Kostbare Momente 9 |
Trübes Licht fiel durch das kleine Fenster in ihrem Schlafzimmer. Miss Parker
öffnete unwillig die Augen, hob den Kopf ein wenig und sah sich desorientiert
um. Wo war sie?
Einen Augenblick später fiel es ihr wieder ein. New York. Sie war noch immer in
New York. Ihre Erinnerungen kehrten Stück für Stück zurück, veranlaßten sie
zu einem Stöhnen. Ganz dunkel erinnerte sie sich an eine leere Wodkaflasche,
und möglicherweise war da noch eine zweite gewesen...
"Oh Gott", murmelte sie mit rauher Stimme, ließ ihren Kopf zurück
auf das Kissen sinken. Wenigstens hatte sie in dieser Nacht - oder vielmehr den
größten Teil des Tages - halbwegs ruhig durchgeschlafen. Der Schmerz war noch
immer da gewesen, ein wenig zu ihrer Überraschung; aber keiner ihrer üblichen
Alpträume hatte sie heimgesucht.
Ein leises Knurren ließ Miss Parker aufsehen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis
sie begriff, daß sie ihren Magen gehört hatte. Sie hatte Hunger; aber sie
hatte keinen Appetit. Mit einiger Anstrengung gelang es ihr schließlich, sich
daran zu erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Der bloße Gedanke
daran verursachte ihr Übelkeit.
Miss Parker schloß die Augen. Würde ihr Leben jemals wieder normal werden?
Ihre Lippen verzogen sich bei diesem Gedanken zu einem bitteren Lächeln. Nicht,
daß ihr Leben je normal gewesen wäre.
Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Es hatte keinen Sinn, im Bett zu
liegen und zu brüten - das würde ihr auch nicht weiterhelfen. Irgendwie
schaffte sie es, sich genügend zu motivieren, um aufzustehen.
Mit unsicheren Schritten ging sie hinüber zu ihrer Tasche, die noch immer auf
dem Tisch stand. Miss Parker wühlte mit beiden Händen durch den Inhalt der
Tasche, bis sie das Oberteil gefunden hatte, nach dem sie gesucht hatte. Dann
erstarrte sie plötzlich mitten in der Bewegung, ließ eine Hand sinken und
griff mit der anderen Hand nach dem Foto, das sie bei ihrer Suche an die Oberfläche
befördert hatte.
Hilflos starrte sie auf das Bild. Gemischte Gefühle durchströmten sie, aber
vorherrschend war dasselbe ungute Gefühl, das sie mehrfach vor ihrer Fahrt nach
Maine gespürt hatte. Etwas sagte ihr, daß sie dieses Bild lieber nicht
mitgenommen hätte. Beinahe verärgert schüttelte sie ihren Kopf. Niemals hätte
sie ausgerechnet dieses Bild zurückgelassen; es bedeutete ihr zuviel. Und es
war ein kleines Stück ihrer Vergangenheit, das ihr geblieben war, das ihr
helfen würde, sich über ihre leere Zukunft hinwegzutrösten.
Nach einer halben Ewigkeit erwachte sie aus ihrem Tagtraum, erinnerte sich an
eins der beiden Dinge, wegen denen sie überhaupt nur aufgestanden war. Eines
ihrer Ziele heute hieß wieder Vergessen, doch das andere hatte zunächst
Vorrang. Und dieses Ziel hieß Rache.
Behutsam legte sie das Bild zurück in die Tasche. Dann suchte sie den Rest der
Sachen zusammen, die sie heute tragen wollte und ging ins Badezimmer, um zu
duschen.
Zwanzig Minuten später verließ sie ihr Appartement. Nach außen wirkte sie nun
wieder wie ihr altes, perfektes Selbst. Unter ihrem langen, schwarzen
Ledermantel trug sie eine schwarze Jeans und ein kurzes, ebenfalls schwarzes
Samtoberteil - eine Kombination, die nicht nur elegant genug für ihr Vorhaben
war, sondern sich möglicherweise auch als praktisch erweisen mochte.
