Kostbare Momente 10 |
"Möchten Sie nicht vielleicht doch einen Anruf machen, Sir?"
Die Miene des Polizisten war ausdruckslos, aber in seinen Augen glomm mühsam
unterdrückte Wut. Lyle neigte seinen Kopf leicht zur Seite und tat, als würde
er überlegen. In Wirklichkeit war er sich schon seit langem im klaren darüber,
daß es niemanden gab, der ihm aus dieser Situation heraushelfen konnte.
Jedenfalls nicht, ohne ihn dadurch möglicherweise in noch größere
Schwierigkeiten zu bringen...
"Ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich das nicht tun will!"
Allmählich neigte sich Lyles Geduld ihrem Ende zu. Mit was für einem
begriffsstutzigen Idioten hatte er es hier eigentlich zu tun? Ein stechender
Schmerz in seinem Arm erinnerte ihn an die Ereignisse des vergangenen Tages.
Geistesabwesend rieb er über den Verband und versuchte, doch noch einen Ausweg
aus dieser absurden Situation zu finden.
"Sind Sie sich auch ganz sicher, Sir?"
"Ich habe Ihnen diese Frage jetzt schon dreimal beantwortet! Die Antwort
lautet immer noch: nein, ich möchte niemanden anrufen. Haben Sie das jetzt
endlich verstanden?" erwiderte Lyle mit mühsam beherrschter Stimme.
Der Gesichtsausdruck des ihm gegenüber sitzenden Polizisten erfuhr einige
subtile Veränderungen, wirkte jetzt nicht mehr skeptisch, sondern vielmehr
feindselig.
"Wie Sie meinen, Sir", antwortete der Beamte steif und erhob sich.
"Einer meiner Kollegen wird das Verhör gleich fortsetzen."
Er schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.
"Fortsetzen?" platzte es ungläubig aus Lyle heraus. "Sie halten
mich jetzt schon seit mehr als fünf Stunden fest! Ich habe mit dieser Sache
nicht das Geringste zu tun. Ich habe ein Alibi, verdammt!"
"Ein Alibi, das Sie uns nicht nennen wollen", sagte der Beamte, ohne
sich zu Lyle umzudrehen. Lyle schnaubte ungehalten, sagte aber nichts. Der
Polizist zuckte kaum merklich mit den Schultern und verließ dann den
fensterlosen Raum.
"Verdammt!" fluchte Lyle.
Wäre er nicht so wütend gewesen, hätte ihn vielleicht die Ironie dieser
ganzen Angelegenheit amüsiert. Anders als bei früheren Begegnungen mit der
Polizei hatte er diesmal nämlich die Wahrheit gesagt. Er hatte tatsächlich
nichts mit dieser absurden Anklage zu tun. Allerdings konnte er sein Alibi der
Polizei gegenüber nicht enthüllen. Schließlich konnte er ihnen ja wohl kaum
sagen, daß er zum fraglichen Zeitpunkt im Centre gegen Jarod um sein Leben gekämpft
hatte. Aus demselben Grund konnte er auch seinen Anwalt nicht anrufen. Sein
Anwalt wurde vom Centre bezahlt, und seit dem gestrigen Tag war das Centre nicht
mehr allzu gut auf ihn zu sprechen. Zwar war es ihm bisher gelungen, seine Rolle
bei Jarods Flucht zu verschleiern, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, bis
die genauen Umstände ans Licht kommen würden.
Wütend hieb er mit der Faust auf den Tisch und ließ zischend seinen Atem
entweichen, als ihn ein scharfer Schmerz in seinem Arm an die Verletzung
erinnerte, die er sich in seinem Kampf gegen Jarod zugezogen hatte. Seit diesem
Kampf hatte sich Lyles Lage kontinuierlich verschlechtert; er war vom Regen in
die Traufe geraten.
An die ersten Minuten nach der Auseinandersetzung konnte er sich nur recht vage
erinnern, aller der Schmerz der Demütigung brannte mit unverminderter Klarheit
in ihm. Die erste klare Erinnerung, die er hatte, bezog sich auf die
Krankenstation des Centres. Zwei seiner Sweeper hatten ihn dorthin gebracht,
nachdem sie ihn Jarods nun verlassenem Raum gefunden und Großalarm ausgelöst
hatten. Mit einem Anflug von Bitterkeit erinnerte sich Lyle daran, wie er einige
Zeit lang in einer stetig größer werdenden Lache seines eigenen Blutes gelegen
und über die Prioritäten des Centres nachgedacht hatte. Seine eigenen Sweeper
hatten es für wichtiger gehalten, zuerst den Alarm auszulösen, anstatt ihm
sofort zu helfen.
