Im
Hause des Onkels gewöhnte sich Karl bald an die neuen Verhältnisse.
Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen,
und niemals musste Karl sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren
lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.
Karls
Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere
Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen,
von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht,
das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang,
brachte Karl immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner
kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen,
wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre?
Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis
der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar
nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause
geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass er keine Heimat
mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war
ganz richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen
hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen
den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Ein
schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach
hin. Was aber in der Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt
gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick
über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich
abgehackter Häuser gerade, und darum wie fliehend, in die Ferne
sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer
sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht
vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr,
der, von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute
Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der
Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte,
wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles
dieses wurde erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht,
das immer wieder von der Menge der Gegenstände verstreut, fortgetragen
und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge
so körperlich erschien, als werde über dieser Straße
eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit
aller Kraft zerschlagen.
Vorsichtig
wie der Onkel in allem war, riet er Karl, sich vorläufig ernsthaft
nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen
und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage
eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar,
und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst
habe, rascher eingewöhne, als wenn man vom Jenseits in die menschliche
Welt eintrete, so müsse man sich vor Augen halten, dass das erste
Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und dass man sich
dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe
man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen
lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die zum
Beispiel, statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten,
tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die
Straße hinuntergesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren!
Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New
Yorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet
und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für
einen, der hier bleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne
in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung
ist. Und tatsächlich verzog der Onkel ärgerlich das Gesicht,
wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal täglich,
und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten, erfolgten, Karl auf
dem Balkon antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infolgedessen
das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach Möglichkeit.
Es
war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte.
In seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte,
wie sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten
Versteigerungen um einen ihm erreichbaren billigen Preis zu kaufen gesucht
hatte, ohne dass es ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre.
Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen,
wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht
zu vergleichen. Er hatte zum Beispiel in seinem Aufsatz hundert Fächer
verschiedenster Größe, und selbst der Präsident der
Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden,
aber außerdem war an der Seite ein Regulator, und man konnte durch
Drehen an einer Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen
der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen
senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder
die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung
hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen, und alles ging, je nachdem
man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war
eine neueste Erfindung, erinnerte aber Karl sehr lebhaft an die Krippenspiele,
die zu Hause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden,
und auch Karl war oft, in seine Winterkleider eingepackt, davor gestanden
und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte,
mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen
der Heiligen Drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem
befangenen Leben im heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen,
als ob die Mutter, die hinter ihm stand, nicht genau genug alle Ereignisse
verfolge; er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken
fühlte, und hatte ihr so lange mit lauten Ausrufen verborgenere
Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras
abwechselnd Männchen machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete,
bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere
Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, nur
an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen
bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Karls
Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Karl mit diesem Schreibtisch
durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Karl einen
ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen, und solche Schreibtische waren
jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug
auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne große
Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der
Onkel nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu
verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der
Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und
die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen,
dass solche Bemerkungen nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch
andererseits sagen musste, dass der Regulator sehr leicht zu fixieren
war, was der Onkel jedoch nicht tat.
In
den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Karl und
dem Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Karl
auch erzählt, dass er zu Hause zwar wenig, aber gern Klavier gespielt
habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte bestreiten
können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Karl war sich dessen
wohl bewusst, dass eine solche Erzählung gleichzeitig die Bitte
um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehen,
um zu wissen, dass der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotzdem
wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage
später sagte der Onkel, fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses,
das Klavier sei eben angelangt und Karl könne, wenn er wolle, den
Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber
dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, denn im Haus
war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein
ganzer Möbelwagen Platz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebte
auch das Piano zu Karls Zimmer hinauf. Karl selbst hätte zwar in
dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren
können, aber da gleich daneben ein Personenaufzug zur Benützung
freistand, fuhr er in diesem, hielt sich mittels eines Hebels stets
in gleicher Höhe mit dem anderen Aufzug und betrachtete unverwandt
durch die Glaswände das schöne Instrument, das jetzt sein
Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne
anschlug, bekam er eine so närrische Freude, dass er, statt weiterzuspielen,
aufsprang und aus einiger Entfernung, die Hände in den Hüften,
das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet
und sie trug dazu bei, sein anfängliches kleines Unbehagen, in
einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich
merkte man auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude
von außen erschien, von eisernen Baubestandteilen nicht das geringste,
und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung
aufzeigen können, welche die vollständigste Gemütlichkeit
irgendwie gestört hätte. Karl erhoffte in der ersten Zeit
viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens
vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung
der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken.