Miss Parker zog ein kleines Notizbuch aus der Innentasche ihres Mantels, blätterte
kurz darin. Schließlich fand sie die Adresse, die sie gesucht hatte, und nickte
zufrieden. Mit einer geschmeidigen Bewegung steckte sie das kleine Buch zurück
an seinen Platz, dann trat sie hinaus auf den Bürgersteig und hielt ein Taxi
an. In ihrem kühlsten Tonfall und mit knappen Worten erklärte sie dem Fahrer
genau, wohin er sie bringen sollte und stieg dann ein. Sie spürte deutlich, daß
der Taxifahrer nur sehr ungern in die Gegend fahren wollte, die sie ihm genannt
hatte. Um alle seine Zweifel auszulöschen, hielt sie ihm wortlos einen
Hundert-Dollar-Schein unter die Nase. Er starrte sie an, dann griff er nach dem
Geld und fuhr los.
Miss Parker starrte aus dem Fenster, lenkte sich mit ihren Beobachtungen vom
Nachdenken ab. Kein leichtes Unterfangen - es gab so vieles, das nach ihrer
Aufmerksamkeit verlangte, aber im Moment war sie einfach nicht in der Lage, sich
damit zu befassen.
Ihr Blick ruhte für eine Weile auf dem trüben, wolkenverhangenen Himmel, glitt
dann weiter zu den unendlich wirkenden Häuserschluchten. Menschenmengen schoben
sich über die Bürgersteige, bildeten eine einzige, graue Masse. Vor ein paar
Jahren noch hatte dieser Ort so vertraut gewirkt, so vibrierend mit Leben. Doch
jetzt war es nur eine weitere Großstadt, ein grauer Moloch, der still vor sich
hin wucherte.
"Miss?"
Sie blinzelte überrascht, dann warf sie dem Fahrer einen kühlen Blick zu.
"Sind wir da?"
"Ja, Miss."
Miss Parker stieg aus dem Taxi. Diesmal fuhr der Fahrer bereits an, noch bevor
sie die Tür richtig geschlossen hatte. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre
Lippen, als sie ihren Blick über die Häuserblocks schweifen ließ. Eine
elegante Gegend, aber sicherlich nicht eine der besten von New York. Zumindest
dann nicht, wenn man nicht die richtigen Beziehungen hatte.
Sie wurde schnell wieder ernst, als sie mit entschlossenen Schritten auf das Gebäude
zuging, in dem das Büro untergebracht war, wegen dem sie hergekommen war. Neben
den Hochhäusern in der Nachbarschaft wirkte das Haus beinahe lächerlich klein,
obwohl es für den Maßstab, der in Blue Cove herrschte, noch immer recht groß
war.
Vor dem Haus blieb Miss Parker kurz stehen, den Blick unverwandt auf das kleine,
golden schimmernde Firmenschild gerichtet. 'Tanaka Enterprises' stand in
eleganten, japanischen Buchstaben darauf.
Miss Parker stieg die vier Stufen hinauf, die zum Eingang hinaufführten und öffnete
die schwere Eichentür. Dahinter lag ein langer Flur, der fast völlig leer war.
Sechs mannshohe Vasen bildeten die einzige Dekoration, eskortierten den Besucher
bis zu einer zweiten, weniger massiven Tür.
Bevor Miss Parker sie öffnete, zog sie erst eine kleine, rechteckige Karte aus
der Innentasche ihres Mantels. Es war eine Visitenkarte, allerdings eine der
wenigen, die sie nicht als Mitarbeiterin des Centres auswies. Nach dem Fiasko
vor zwei Jahren wäre es mehr als unklug gewesen, sofort mit der Tür ins Haus
zu fallen.
Mit einem respektvollen Klopfen kündigte Miss Parker ihre Anwesenheit an, dann
öffnete sie die Tür. Den kleinen Empfangsraum, der sich dahinter verbarg,
betrat sie energisch genug, um die volle Aufmerksamkeit der Sekretärin auf sich
zu ziehen. Die junge Frau, die ganz offenbar asiatischen Ursprungs war, sah mit
höflichem Interesse zu ihr auf. Miss Parker deutete eine leichte Verbeugung an,
die mit einem Nicken beantwortet wurde.
'Ist ein Mitglied der Tanaka-Familie zu sprechen?' erkundigte sich Miss Parker
dann auf Japanisch, und überreichte der Sekretärin ihre Visitenkarte. Nach
einem kurzen Blick darauf lächelte die junge Frau unverbindlich.
