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Missing Link ist gut strukturiert und trotzdem locker, bietet viele Möglichkeiten zum Mitmachen, ist gehaltvoll und reizt zur Diskussion. Für mich ist Missing Link das derzeit beste und lebendigste deutsche eZine im Netz. Missing Link ist ein von Claudia Klinger herausgegebenes eZine, dem man auf Anhieb anmerkt, daß sich nicht um ein ins Netz gestelltes PapierZine handelt. Missing Link hat sich im Netz entwickelt. Dementsprechend gibt es keine Ausgaben, sondern die einzelnen Rubriken Kommunikation, Philosophie & Leben, Netz-Zeiten, und Human Voices wachsen permanent dynamisch weiter. Neuigkeiten findet man leicht über eine Linkliste auf der Hauptseite. Bevor ich mich den einzelnen Rubriken zuwende, will ich noch erwähnen, daß mir Claudias übersichtliches Layout sehr gut gefällt. Der Titel Missing Link ist keinesfalls so zu verstehen, daß man in diesem Zine die Verknüpfungen nicht finden würde. Vielmehr findet man hier Texte, die man sich schon lange gewünscht hat. Unter den Neuigkeiten auf der Hauptseite befindet sich derzeit (7. 9. 97) ein Link zu einem Cyber-Monolog, in dem die Herausgeberin über die Probleme des virtual past nachdenkt. Es geht darum, daß Netzseiten, emails usw. sich weltweit auf verschiedenen Speichermedien ablagern und jederzeit wieder aktiviert werden können. In der Vergangenheit getätigte Äußerungen kehren aus dem Zusammenhang gerissen zurück und produzieren Erklärungsbedarf, der die emotionale und intellektuelle Energie der Gegenwart einsaugt wie ein schwarzes Loch. Wenn die Technik alles konserviert, sollten wir die Erklärung der Erklärung (usw.) vermeiden und uns damit abfinden, mißverstanden zu werden, scheint mir der Schluß der Autorin zu sein. Andererseits waren aber auch im Vor-Cyber-Zeitalter Richtigstellungen nicht immer erfolgreich. Zerstrittene Ehepaaren waren wohl schon bei den Neandertalern Experten darin, sich Jahrzehnte zurückliegendes Fehlverhalten aus dem Zusammenhang gerissen vorzuwerfen. Und der Geheimdienst sammelte schon immer erfolgreich Daten. Die Frage ist allerdings, ob das Problem durch die Perfektion der Technik eine neue Qualität bekommt. Es könnte sein. Mein Lösungsvorschlag wären Texte mit eingebautem Verfallsdatum. Ein neues Textformat muß also her, damit sich auch kopierte Versionen eines Textes nach angemessener Zeit zersetzen ... In der Rubrik Kommunikation findet sich eine neue Idee zum Mitmachen: das Webgespräch. Die Herausgeberin gibt einen Text vor. Jeder darf sich eine Passage herausgreifen und sie zur Überschrift eines eigenen Textes machen, den er aber auf seinem eigenen Server ins Netz stellt. Claudia fügt in ihren Text einen Link zu dem neuen Text ein. Der Autor des neuen Textes kann seinen Text wiederum als Vorlage für andere zur Verfügung stellen. Ein Netz im Netz soll so entstehen. - Grundsätzlich gefällt mir die Idee ausgesprochen gut. Wer früher vielleicht Spaß an Kettengeschichten hatte, findet hier ein deutlich besseres System, das nicht sequentiell und nicht hierarchisch, mithin vielleicht sogar demokratisch, ist. Man redet per Text miteinander, aber nicht jeder will mit jedem reden, wie es nun mal so ist. Man bezieht sich aufeinander. Aber schauen wir uns auch die Inhalte an. Je mehr Informationen wir im Netz abrufen können, desto weniger behalten wir im Kopf, liest man zu Beginn des ersten Beitrags. Mag sein. Ist es so? Genau wie beim Telefon: wer die Speichertasten belegt, vergißt die Nummern seiner