Die Ärzte auf der Krankenstation hatten ihn schweigend behandelt, vorsichtig
darauf bedacht, ihn nicht noch weiter zu verärgern. Mit dem Hinweis, daß er
den verletzten Arm noch ein paar Tage schonen und in der Schlinge tragen sollte,
hatten sie ihn dann entlassen.
Fünf Stiche! Lyle schauderte, sowohl aus Wut, als auch aufgrund der Erinnerung
an den Schmerz, den die tiefe Schnittwunde ihm bereitet hatte. Eine Narbe würde
wohl nicht zurückbleiben, aber die brauchte Lyle auch gar nicht, um sich für
den Rest seines Lebens an diese Nacht zu erinnern.
Nachdem er die Krankenstation verlassen hatte, war er auf direktem Weg zu
Sydneys Büro gegangen, wo er nicht nur den Psychiater, sondern auch einen
reichlich verstörten Broots angetroffen hatte. Mit ein paar unmißverständlichen
Worten hatte er ihnen klargemacht, daß die Ereignisse in Jarods Zimmer zu ihrer
aller Wohl besser im Dunkeln bleiben sollten. Etwas überrascht hatte er zur
Kenntnis genommen, daß Sydney seine Meinung teilte. Allerdings hatte er Lyle zu
bedenken gegeben, daß die Überwachungsbänder nicht für ihn lügen würden.
Lyle lächelte kalt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Sweeper, die ihn
gefunden hatten, schon alle existierenden Kopien des Bandes aufgespürt und
vernichtet. Wenigstens von dieser Seite hatte er absolut nichts zu befürchten.
Er runzelte die Stirn und sein Lächeln verblaßte, als seine Erinnerung ihn
weiter durch die Ereignisse der Nacht führte. Malcolm, einer seiner Sweeper,
hatte ihn nach Hause gefahren. Doch kaum, daß Lyle die Tür hinter sich
geschlossen hatte, hatte jemand geklingelt. Wäre er in diesem Moment nicht so
erschöpft und unbeschreiblich wütend gewesen, hätte er vielleicht darüber
gegrinst, doch so hatte er einfach nur zähneknirschend die Tür wieder geöffnet
und in die roten Gesichter zweier Polizisten gestarrt. Einer der beiden hatte flüchtig
auf die Schlinge geschaut, in der Lyles Arm jetzt noch immer steckte, und dann
einen vielsagenden Blick mit seinem Partner getauscht.
"Was?" hatte Lyle mehr geknurrt als gefragt.
"Sir, wir möchten Sie bitten, uns zur Wache zu begleiten."
An dieser Stelle hatte Lyles gesunder Menschenverstand - so wenig er davon auch
in den Augen anderer besitzen mochte - eine Auszeit genommen und das Feld
kampflos seinem Zorn überlassen. Lyle konnte sich nicht mehr an seine genauen
Worte erinnern, aber die folgende häßliche Szene hatte damit geendet, daß er
in Handschellen abgeführt und sehr unsanft in ein Polizeiauto verfrachtet
worden war.
Den Grund für seine Verhaftung hatte er dann auf dem Revier erfahren. Offenbar
wurde er verdächtigt, an einem brutalen Raubüberfall auf zwei asiatische Geschäftsleute
beteiligt gewesen zu sein. Bei einem Messerkampf war einer der beiden Männer
getötet worden, und mehrere Zeugen hatten einen Mann vom Tatort flüchten
sehen, dessen Größe und Statur der Lyles entsprochen hatten. Der überlebende
Geschäftsmann hatte ausgesagt, daß einem der Täter ein Daumen gefehlt hatte.
Selbst in seiner Wut mußte Lyle zugeben, daß alle diese Hinweise auf ihn
deuteten - nur, daß er nichts damit zu tun hatte!
Wieder und wieder hatte er die Polizisten zu überzeugen versucht, hatte sogar
mit seiner Wunde als Beweis für sein Alibi - und seine Unschuld - argumentiert.
Das hatte ihn nur tiefer in die Sache hineingeritten, denn zu diesem Zeitpunkt
hatte ihm noch niemand gesagt, daß der Mord mit einem Messer verübt worden
war. Und nun schienen alle von seiner Schuld überzeugt zu sein.
Lyle stand auf und begann, unruhig in dem kleinen Zimmer umherzulaufen. Zunächst
einmal mußte er seine Gedanken ordnen, sonst würde ihm nie ein Weg aus dieser
mißlichen Lage einfallen. Er brauchte jemanden, der die Kaution für ihn...
"Sir?"
Ein Polizist hatte die Tür geöffnet und sah Lyle verärgert an.
"Was denn noch?" schnappte Lyle übellaunig, sein Tonfall bei der nächsten
Frage sarkastisch. "Soll ich mich vielleicht einem Lügendetektortest
unterziehen?"