'Ich werde mich erkundigen. Bitte haben Sie einen Moment Geduld, Miss Parker.'
'Vielen Dank', erwiderte Miss Parker abwesend. Ihre Aufmerksamkeit ruhte auf
einem der drei Bilder, die in dem Büro hingen. Es kam ihr vage bekannt vor.
Nachdem sie eine Weile auf die einfache Kohlezeichnung gestarrt hatte, die einen
japanischen Ziergarten zeigte, fiel ihr wieder ein, wo sie dieses Bild gesehen
hatte. Wenn sie sich recht entsann, war sie sogar anwesend gewesen, als der Künstler
es gezeichnet hatte.
"Miss Parker?"
Sie fuhr herum, konzentrierte sich statt auf das Bild nun auf den Mann, der das
Büro betreten hatte. Ihre Brauen wanderten leicht in die Höhe, und sie
musterte den Neuankömmling mit einem fragenden Blick. Er erwiderte ihren Blick,
dann lächelte er leicht.
"Ich bin der persönliche Sekretär von Mr. Ioyushu", stellte er sich
in makellosem Englisch vor. "Mr. Ioyushu ist gern bereit, Sie zu empfangen.
Wenn Sie mir bitte folgen wollen..."
Miss Parker überlegte einen Augenblick. Der Name kam ihr nicht bekannt vor,
aber die Tanakas waren eine große Familie. Auch wenn sie nicht direkt mit
jemandem sprechen konnte, den sie kannte, so mußte sie doch diese Gelegenheit
nutzen. Sie war sich nicht sicher, ob sie in den nächsten Tagen noch einmal die
Kraft finden würde, hierher zu kommen. Die Tanakas schuldeten ihr den einen
oder anderen kleinen Gefallen, und die Bitte, die sie heute an sie richten
wollte, würden sie ihr wahrscheinlich mit Freude erfüllen.
'In Ordnung', entgegnete sie, wieder auf Japanisch, und verbeugte sich leicht,
zollte dem Mann erst jetzt ihren Respekt. Sein Lächeln verbreiterte sich etwas,
als er die Verbeugung erwiderte, dann führte er sie aus dem kleinen Büro
hinaus zu einem Aufzug.
Einen Herzschlag lang wurde Miss Parker von Panik erfüllt, dann erinnerte sie
sich daran, daß sie sich hier nicht im Centre befand. Hier hatte sie nichts zu
befürchten. Sie betrat den Lift und hoffte, daß das Ergebnis ihrer Mühe den
Aufwand wert sein würde.
*****
Ein neuer Tag im Centre war gekommen und gegangen, ohne daß Jarod die Sonne
gesehen hatte. Der Pretender hatte auch sonst nicht viel gesehen - außer einem
Sweeper, der ihm zweimal ein Tablett mit Essen gebracht hatte, war sonst niemand
zu ihm gekommen.
Jarod hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, auf dem Bett zu liegen
und Pläne zu schmieden. Die meisten davon schlossen das kleine 'Geschenk' des
Unbekannten ein, und jeder einzelne neue Plan hielt ihn davon ab, sich daran zu
erinnern, daß er sich eigentlich wie ein gefangenes Tier fühlen sollte.
Ein leises Rumpeln ließ ihn auffahren. Wie schon ein dutzendmal zuvor an diesem
Tag lauschte Jarod angestrengt in die Dunkelheit. Sorge prägte seine Züge, als
das Geräusch nach ein paar Sekunden wieder aufhörte, ohne daß er das leise
Wispern hörte, das er halb erwartet hatte.
Obwohl Jarod nun schon seit mehr als zwei Tagen wieder im Centre war, hatte sich
Angelo noch nicht blicken lassen. Dieser Umstand besorgte Jarod mehr, als er
bereit war, sich einzugestehen. Bisher hatte sich der Empath immer um ihn gekümmert,
hatte ihn mit Informationen versorgt, die Jarod die Flucht wenn schon nicht ermöglichten,
so doch erleichterten.
Enttäuscht starrte Jarod in die Dunkelheit. Seine Enttäuschung galt vor allem
sich selbst. Er hatte Miss Parker im Stich gelassen, in dem er sich von Lyle
hatte fangen lassen. Und jetzt verlor er hier wertvolle Zeit.