Freunde, geht es weiter. Nun gut, das wäre ja nicht schlimm, solange man nicht die Namen der Freunde vergißt. Oder wäre es nicht sogar vorteilhaft, die Freunde nicht mehr länger mit Nummern zu assoziieren? - Anklägerisch geht der Text weiter. Große Teile erinnern mich an den christlichen Sprüchekalender, den Oma immer zu Weihnachten verschenkt: unverbindliche Klagen über den Zustand der Welt (hier des Netzes) ohne zwingenden Zusammenhang, Anprangern der angeblichen Informationsflut. Versöhnlich kommt die Autorin dann aber zu dem Schluß: Mit dem Internet haben wir endlich die Gelegenheit, das Gespräch der Vielen mit den Vielen zu führen. Dem möchte ich beipflichten, und das Webgespräch selbst ist eine intelligente Idee, diese Gelegenheit zu nutzen, vielleicht künftig mit besseren Themen, mehr Temperament und weniger Gejammer. In der Rubrik Netz-Zeiten finden sich Worte zur Informationsgesellschaft. Zitate von Bill Gates bis Jürgen Rüttgers belegen die Vor- und Nachteile und die Unvermeidbarkeit des Netzes. Meist geht es wieder um die Informationsüberflutung; am lustigsten noch kolportiert durch den Spruch Getting information off the Internet is like taking a drink from a fire hydrant. Hier bekommen wir Omas Sprüchekalender ohne schmückendes Beiwerk vorgesetzt. Das Netz existiert nicht ist die gewagte These Claudia Klingers im zweiten Beitrag der gleichen Rubrik. Ein weiteres Mal geht es um Chancen und Gefahren des Netzes, und wieder vertritt Claudia die Meinung, es liege an uns, etwas daraus zu machen. Der dritte Beitrag der Rubrik Netz-Zeiten ist ein Interview, das die Herausgeberin mit einem Diplom Volkswirt und einer Diplom Soziologin zum Thema Zukunft der Arbeit führte. Mein Eindruck ist, daß interessante Themen kurz angesprochen werden, daß es aber nirgendwo fundiert zur Sache geht. Beispiel: Wer zwingt uns eigentlich, so viel und so schnell wie möglich zu arbeiten? Von wirtschaftlichen Verhältnissen ist kurz die Rede, von körperlicher Gewalt in der Frühphase des Kapitalismus. Unsere Gesellschaft hat keine Entscheidungsstrukturen, die es dem Individuum ermöglichen, die richtige Mischung aus Arbeit und Freizeit zu wählen. Schön gesagt, aber sehr global und ohne irgendeine Idee, wie die Entscheidungsstrukturen aussehen und wie man sie erreichen könnte. Sind freie Wahl und Wettbewerb kompatibel? Die zentrale Frage, ob das kapitalistische System überhaupt funktioniert, wenn das Individuum frei wählt, wird gar nicht aufgeworfen. Statt dessen geht es weiter zum nächsten Thema. An anderer Stelle wird ein weiterer interessanter Punkt angesprochen: Ein neues Prinzip der Verteilung der Arbeit müßte her. Genau. Aber wie könnte dieses aussehen? Dreißigstundenwoche, VW-Modell, mit oder ohne Lohnausgleich, Besteuerung der Überstunden wie jetzt in Frankreich? Würde es funktionieren oder die Wirtschaft ruinieren? Wie könnte es erreicht werden, durch Wahlen, durch Kampagnen, durch Streiks? All das wird nicht thematisiert. Die Diskutierenden klagen lieber allgemein über das Profitstreben als konkret zu werden und fachlich etwas beizutragen. Haben sie Angst, politische Aussagen zu machen, vielleicht sogar Partei zu ergreifen, oder ist ein Interview nicht der geeignete Rahmen um auf den Punkt zu kommen? Claudia sollte das Thema Zukunft der Arbeit zum Webgespräch machen. Es hätte es verdient. Sehr gelungen finde ich in dieser Rubrik die Form: Thesen aus dem Interview lassen sich am Bildschirmrand gesondert durchblättern, durch Anklicken springt