Er klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die lärmerfüllte
Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte,
das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und
auf den finsteren Platz hinausschauen, von Fenster zu Fenster einander
zusingen aber sah er dann auf die Straße, so war sie unverändert
und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes, das man
nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu
kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel,
sagte auch nichts dagegen, zumal sich Karl, auch nach seiner Mahnung,
nur selten das Vergnügen des Spiels gönnte; ja, er brachte
Karl sogar Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch
der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl
nicht zu erklären, als er eines Tages ohne allen Scherz Karl fragte,
ob er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen
wolle.
Natürlich
war das Lernen des Englischen Karls erste und wichtigste Aufgabe. Ein
junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um sieben
Uhr in Karls Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch und bei
den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehen. Karl
sah wohl ein, dass zur Aneignung des Englischen keine Eile groß
genug sei und dass er hier außerdem die beste Gelegenheit habe,
seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte
zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst
das Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß
und Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile
der Gespräche ins Englische hinüberzuspielen, wodurch gleichzeitig
vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste amerikanische
Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Karl seinem Onkel an
einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tiefernst vor Zufriedenheit.
Sie standen damals beide an einem Fenster in Karls Zimmer, der Onkel
sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war, und
schlug im Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig
in die Hände, während Karl aufrecht neben ihm stand und mit
starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je
besser Karls Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der
Onkel, ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen, und ordnete nur
für jeden Fall an, dass bei solchen Zusammenkünften vorläufig
der Englischprofessor sich immer in Karls Nähe zu halten habe.
Der allererste Bekannte, dem Karl eines Vormittags vorgestellt wurde,
war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mensch, den der Onkel
mit besonderen Komplimenten in Karls Zimmer führte. Er war offenbar
einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen, missratenen
Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, dass ein gewöhnlicher
Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen Mannes nicht
ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er dies und als
begegne er dem, soweit es in seiner Macht stand, war um seine Lippen
und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, das
ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.
Mit
diesem jungen Manne, einem Herrn Mack, wurde, unter unbedingter Zustimmung
des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es
in der Reitschule, sei es ins Freie, zu reiten. Karl zögerte zwar
zuerst, seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem Pferd
gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihm
der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes
Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst
darstellten, sagte er schließlich zu. Nun musste er allerdings
schon um halb fünf Uhr aus dem Bett, und das tat ihm oft sehr Leid,
denn er litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während
des Tages aufwenden musste, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem
Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne
der Länge und Breite nach spannte sich das Sieb der Dusche
welcher Mitschüler zu Hause, und war er noch so reich, besaß
etwas Derartiges und gar noch allein für sich , und da lag
nun Karl ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten,
und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen
und endlich eisigen Wassers nach Belieben teilweise oder über die
ganze Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden
Genusse des Schlafes lag er da und fing besonders gern mit den geschlossenen
Augenlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann
öffneten und über das Gesicht hinflossen.
In
der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels
absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während
Mack ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt
erst später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing
erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem
bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht
lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden
Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler
oder was sie sonst sein mochten? Karl aber nützte die Zeit vor
der Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die primitivsten
Vorübungen des Reitens zu betreiben. Es war ein langer Mann da,
der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm hinaufreichte
und der Karl diesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Unterricht
erteilte. Die Erfolge, die Karl hierbei hatte, waren nicht übergroß,
und er konnte sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die er
während dieses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß,
der immer am Türpfosten, meist schlafbedürftig, lehnte. Aber
fast alle Unzufriedenheit mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam.