Der Gedanke an Lyle entzündete erneut die Flamme heißen Zorns, die schon seit
Tagen in ihm brannte. Oh, hoffentlich ließ sich Lyle noch einmal dazu hinreißen,
allein in Jarods Quartier zu kommen! Dann würde Jarod Rache nehmen - Rache für
Kyle und für Ben. Und diesmal würde er es Lyle mit gleicher Münze
heimzahlen...
Als die Tür beinahe geräuschlos aufglitt und jemand das Licht anschaltete, war
Jarod für einen Moment vor Überraschung wie gelähmt. Die plötzliche
Helligkeit ließ ihn die Augen für ein paar Sekunden zusammenkneifen, bis er
sich an das Licht gewöhnt hatte. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, um den
flachen Metallgegenstand unter seiner Matratze hervorzuholen und in seinem Ärmel
verschwinden zu lassen, bevor Lyles selbstzufriedene Stimme durch den Raum
hallte.
"Hallo, Jarod."
Lyle lehnte lässig am Geländer der kurzen Treppe, die hinunter in Jarods Raum
führte. Der Pretender unterdrückte ein zufriedenes Lächeln und wahrte einen
gleichmütigen Ausdruck, als er sah, daß Lyle tatsächlich allein war. Jarod
konnte kaum fassen, daß Lyle sich so... dumm verhielt, aber das würde ihn
nicht daran hindern, diesen glücklichen Umstand zu nutzen. Er blieb auf dem
Bett sitzen und sah Lyle an, ließ nur einen kleinen Teil seines mühsam
kontrollierten Zorns in seinen Augen aufblitzen. Wortlos starrte er Lyle
entgegen, ließ seinen Blick für sich sprechen.
Nach einer Weile runzelte Lyle die Stirn.
"Hm, sieht ganz danach aus, als müßte ich die Hauptlast dieses Gesprächs
tragen", meinte er gespielt nachdenklich. Dann verdüsterte sich seine
Miene etwas.
"Das Triumvirat erwartet, daß Sie Ihre Arbeit so bald wie möglich wieder
aufnehmen", fuhr er dann fort. "Und bald bedeutet morgen."
"Nein", entgegnete Jarod schlicht.
In Lyles Mundwinkeln zuckte es kurz, dann lächelte er amüsiert.
"Merkwürdig. Ich habe beinahe mit dieser Reaktion gerechnet", sagte
er mit einem dünnen Grinsen. Er schwieg für eine Weile, dann beugte er sich
interessiert vor.
"Ehrlich gesagt bin ich aber nicht nur deswegen hier. Das hätte schließlich
noch bis morgen Zeit gehabt."
Sein Blick ruhte auf Jarod, als er zu überlegen schien, wie er fortfahren
sollte. Nach einer kurzen Weile zuckte er ganz leicht mit den Schultern, war
offenbar zu einer Entscheidung gelangt.
"Ich bin neugierig", gestand er. "Was ist passiert, nachdem Sie
meine Schwester aus Claremont fortgebracht haben?"
Diese Frage genügte beinahe, um Jarods mühsam aufrecht erhaltene
Selbstkontrolle zusammenbrechen zu lassen.
"Miss Parker wäre beinahe gestorben", brachte er gepreßt hervor. Er
machte sich nicht mehr die Mühe, die Ausmaße seines Zorns zu verschleiern.
Verdammt noch mal, Lyle war ihr Bruder! War es ihm denn wirklich völlig egal,
ob seine Schwester lebte oder starb?
Lyle neigte den Kopf zur Seite, als würde er über Jarods Worte nachdenken.
"Das habe ich nicht gemeint", sagte er dann. In seinen Augen blitzte
es spöttisch. "Oh, kommen Sie schon, Jarod. Eine einsame Hütte, eine
traumatische Situation, nur Sie beide - und Sie wollen mir weismachen, daß dort
nichts passiert ist?"
Seine Stimme hatte ihren spöttischen Klang verloren, und in seinen Augen stand
ein kaltes Glitzern. Jarod spannte sich an, wartete auf seine Chance, den einen
Augenblick, in dem er die Kontrolle über die Situation übernehmen konnte. Bis
es soweit war, mußte er seine Wut noch unter Kontrolle halten, um einen klaren
Kopf zu behalten.