"Jemand hat die Kaution für Sie bezahlt und sich für Sie verbürgt",
erwiderte der Beamte unwirsch und es war klar, daß es ihm unverständlich war,
wie ein vernünftiger Mensch so etwas tun konnte. Deutlich widerwilliger fügte
er hinzu: "Sie können gehen."
Lyle verspürte eine Welle der Erleichterung. Wenn er erst einmal hier raus war,
würde er schon herausfinden, wer ihn in diese Lage gebracht hatte. Denn daß es
sich bei dieser Sache um einen bloßen Zufall handelte, glaubte er nicht für
eine Sekunde.
Er verließ das Verhörzimmer, froh, daß er nicht wieder in die winzige Zelle
zurückkehren mußte, in der er die ersten zwei Stunden seines Aufenthalts hier
verbracht hatte. Ihm war durchaus klar, daß die Polizei genug Indizien hatte,
um ihn zumindest für 24 Stunden festzuhalten und daß sie ihn jetzt nur gehen
ließ, weil sich jemand für ihn eingesetzt hatte. Nur wer?
Ein paar Minuten später stand Lyle auf dem Bürgersteig vor dem Polizeirevier.
Im Osten hellte der Himmel bereits auf; das Morgengrauen kündigte sich an.
Von Lyle unbemerkt glitt eine dunkle Limousine fast geräuschlos durch die Nacht
und hielt neben ihm an. Das hintere Fenster öffnete sich mit einem leisen
Surren und Lyle fuhr herum. Er rechnete fast damit, in Raines' schadenfrohe
Miene zu starren, doch statt dessen erkannte er seinen Vater, der ihn mit kalter
Wut in den Augen betrachtete.
"Schön dich zu sehen, Dad", sagte Lyle leichthin. Mr. Parkers Augen
verengten sich. Lyle sah etwas darin aufblitzen, das ihm einen kalten Schauer über
den Rücken jagte.
"Erspar mir das!" sagte der alte Mann verärgert. "Glaub' bloß
nicht, ich wäre deinetwegen hier. Diese Situation ist für das Centre
untragbar! Wage es nie wieder, das Centre in so eine Sache hineinzuziehen."
Eine unausgesprochene Drohung schien in der Luft zu hängen. Die Sekunden zogen
sich in die Länge, und dann, bevor Lyle die Gelegenheit hatte, etwas zu seiner
Verteidigung zu sagen, schloß sich das Fenster wieder. Beinahe lautlos setzte
sich die Limousine wieder in Bewegung, ließ Lyle allein im einsetzenden
Zwielicht des neuen Morgens zurück. Ein unvertrautes Gefühl breitete sich in
Lyle aus und ließ seine Hand ganz leicht zittern, als er nach seinem Handy
griff.
Angst.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ihn jemand in Angst versetzt, ohne ihn mit
einer Waffe zu bedrohen.
Während Lyle darauf wartete, von Malcolm abgeholt zu werden, begann er sich zu
fragen, ob sein Vater bereits gewußt hatte, daß Jarod entkommen war, obwohl
Lyle zu diesem Zeitpunkt bei ihm gewesen war, und ob das vielleicht der Grund für
die Kälte und die stumme Drohung in seinen Augen gewesen war. Lyles Zittern
verstärkte sich, und er versuchte erfolglos, sich einzureden, daß der Grund
dafür allein die morgendliche Kälte war.
***
Das Licht des neuen Tages tauchte die Landschaft in ein sanftes, unwirklich
wirkendes Licht. Nebelschwaden trieben dicht über dem Boden dahin, vermittelten
dem Beobachter beinahe das Gefühl, über allem zu schweben.
Mit einem schweren Seufzen ließ Jarod die Gardine los, die daraufhin wieder vor
das Fenster fiel und den Raum in ein trübes Halbdunkel hüllte.
Jarod setzte sich auf das unberührte Bett. Seit sie vor ein paar Stunden in
diesem Motel unweit der Grenze zu Delaware angekommen waren, hatte er nicht
einmal an Schlaf gedacht. Sein Kopf sank nach vorn, bis sein Kinn seine Brust
berührte. In dieser Position verharrte er, versunken in eine Mischung aus
Selbstekel und Schuldgefühlen.
Ein leises Klopfen ließ ihn aufsehen. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet,
und Major Charles streckte den Kopf ins Zimmer.
"Wie geht's dir, Sohn?"
In seinen Augen stand ein Besorgnis, von der Jarod glaubte, daß er sie nicht
verdiente. Er ließ den Kopf wieder auf seine Brust sinken.
"Dachte ich mir", murmelte Charles. "Was dagegen, wenn ich
reinkomme?"
Seine Stimme hatte nun einen fast heiteren Klang. 'Aufmunternd', dachte Jarod.
'Ich will aber nicht aufgemuntert werden.'