Der lange Mann wurde weggeschickt, und bald hörte man in dem noch
immer halbdunklen Saal nichts anderes als die Hufe der galoppierenden
Pferde und man sah kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem
er Karl ein Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf
vergehenden Vergnügens wurde Halt gemacht. Mack war in großer
Eile, verabschiedete sich von Karl, klopfte ihm manchmal auf die Wange,
wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war, und verschwand,
ohne vor großer Eile mit Karl auch nur gemeinsam durch die Tür
hinauszugehen. Karl nahm dann den Professor mit ins Automobil, und sie
fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen, denn bei der Fahrt
durch das Gedränge der großen Straße, die eigentlich
direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre
zu viel Zeit verloren gegangen. Im Übrigen hörte wenigstens
diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Karl, deer sich
Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule
zu bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine
sehr einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu
entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch
nach.
Verhältnismäßig
lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Karl auch nur einen
kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, obwohl Karl öfters
darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes,
wie sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar
nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem
Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu
den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern
welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen
Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft,
welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe
riesenhaften Umfangs umfasste und ganz genaue, unaufhörliche telefonische
und telegrafische Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste.
Der Saal der Telegrafen war nicht kleiner, sondern größer
als das Telegrafenamt der Vaterstadt, durch das Karl einmal an der Hand
eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone
gingen, wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und
zu, und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die
nächste dieser Türen, und man sah dort im sprühenden
elektrischen Licht einen Angestellten, gleichgültig gegen jedes
Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband,
das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm
lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer, und nur
die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig
und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er
sehr sparsam, und oft sah man sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher
etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse
Worte, die er hörte, zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen
konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden,
wie der Onkel Karl leise erklärte, denn die gleichen Meldungen,
wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten
gleichzeitig aufgenommen und dann verglichen, sodass Irrtümer möglichst
ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und
Karl aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant
hinein und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten
durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten
Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft,
jeder schloss sich den Schritten des ihm Vorhergehenden an und sah auf
den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen wollte,
oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren
ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
»Du
hast es wirklich weit gebracht«, sagte Karl einmal auf einem dieser
Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden
musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.
»Und
alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du
wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft,
und wenn dort im Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel
und ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten
Lagerhäuser im Hafen, und jener Laden ist das Esszimmer und die
Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.«
»Das
grenzt ja ans Wunderbare«, sagte Karl.
»Alle
Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich«, sagte der Onkel, das
Gespräch abbrechend.
Eines
Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wie gewöhnlich
allein einzunehmen gedachte, und forderte ihn auf, sich gleich schwarz
anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde
teilnehmen würden. Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete,
setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe
durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: »Wirklich ausgezeichnet!«
Zweifellos
gelang das Anziehen besser, als Karl dieses Lob hörte, aber er
war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im
Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch
in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur
Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder
der zweite, wie sich während des Tischgesprächs herausstellte.
Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über
irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer
Karl, durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden.
Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche
Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Karl eine gute
Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und
man Karl still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen,
als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich sattessen müsse,
beugte sich Herr Green zu Karl hin und fragte in dem unverkennbaren
Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im Allgemeinen
nach Karls ersten amerikanischen Eindrücken. Karl antwortete unter
einer Sterbensstille ringsherum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel
ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas
New Yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck
lachten sogar alle drei Herren durcheinander, und Karl fürchtete
schon, einen groben Fehler gemacht zu haben; jedoch nein, er hatte,
wie Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt.
Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein besonderes Gefallen
zu finden, und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen
Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Karl seinen
Sessel nahe zu sich hinschieben, fragte ihn zuerst vielerlei über
seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich,
um Karl wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst
von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen
Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings
nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier, und sein Beruf
hielt ihn in New York den ganzen Tag fest. Karl wurde auch gleich herzlichst
eingeladen, auf dieses Landgut hinauszukommen, ein so frisch gebackener
Amerikaner wie Karl habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von
New York manchmal zu erholen. Karl bat den Onkel sofort um die Erlaubnis,
diese Einladung annehmen zu dürfen, und der Onkel gab auch scheinbar
freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder
auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Karl und Herr Pollunder
erwartet hatten.