Wie beiläufig schritt Lyle von der Treppe fort, ging hinüber zu dem Tisch, der
in der Mitte des Raumes stand. Auch er schien sich nur noch mühsam unter
Kontrolle zu halten. Erst jetzt begriff Jarod, daß Lyle seiner Schwester gegenüber
überhaupt nicht so gleichgültig war wie er sich gab. Ganz im Gegenteil - Lyles
Emotionen schienen in diesem Punkt fast ebenso stark zu sein wie seine eigenen.
"Sie kennen Miss Parker - sie hält alle auf Distanz", antwortete
Jarod, selbst erstaunt über den leichten Tonfall seiner Worte. Vielleicht war
es gar keine so schlechte Idee, Lyle ein wenig zu provozieren.
"Nicht alle", entgegnete Lyle, und diesmal waren seine Gefühle noch
offensichtlicher. Jarod verspürte einen Hauch von Überraschung. War Lyle etwa
eifersüchtig?
Lyle schien zu ahnen, daß er langsam die Kontrolle über die Situation verlor.
Er holte zu seinem nächsten Schlag aus.
"Eine merkwürdige kleine Sache, die da in Maine passiert ist",
wechselte er abrupt das Thema. Jarod runzelte die Stirn, sowohl aus Verwirrung
als auch aus Wut über die Art, wie Lyle über Bens Ermordung sprach. Als wäre
es ein unwichtiges Ereignis, das sein Leben, wenn überhaupt, nur am Rand berührte.
Das selbstzufriedene Lächeln kehrte auf Lyles Gesicht zurück; der Ausdruck in
seinen Augen wirkte beinahe verträumt.
"Und meine Schwester", fuhr er fort, sein Tonfall eindeutig
besitzergreifend, "hat recht eigenartig darauf reagiert. Ihr kleiner
Auftritt hier im Centre war äußerst... interessant. Zu schade, daß Sie sie
verpaßt haben."
Es waren seine letzten Worte, die dafür sorgten, daß Jarods Zorn überschwappte.
Eine Erinnerung daran, daß Jarod nicht für Miss Parker da sein konnte, gerade
jetzt, wo sie ihn am meisten brauchte. Und Lyle rieb ihm diese Tatsache immer
wieder genüßlich unter die Nase. Lyle, der die Schuld an allem trug.
Mit einem wütenden Aufschrei war Jarod auf den Beinen und hatte Lyle erreicht,
noch bevor er reagieren konnte. Jarods Faust traf Lyle mit voller Wucht am Kinn,
schickte ihn zu Boden. Einen winzigen Augenblick lang meinte Jarod, Furcht in
Lyles Augen aufblitzen zu sehen, doch dann war Wut die vorherrschende Emotion.
Lyle öffnete den Mund, um nach den beiden Sweepern zu rufen, die draußen vor
der Tür Wache standen, aber Jarod war bei ihm, bevor er die Gelegenheit dazu
hatte. Ein zweiter Schlag ins Gesicht ließ Lyles Unterlippe aufplatzen, so daß
ein dünner Blutstrom über sein Kinn rann.
Jarod befand sich in einem Rausch, hervorgerufen von seiner Überzeugung, daß
er in gerechtem Zorn handelte und von dem Adrenalin, das seine Reflexe und
Reaktionen noch schneller als gewöhnlich werden ließ.
Lyle schaffte es, sich wieder aufzurappeln, und begann, sich zu wehren. Doch
Jarod spürte die wenigen Treffer kaum, die sein Gegner landete. Viel zu lange
hatte er auf eine Gelegenheit wie diese warten müssen. Seine Wut steigerte sich
noch, als er kurz daran dachte, daß er bereits die Chance gehabt hatte, Lyle zu
töten. Vor einem Jahr, als Lyle die Entführung von Sydneys Sohn Nicholas
inszeniert hatte, hatte Jarod ihn in seiner Gewalt gehabt, die Mündung seiner
Waffe auf Lyles Kopf gerichtet. Aber er hatte nicht abgedrückt. Heute würde er
diesen Fehler nicht noch einmal begehen. Heute würde Lyle bezahlen.
