Imamen oder echten Muslimen (d. h.
aufrichtigen Schiiten) vermittelt werde. Folglich werden die meisten sunnitischen und
zaiditischen Hadiths zumindest theoretisch als ungültig erklärt. Obwohl die
Sunniten und Zaiditen die imamitischen und ismaelitischen Imame als echte Übermittler des
prophetischen Hadith anerkennen, lehnen sie jedoch den Hadith, der nicht auf
den Propheten, sondern auf einen Imam zurückgeht, entschieden ab. Während die
Auffassungen der Sunniten und Schiiten bezüglich der Übermittlung des Hadith
stark auseinander gehen, gibt es bezüglich seines Inhalts, abgesehen von Fragen zu
Autorität und Theologie, nur geringe Meinungsverschiedenheiten.
Islamisches Gesetz
Bezüglich der Deutung
des göttlichen islamischen Gesetzeskodex (Scharia) weichen Sunniten und Schiiten
kaum voneinander ab. Die wenigen bedeutenden Unterschiede betreffen vorwiegend die Gesetze
hinsichtlich des Erbrechtes und der Rechte der Frau, wobei sich die Imamiten und
Ismaeliten diesbezüglich als liberaler erweisen. Darüber hinaus akzeptieren die Imamiten
als einzige eine nicht auf Lebzeiten geschlossene Ehe (Muta), eine Anschauung, die
sowohl von den Ismaeliten wie auch von den Zaiditen und Sunniten abgelehnt wird.
Rechtswissenschaft und
neu auftretende Fälle
Das zaiditische und
imamitische Recht (Fikh) ist fast identisch mit jenem der Sunniten im Allgemeinen
und dem der schafiitischen Schule im Besonderen. Sowohl die Zaiditen wie auch die
traditionellen Imamiten zitieren dieselben Gesetzesquellen wie die Sunniten, und zwar den
Koran, den Hadith, den Konsens der Gemeinschaft (Ijma) und die sich auf die
menschliche Vernunft gründenden Rechtsgutachten (Ijtihad). Allerdings betrachten
die Imamiten den Konsens als gemeinschaftliche Übereinstimmung mit einem Imam. Das
Rechtsgutachten ist eine Gesetzesquelle für neu auftretende Fälle. Diesbezüglich
unterscheiden sich die Imamiten von den Sunniten bloß darin, dass sie als
Vergleichsmittel zwischen bereits aufgetretenen und neu auftretenden Fällen die deduktive
Beweisführung (Akl) anstatt der analogen (Kijas) einsetzen. Sowohl Sunniten
wie auch Zaiditen und Imamiten betrachten derartige Rechtsgutachten als zeitlich begrenzt
und subjektiv, wobei es zulässig ist, diese offen zu diskutieren (ikhtilaf).
Folglich werden Sunniten, Zaiditen und Imamiten bezüglich der Rechtsgutachten gewisse
Freiheiten eingeräumt.
Hingegen sind die
Rechtsgutachten bei den ismaelitischen Sekten der Hodschas und der Bohras überflüssig,
da sie davon ausgehen, dass ihr Imam (mit unfehlbarer, gottverliehener Erkenntnis
ausgestattet) bzw. ihr absoluter Dai" (in Besitz relativer Unfehlbarkeit und
höherer Erkenntnis als einziger Vertreter des Imams) stets einwandfreie und bleibende
Lösungen finden wird.
Ritus
Die Riten der Schiiten
und der Sunniten weichen in einigen Punkten voneinander ab. Zu den bedeutenden
Unterschieden zählt z. B. die Erweiterung der allgemeinen muslimischen
Glaubensformel (Shahada oder Kalima) durch den Zusatz: wa Ali wali
Allah" (und Ali ist Gottes Freund"). Im Unterschied zu den Sunniten beten
die schiitischen Imamiten nur dreimal anstatt fünfmal täglich und werden aufgefordert,
kleinere Pilgerfahrten (Zijara) zu den Gräbern der zwölf Imame zu unternehmen,
durch die sie sogar die Hadsch, die große islamische Wallfahrt und eine der fünf Säulen
des Islam, ersetzen können.
Während alle drei
schiitischen Gruppen die Ermordung Alis und seines Sohnes, des Imams Husain, betrauern,
haben die schiitischen Imamiten verschiedene Riten bezüglich der beiden Märtyrer
institutionalisiert und heben sich somit von den anderen Schiiten sowie von den Sunniten
ab. Der erste Ritus bezieht sich nur indirekt auf Ali, der auch Walaja oder Tawalla
genannt wird. Um ihren Bund mit ihm zu bekräftigen, verkünden die Imamiten häufig die
offizielle Exkommunizierung (Baraa oder Tabarru) von Alis Rivalen und
ergehen sich in öffentlichen Schmähungen (Sabb) und Beschimpfungen (Lan)
gegen dieselben, die wiederum von den Sunniten verehrt werden, wie z. B.
