U N D I N E N
[ träume ]
Luisa will trinken. Sie hat schon lange keinen Alkohol mehr getrunken. Sie trägt ein großes Glas Pflaumenkompott ins Zimmer. In ihr Zimmer. Das Pflaumenkompott ist mit Fruchtwein gemischt, sehr weich wird es schmecken, stellt Luisa sich vor. Weich und mild. Sie könnte eine Bowle daraus machen. Eine weiche, funkelnde Pflaumenbowle.
In einem rot lackierten Topf mit gelber Blumenborte mischt Luisa das mit Fruchtwein versetzte Pflaumenkompott mit einer halben Flasche Weißwein. Ein ganzer Topf Pflaumenbowle. Sie nimmt einen großen Schluck und setzt sich an den Schreibtisch. An ihren Schreibtisch. In ihrem Magen breitet sich eine leichte, wohlige Wärme aus, die Gedanken bekommen Flügel, steigen ganz sacht empor, beginnen zu schweben. Die Bowle ist nicht stark, sie wird sich daran nicht betrinken. Nur einen Abend lang schweben.
Plötzlich steht Leon im Zimmer. Mit einer blitzschnellen Bewegung hat Luisa es gerade noch geschafft, den Bowletopf wenigstens mit einer großen Spielkarte zuzudecken. Er steht in der Ecke, die Karte verdeckt ihn fast ganz, Leon muss ihn gar nicht bemerken. Und wenn er ihn bemerkt, muss er sich nicht dafür interessieren. Luisa möchte, dass Leon bald wieder geht.
Aber Leon geht nicht. Er legt sich einfach auf Luisas Bett, deckt sich zu, will schlafen.
"Komm schlafen, das Mädel kommt auch gleich."
Undine wird auch hier schlafen?
"Ja, leg dich hin."
Luisa legt sich hin. Was soll sie machen? Sie will nicht, dass die anderen in ihrem Zimmer schlafen. Aber das kann sie nicht sagen, denn dann würden sie fragen. Sie will nicht antworten müssen. Sie sollen nicht wissen, dass in ihrem Zimmer ein Topf mit Pflaumenbowle steht. Sie würden es nicht verstehen. Sie würden sie ihr wegnehmen.
Als Luisa aufwacht, liegt Undine an sie geschmiegt. Es ist dunkel. In der Dunkelheit leuchtet der rote Topf mit der Karte darauf. Luisa steht vorsichtig auf. Sie sieht die Karte von oben. Es ist eine Lenormand-Karte, die Rückseite einer Lenormand-Karte. Ein graues Rastermuster umgibt zwei Bilder. Eins ist ein rostfarbenes Buch.
Endlose dunkle Stunden liegt Luisa schlaflos auf dem vollgedrängten Bett. Mal ist Leon verschwunden, mal liegt er wieder da. Undine ist immer da, schmiegt sich an sie, geht nicht weg. Endlose dunkle Stunden.
Und dann ist Undine weg. Sie ist gegangen, ist in die Welt hinaus gezogen. Luisa ist mit Leon allein. Sie atmet tief durch. Dann tut sie etwas, was sie noch nie getan hat. Sie sagt zu Leon:
"Komm, lass uns Pflaumenbowle trinken!"
Leon ist überrascht und - natürlich - dagegen. Er macht ihr Vorhaltungen. Du wirst dich betrinken, du sollst doch nicht...
"Mein Gott, das bisschen Bowle, daran kann ich mich gar nicht betrinken! Ist doch nur Wein drin! Und wir sind doch jetzt allein, wir können tun, was wir wollen!"
Leon schwankt. Nun ja, ein großes Glas Pflaumenkompott und eine halbe Flasche Wein...
Nicht ganz, sagt Luisa, das Kompott war schon mit Fruchtwein gemischt. Nun ist Leon strikt dagegen. Du wirst das nicht trinken. Wir werden nichts trinken. Du weißt genau, wie das endet. Wie das endet? Luisa ist es plötzlich gleich, wie irgendetwas endet, Luisa will trinken, allein oder mit der Welt, denn Luisa will schweben, will sich berauschen und schweben und tun, was sie will. Und zwar jetzt.
Mit einem ungekannten, fast perversen Gefühl der Befriedigung, die auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen will, die endlich der ganzen Welt triumphal die eigene Fratze entgegenhält:
"Seht her, das bin ich, das ist mein wahres Gesicht, und ich liebe es, und wie ihr es findet, ist mir egal!"
ist sie auf Leon gesprungen und schreit:
"Ich will mich besaufen, und ich werde mich jetzt besaufen!"
In diesem Augenblick steht Undine in der Tür. Luisa springt vom Bett und bleibt verdattert vor ihr stehen.
"Was machst du denn hier?" fragt sie, noch ganz außer Atem.
Undine zeigt ihre großen, glatten Schneidezähne.
"Ich halte das nicht aus. Das dauert viel zu lange, bis meine Zähne bis zum Rückgrat durchgewachsen sind!"
Luisa spürt, wie eine heiße Welle in ihr aufsteigt. Sie schüttelt fassungslos den Kopf:
"Die Zähne? Wie kommst du denn darauf? Als ob deine Zähne... Was hat die Welt denn mit deinen Zähnen zu tun? Kein Mensch verlangt von dir Zähne am Rückgrat!"
Doch Luisa weiß: Sie wird keine Bowle trinken können, bis Undines Zähne nicht bis zum Rückgrat durchgewachsen sind.