Ein weiterer zorniger Schrei entrang sich Jarods Kehle. Er holte aus, schlug
Lyle mitten ins Gesicht. Lyle stolperte und fiel nach hinten. Nur einen
Sekundenbruchteil später war Jarod über ihm, hielt ihn mit seinem Gewicht am
Boden.
Eine kurze Bewegung seines Arms genügte, um das Messer aus seinem Ärmel in
seine Hand rutschen zu lassen. Jarod hielt die Klinge an Lyles Hals. Lyle
erholte sich von seiner Benommenheit und schluckte trocken, als er seine
Situation voll erfaßte.
"Und jetzt, Jarod? Wollen Sie mich töten?" brachte er keuchend
hervor. "Vergessen Sie's. Das können Sie nicht."
"Ach nein?" wisperte der Pretender zurück. Kalter Zorn erfüllte ihn,
würde ihm dabei helfen, Lyle zu beweisen, daß er sehr wohl in der Lage war,
sein Vorhaben durchzuführen.
"Nein", keuchte Lyle. Seine Stimme klang selbstbewußt, aber in seinen
Augen flackerte Furcht. "Beim letzten Mal haben Sie es auch nicht
gekonnt."
"Sie vergessen, Mr. Lyle", zischte Jarod wütend, "daß ich
letztes Mal aufgehalten worden bin. Aber das wird heute nicht passieren. Es gibt
nichts, daß Ihr Leben noch retten könnte."
"Sie sind kein eiskalter Killer."
Erste Anzeichen von Todesangst ließen Lyles Stimme zittern.
"Ich bin ein Pretender - ich kann sein, wer immer ich sein möchte. Und
jetzt bin ich Ihr Henker. Sie werden für alles bezahlen, was Sie getan
haben."
"Das ist keine Gerechtigkeit!"
Lyles Stimme hatten einen schrillen Klang angenommen. Seine Panik verlieh ihm
neue Kräfte; er bäumte sich auf und rollte sich zur Seite. Mit der rechten
Hand versuchte er, Jarod das Messer zu entwinden, während er mit der anderen
Hand einen schmerzhaften Schlag gegen Jarods Hals ausführte.
Jarod war erstaunt über Lyles Angriff. Doch weit stärker als sein Erstaunen
war seine Wut, die durch Lyles Versuch, ihm zu entkommen, nur noch heftiger
wurde. Diesmal würde Lyle ihm nicht entkommen.
Er ignorierte den Schmerz, den Lyles Schlag ausgelöst hatte, und konzentrierte
sich statt dessen ganz auf seinen Gegner. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lyle
eines seiner Knie an den Körper zog, um es ihm in die Magengrube zu rammen.
Jarod wich Lyle geschickt aus und stieß mit dem Messer zu. Doch Lyle rollte
sich erneut zur Seite, so daß Jarod nur seinen Arm traf. Er fügte Lyle eine
tiefe Schnittwunde zu, die ihm offenbar große Schmerzen bereitete. Lyles
Widerstand erstarb, und er starrte mit großen Augen zu Jarod empor.
"Na los, tun Sie's endlich, wenn Sie es können! Das ist Ihre letzte
Chance. Wenn Sie es jetzt nicht zuende bringen, dann verspreche ich Ihnen, daß
es Ihnen bald leid tun wird. Denn ich werde keine Schwäche zeigen. Sie werden
meine Schwester nie bekommen!"
Diese ärgerlich hervorgezischten Worte rissen die letzte Schranke in Jarod
nieder. Die letzten Reste seiner Vernunft wurden fortgespült, und er gab sich
ganz seinem überwältigenden Zorn hin.
Lyles Blick bohrte sich in seinen; diesmal bettelte er nicht um sein Leben. In
seinem Blick stand eine Herausforderung, die die letzten Zweifel in Jarod auslöschte.
Langsam hob er das Messer, zielte genau auf den Punkt, von dem er wußte, daß
ein Treffer an dieser Stelle Lyle sofort und relativ schmerzlos töten würde.
Mehr, als der Bastard verdiente.
Er hörte, wie sich die Tür erneut öffnete. Triumph blitzte in Lyles Augen
auf.
"Freu dich nicht zu früh, Mistkerl", flüsterte Jarod dunkel, ohne
aufzusehen. Auch ein Dutzend Sweeper würde ihn jetzt nicht mehr aufhalten.