Aber
schon am nächsten Tag wurde Karl in ein Büro des Onkels beordert
(der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause),
wo er den Onkel und Herrn Pollunder ziemlich einsilbig in den Fauteuils
liegend antraf.
»Herr
Pollunder«, sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers
kaum zu erkennen, »Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut
mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben.«
»Ich
wusste nicht, dass es schon heute sein sollte«, antwortete Karl, »sonst
wäre ich schon vorbereitet.«
»Wenn
du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch
besser für nächstens«, meinte der Onkel.
»Was
für Vorbereitungen!« rief Herr Pollunder. »Ein junger Mann ist
immer vorbereitet.«
»Es
ist nicht seinetwegen«, sagte der Onkel, zu seinem Gaste gewendet, »aber
er müsste immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen, und Sie wären
aufgehalten.«
»Es
ist auch dazu reichlich Zeit«, sagte Herr Pollunder, »ich habe auch
eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss
gemacht.«
»du
siehst«, sagte der Onkel, »was für Unannehmlichkeiten dein Besuch
schon jetzt veranlasst.«
»Es
tut mir Leid«, sagte Karl, »aber ich werde gleich wieder da sein«, und
wollte schon wegspringen.
Ȇbereilen
Sie sich nicht«, sagte Herr Pollunder. »Sie machen mir nicht die geringsten
Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine Freude.«
»du
versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?«
»Nein«,
sagte Karl, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an, eine
Last zu werden, »ich wusste ja nicht «
»Und
trotzdem willst du wegfahren?« fragte der Onkel weiter. Herr Pollunder,
dieser freundliche Mensch, kam zu Hilfe.
»Wir
werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnung
bringen.«
»Das
lässt sich hören«, sagte der Onkel. »Aber Mack wird dich doch
erwarten.«
»Erwarten
wird er mich nicht«, sagte Karl, »aber er wird allerdings hinkommen.«
»Nun
also?« sagte der Onkel, als wäre Karls Antwort nicht die geringste
Rechtfertigung gewesen.
Wieder
sagte Herr Pollunder das Entscheidende: »Aber Klara« sie war
Herrn Pollunders Tochter »erwartet ihn auch und schon heute Abend,
und sie hat wohl den Vorzug vor Mack?«
»Allerdings«,
sagte der Onkel. »Also lauf schon in dein Zimmer«, und er schlug mehrmals
wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schon bei
der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt:
»Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?«
»Aber!«
rief Herr Pollunder und drehte sich, soweit es seine Dicke erlaubte,
in seinem Fauteuil vor Erstaunen. »Ja darf er denn nicht wenigstens
den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen
früh wieder zurück?«
»Das
geht auf keinen Fall«, erwiderte der Onkel. »Ich kann sein Studium nicht
so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und
für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern
auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und
ehrenden Einladung zu folgen.«
Was
das für Widersprüche sind! dachte Karl.
Herr
Pollunder war traurig geworden. »Für einen Abend und eine Nacht
steht es aber wirklich fast nicht dafür.«
»Das
war auch meine Meinung«, sagte der Onkel.
»Man
muss nehmen, was man bekommt«, sagte Herr Pollunder und lachte schon
wieder. »Also, ich warte!« rief er Karl zu, welcher, da der Onkel nichts
mehr sagte, davoneilte.
Als
er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch
Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte
Karl ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark
als möglich dessen vergewissern, dass Karl nun doch mitfahre. Karl
war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits
Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können.
»Hat
sich der Onkel nicht darüber geärgert, dass ich fahre?«
»Aber
nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt
ihm eben am Herzen.«
»Hat
er es Ihnen selbst gesagt, dass er das Frühere nicht so ernst gemeint
hat?«
»O
ja«, sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, dass er nicht lügen
konnte.
»Es
ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie
zu besuchen, obwohl Sie doch sein Freund sind.«