Mohammeds Witwe Aischa, die ersten drei Kalifen sowie alle Gefolgsmänner des Propheten,
die nicht als Anhänger Alis gelten. Diese Handlungen erreichten ihren Höhepunkt im Iran,
wo die Safaviden Umar-kushan institutionalisierten, die jährliche feierliche
Begehung des Mordes an dem zweiten Kalifen Umar Ibn al-Khattab, wobei dessen Bildnis
verbrannt wurde. Eine derartige Abwendung (und Schmähung) von verehrten sunnitischen
Gestalten wird von den meisten Zaiditen abgelehnt, die in ihren religiös-historischen
Traditionen solche Gestalten weit positiver darstellen.
Der zweite von den
Imamiten eingeführte Ritus ist die jährliche Trauerfeier zu Ehren des Enkels des
Propheten und dritten Imams Husain Ibn Ali Ibn Abi Talib, der bei Karbala zu Aschura, im
Monat Muharram (Tazija) den Märtyrertod starb. Während dieser
ritualisierten Trauerfeiern bekunden imamitische Männer häufig ihr Mitleid, indem sie
ihren Körper geißeln und ihre Stirn mit Rasierklingen aufritzen.
Theologie
Die Imamiten und
Zaiditen orientierten sich an den theologischen Dogmen der Mutasiliten, der
führenden Theologenschule unter einigen sunnitischen Abbasidenkalifen. Im Unterschied zu
den Sunniten, die an die Ewigkeit des Korans glauben und an eine Vorbestimmung der
Menschheitsgeschichte und des Universums, glauben die Imamiten und Zaiditen an den freien
Willen des Menschen und an die zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte Erschaffung des
Korans. Die Ismaeliten wiederum bekannten sich zu einem überarbeiteten und angepassten
Neuplatonismus, einem philosophischen System, das auch von vielen sufistischen Gruppen und
islamischen Philosophen übernommen wurde. Zusammenfassend kann man sagen, dass die
schiitische Theologie, die empfänglicher für philosophische Einflüsse war, mit jener
der Sunniten (Ascharismus und Maturidismus) unvereinbar ist.
Ethos und
Weltanschauung
Da die Schiiten eine
islamische Minderheit darstellen, mussten sie häufig eine Verteidigungsstellung beziehen
und neigten dazu, esoterische Interpretationen zu entwickeln. Von daher besteht eine enge
Beziehung zwischen dem Ethos und der Weltanschauung sowie ihrer politischen Einstellung.
Schiitische Einflüsse
im sunnitischen Glauben
Seit dem Mittelalter
hat der Glaube der schiitischen Imamiten sunnitische Denker und Gruppen entscheidend
geprägt. Unter den Sunniten war die Verehrung der Aliden weit verbreitet, insbesondere
der zwölf Imame der schiitischen Imamiten. Während der Herrschaft der Mongolen
(13. bis 14. Jahrhundert) und der Timuriden (spätes 14. bis 15. Jahrhundert)
war es unter den Sunniten üblich, die zwölf Imame zu verehren, wie z. B.
durch Pilgerfahrten zu deren Gräbern und auch zu denen ihrer eigenen großen Sufimeister
oder sogar durch die Teilnahme an schiitischen Trauerprozessionen. Die Aufgeschlossenheit
der Sufis gegenüber solchen Handlungen beruhte auf der Vorrangstellung Alis, des ersten
Imams, den sie als Vater ihrer Bewegung ansahen. Über den Sufismus wurde schließlich ein
Großteil der schiitischen Gefühlswelt und ihrer Riten auf den traditionellen Glauben der
Sunniten übertragen. Es kam sogar so weit, dass viele sufistische Orden sich von den
Sunniten abkehrten und zu den Schiiten übertraten (wie z. B. die
Kubrawis, Nimatullahis und die Safaviden). Die sunnitische Verehrung der schiitischen
Imame bewirkte jedoch andererseits nicht, dass die Schiiten Persönlichkeiten der Sunniten
huldigten. Sie verstärkten sogar während des Mittelalters ihre öffentliche
Exkommunizierung und Verleumdung.
Trotz ihrer
Unterschiede und wechselvollen Geschichte kam es während der letzten Jahrhunderte
zwischen Sunniten und Schiiten wiederholt zu Bestrebungen, ihre Differenzen zu
überwinden. Im 18. Jahrhundert unternahm der imamitische Herrscher des Iran, Nadir Schah, den
Versuch, die schiitischen Imamiten unter dem Namen Dschafari Madhhab in eine
fünfte Gesetzesschule der Sunniten umzuwandeln, was ihm jedoch nicht gelang. Als die neu
gegründete Regierung der türkischen Republik (Nachfolger des ehemaligen Osmanischen
Reiches) 1922 Gespräche zur Abschaffung des Kalifats aller sunnitischen
Muslime" einleitete, wurden aus Indien zwei Schiiten (ein Imamit und ein Hodscha)
entsandt, um die Interessen beider Gemeinschaften, sowohl der schiitischen wie auch der
sunnitischen, zu vertreten. Ein weiteres interessantes Beispiel war die Sympathiebekundung
einiger Sunniten, die das von dem schiitischen Führer des Iran, Ajatollah Khomeini,
erlassene Todesurteil gegen Salman Rushdie unterstützten.
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