"Du bist schon tot."
Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung war und machte sich daran, das Messer
mit einem schnellen Ruck in Lyles Brust zu stoßen.
"Das reicht jetzt, Jarod!"
Das Messer noch immer zum Stoß erhoben, wandte Jarod ungläubig den Kopf.
"Dad?"
"Allerdings", erwiderte sein Vater trocken. Major Charles stand in der
Tür, und dahinter erkannte Jarod Sydneys hochgewachsene Gestalt. Der Major zog
eine Waffe aus seiner Manteltasche. "Du kannst das Messer jetzt
wegstecken."
"Du verstehst das nicht, Dad!" widersprach Jarod. Seine Finger
schlossen sich fester um den Griff des Messers. Sein Vater neigte den Kopf
leicht zur Seite, dann trat er ein paar Schritte in den Raum. Sydney folgte ihm
und starrte mit gerunzelter Stirn auf die Szene vor ihm herunter.
"Ich verstehe mehr, als du glaubst. Mach dich nicht unglücklich. Er ist es
nicht wert."
Verwirrung machte sich in Jarod breit. Die ruhige Stimme seines Vaters dämpfte
seinen Zorn.
"Er hat Kyle ermordet!"
Major Charles schloß kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder und schüttelte
heftig den Kopf.
"Wenn du ihn jetzt tötest, machst du deinen Bruder dadurch auch nicht
wieder lebendig", sagte der Major ruhig. Einen Moment lang fühlte Jarod ob
der unverständlichen Ruhe seines Vaters neuen Zorn in sich aufsteigen, doch
dann begann er den Standpunkt des Majors zu begreifen. Langsam ließ er das
Messer sinken. Sydney seufzte erleichtert. Zum ersten Mal, seit er den Raum
betreten hatte, meldete er sich zu Wort.
"Broots hat auf der obersten Ebene ein wenig Verwirrung gestiftet, aber die
wird nicht mehr sehr lange vorhalten. Ihr müßt jetzt sofort gehen", erklärte
er drängend.
Jarod starrte auf Lyle hinunter, der seinen Blick mit einem wissenden Lächeln
erwiderte. Angewidert wandte der Pretender den Blick ab; dann stand er auf.
"Wir sind noch nicht fertig", knurrte Jarod. Lyle schloß die Augen.
Mit wenigen Schritten war Jarod bei seinem Vater und Sydney. Die Freude, seinen
Vater wiederzusehen, wurde gedämpft durch die Ereignisse, die er gerade
durchlebt hatte. Jarods Blick glitt von seinem Vater zu Sydney. In Sydneys Miene
meinte er Enttäuschung zu sehen. Hätte Sydney ihn vielleicht nicht
aufgehalten? Nur Momente später kehrte seine Sorge um Miss Parker zurück.
"Sydney, hast du etwas von ihr gehört?"
"Nein, Jarod. Tut mir leid", erwiderte Sydney und schüttelte betrübt
den Kopf. Neben ihm räusperte sich Major Charles.
"Wir müssen jetzt gehen, Jarod", drängte er. In seinem Gesicht
spiegelten sich sowohl Verständnis als auch Sorge. Jarod fühlte sich hin- und
hergerissen.
"Sydney, ich...", begann er, doch Sydney schob ihn sanft in Richtung Tür.
"Ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, um sie zu finden. Und ich
gebe dir sofort Bescheid, sobald ich etwas erfahre. Aber wenn du jetzt nicht
gehst, dann wirst du ihr nicht helfen können. Bitte, Jarod!"
Jarod warf noch einen letzten Blick zurück zu Lyle, der sich gerade aufsetzte
und feindselig zu ihnen herübersah. Dann gab er sich geschlagen.
"In Ordnung. Vielen Dank, Sydney."
"Schon gut, Jarod", erwiderte Sydney und berührte ihn kurz am Arm.
Major Charles brummte erleichtert, nickte Sydney kurz zu und ging dann voraus in
den Korridor. Jarod folgte ihm, erfüllt mit Erleichterung, daß er das Centre
endlich wieder verlassen konnte und einem schwachen Schatten seiner Sorge um
Miss Parker. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
Fortsetzung folgt...
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