G N O M E N
[ träume ]
Die Mutter lebt wieder und ist bei Luisa. Was so selbstverständlich zu sein scheint, verwirrt Luisa mehr und mehr. Die Mutter ist doch gestorben. Es ist doch alles vorbei, sollte alles vorbei sein, ist sie nicht gestorben? Wenn nicht, wen haben sie dann beerdigt? Sie hat die tote Mutter nicht gesehen, wer weiß... Aber der Arzt hat doch den Tod festgestellt!
Als Iris ihr über den Weg läuft, hält Luisa sie am Arm fest:
"Du, die Mutter ist hier. Sie lebt. Aber der Arzt hat doch den Tod festgestellt?"
Iris weiß auch keine Antwort, dafür noch eine Frage:
"Wieso ist sie eigentlich hier? Das war sie doch sonst auch nicht."
Ja, wieso eigentlich? Hat sie keine eigene Wohnung? Nein, natürlich nicht, sie haben ihre Wohnung doch aufgelöst, schließlich war sie gestorben. Nun ist sie heimatlos. Wenn sie gar nicht gestorben ist, muss sie ja hier sein, das ist logisch.
"Aber wieso, wieso, verdammt noch mal, soll sie denn noch leben, wenn der Arzt doch den Tod festgestellt hat? Haben wir hier etwa einen Wiedergänger?"
Es ist schon Abend, und Luisa wird bewusst, dass sie den ganzen Tag noch nicht im Zimmer der Mutter gewesen ist. Sie hat ihr nichts zu essen gegeben, sie nicht gewindelt, sie muss ja verhungert sein! Wenn es auch falsch ist, dass die Mutter hier ist und lebt, so kann sie sie doch nicht verhungern und vor sich hinvegetieren lassen, das geht nicht. Im Ohr hallt ihr das Wort. Wiedergänger.
Als Luisa ins Zimmer der Mutter tritt, steht die dort in sichtlich kräftigem Zustand vor einem großen Spiegel. Auf der anderen Seite des Zimmers steht schweigend eine Frau mit straff zurückgeknotetem dunklem Haar.
"Das ist ihre Betreuerin", denkt Luisa, "dann ist es ja gut."
Sie schaut die Mutter an und denkt plötzlich: "Fehlt bloß noch, dass sie anfängt zu springen!"
Im gleichen Augenblick strafft sich die Mutter und setzt tatsächlich zu einem Hüpfer an. Luisa kommt ein ungeheuerlicher Gedanke:
"Und wenn sie nun immer jünger und gesünder wird und ich desto älter und kränker?"
Es ist auf einmal sehr kalt im Zimmer.
Luisa steht allein mit der Betreuerin vor dem Haus. Die Frau strahlt eine seltsam unbeteiligte Ruhe aus, spricht nie von selbst. Sie scheint mehr zu wissen. Luisa fragt. Der Arzt und was das alles zu bedeuten habe. Was sie tun solle.
Die Frau antwortet wie jemand, dem schon länger etwas nicht gefällt, der sich mit seiner Meinung nur zurückgehalten hat: "Nun ja, ich frage mich schon lange, wieso Ihre Mutter nicht auch einmal bei Ihrem Bruder sein kann. Oder Sie bringen Ihr bei, selbstständig zu leben."
Über der schwarzen Silhouette der Häuserzeile sieht Luisa die große kalte Mondsichel aufsteigen. Sie beginnt zu weinen. "Das kann ich nicht", schluchzt sie, "dann müsste ich doch schon wieder ständig bei ihr sein, müsste ihr ganz langsam alles beibringen, mit ihr üben. Das ist zu viel für mich, wirklich, ich war doch fünf Jahre für sie da, jetzt kann ich einfach nicht mehr!"
Die Frau nickt mitfühlend. "Das verstehe ich", scheint ihr Nicken zu sagen. "Dann gibt es keine Lösung."