man in den Text. Das verbessert den Überblick. Gut gefallen hat mir die Rubrik Philosophie & Leben. Claudia Klinger kam auf die Idee, Suchmaschinen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens zu behelligen und fand auf diese Weise interessante Philosophieseiten im Netz. In einem lockeren und sehr lesenswerten Artikel macht sie die Runde vom Existenzialismus zum Regenwurmglück. Des weiteren stellt sie Appetithäppchen aus dem Denken einiger Philosophen vor, die sich mit der Entwicklung der Medien beschäftigten. Baudrillard beispielsweise definiert es als Hyperkommunikation, wenn sich Information sich nicht mehr auf ein Ereignis in der Welt bezieht, sondern auf andere Information als Ereignis. In diesem Sinne ist Claudia selbst mit ihrem Lieblingsthema Vor- und Nachteile des Netzes und Wir müssen was daraus machen ausgesprochen hyperkommunikativ, wie sie auch zugibt. Natürlich ist die Frage, was man als Teil der Welt verstehen will. Für Baudrillard scheinen Computernetze eher nicht zu Welt zu gehören. Ich möchte Claudia empfehlen, noch etwas kommunikationstheoretisches von Watzlawick in die Rubrik aufzunehmen, da müßte sich doch leicht was im Netz finden lassen. Wenn man genügend hyper- und metakommuniziert hat, ist ein Schwenk zur Primärliteratur ganz erfrischend, die sich bei Missing Link in der Rubrik Human Voices findet. Human Voices war vorher ein eigenständiges eZine und wurde inzwischen in Missing Link eingegliedert. Hier gibt es drei Unterrubriken: Eine Kettenstory, eine Textegalerie und den Wörterwald. Die bisher achtundzwanzig Folgen der Kettenstory (bei der man natürlich mitmachen kann) beleuchten eine Anschmachtszene in einer Bäckerei aus den verschiedensten Blickwinkeln. Natürlich kann man von einer Kettengeschichte kein besonderes Niveau erwarten, diese hat aber einen guten Unterhaltungswert, da Autoren und Autorinnen beiderlei Geschlechts im Wechsel schreiben und eine Art Geschlechterkampf aufführen, der vergnüglich zu lesen ist. In der Textegalerie ist hauptsächlich Lyrik vertreten, aber auch die Prosa kommt nicht zu kurz. Der Wörterwald ist leider gerade außer Betrieb, ich hatte ihm allerdings vor einigen Monaten bereits einen kurzen Besuch abgestattet. Man konnte Wörter im Wörterwald anklicken und kam dadurch zu Geschichten, die jeweils zu einem Wort geschrieben wurden. Natürlich durfte man eigene Geschichten beitragen. Eine Wörterwaldgeschichte zum Thema Sex war mit einer völlig harmlosen Zeichnung versehen und löste eine Zensuraktion des Providers Compuserve aus, der sich wohl damals in besonderem Maße von der Bundesanwaltschaft verfolgt fühlte. Der Wörterwald ist eine weitere schöne Idee, mit den Möglichkeiten des Netzes zu spielen. Ich hoffe, er geht bald wieder in Betrieb, ich möchte ihn mir gerne noch einmal ansehen. Claudia Klingers Missing Link ist für mich persönlich das derzeit beste und lebendigste eZine im Netz. Vom Aufbau her ist es gut strukturiert und wirkt trotzdem locker. Mit dem Webgespräch, dem Wörterwald und einer Einführung in Mailinglisten gewinnt die Herausgeberin dem Medium indeenreich Möglichkeiten zum Mitmachen und zur Begegnung ab. Inhaltlich lädt Missing Link zur Diskussion und zum Widerspruch ein und ist dadurch gehaltvoller als die vielen eZines, deren Inhalte zumindest mir bisher weitgehend egal waren. Mein Tip für Missing Link wäre, darauf zu achten, daß die Hyperkommunikation nicht überhand nimmt.
Johannes Unnewehr |
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