Der Major wartete keine Antwort ab, sondern betrat das Zimmer und schloß die Tür
hinter sich.
"Jay ist nebenan und schläft", fuhr Major Charles im Plauderton fort.
Nach einem kurzen Blick auf Jarods Bett fügte er hinzu: "Offenbar hast du
keinen Schlaf gefunden."
"Ich habe vor ein paar Stunden beinahe einen Menschen getötet",
entfuhr es Jarod ungläubig und lauter, als er beabsichtigt hatte. Sein Vater
sah ihn daraufhin ruhig an, doch Jarod wich seinem Blick aus.
"Eben", brummte Charles. "Beinahe."
"Weil du mich aufgehalten hast."
"Spielt das eine Rolle?"
"Für mich schon! Ich war bereit, ihn zu töten! Einen Menschen!"
Charles berührte seinen Sohn an der Schulter. Es erstaunte Jarod, wieviel Trost
ihm allein diese einfache Berührung spendete.
"Soweit ich weiß, ist dieser Lyle so weit von einem Menschen entfernt, wie
man es sein kann, ohne ein Ganzkörperfell zu tragen."
Die Stimme des Majors war ausdruckslos. Jarod drehte den Kopf, um ihn anzusehen.
Für einen Moment hätte er schwören können, ein amüsiertes Funkeln in den
Augen seines Vaters gesehen zu haben.
"Das ist nicht die Zeit für Scherze, Dad", sagte er düster.
"Wer macht denn Scherze?"
Jarod schwieg und wich dem forschenden Blick seines Vaters einmal mehr aus. Die
Ereignisse der Nacht hatten ihn nicht einfach nur beunruhigt oder ihn aus der
Bahn geworfen - Jarod verspürte eine tiefsitzende Furcht. Vor ein paar Stunden
hatte er tief in die dunklen Abgründe seiner Seele geblickt und ihm gefiel
nicht, was er dort entdeckt hatte. Und sein Vater ahnte nicht einmal, wie nahe
Jarod am Abgrund des Wahnsinns gestanden hatte. Die Tatsache, daß er wieder im
Centre eingesperrt gewesen war, hatte ihn nicht halb so sehr beunruhigt wie sein
Verhalten kurz vor seiner erneuten Flucht. Was, wenn er wirklich zum Mörder
geworden wäre?
"Ich hätte ihn umgebracht", wisperte er, mehr zu sich selbst. Neben
ihm holte sein Vater tief Luft und erhob sich.
"Das reicht jetzt, Jarod", sagte er, sein Tonfall scharf und autoritär.
Überrascht sah Jarod zu ihm auf.
"Das führt doch zu nichts", fuhr sein Vater fort. "Du sitzt hier
und zerbrichst dir den Kopf über eine Frage, die du nicht beantworten kannst.
Es ist doch unwichtig, ob meine Worte nun Schlimmeres verhindert haben oder
nicht. Letztendlich kannst nur du wissen, ob du wirklich in der Lage gewesen wärst,
diesen Mann zu töten. Ich verstehe dich nicht, Sohn. Als Pretender kannst du
die Gedanken und Gefühle anderer Menschen problemlos nachvollziehen. Kannst Du
denn nicht in dein eigenes Herz sehen und dort die Wahrheit erkennen?"
"Und welche Wahrheit ist das, Dad?"
"Ach, Jarod. Hör doch mal für einen Moment auf, in hypothetischen Bahnen
zu denken. Ich mag dich noch nicht sehr lange kennen, aber du bist mein Sohn,
und es gibt Dinge, die ich sehr schnell über dich gelernt habe. Du bist kein
Killer, und du hättest ihn nicht umgebracht; das konnte ich in deinen Augen
sehen. Ich habe nur aus einem einzigen Grund in die Situation eingegriffen -
weil wir keine Zeit hatten darauf zu warten, daß du zu demselben Schluß
kommst."
Sein Vater schien tatsächlich von seinen Worten überzeugt zu sein, aber Jarod
fiel es schwer, daran zu glauben. Schließlich würde er nie Gewißheit haben.
"Ich wünschte, ich wäre da so sicher wie du", faßte er seine
Zweifel in Worte. Major Charles legte seine Hände auf Jarods Schultern und sah
in fest an.
"Du kannst deinem alten Vater ruhig glauben", sagte er, den Hauch
eines Lächelns auf den Lippen. Doch dieser Hauch verblaßte schnell, und die Wärme
in seinen Augen wurde von Entschlossenheit verdrängt. "Seine eigenen Taten
kritisch zu beurteilen ist eine bewundernswerte Eigenschaft; Selbstzweifel sind
aber nur destruktiv. Ich glaube, es gibt da etwas, das tun wolltest, und damit
es dir gelingt, mußt du dir deiner selbst sicher sein und mit Entschlossenheit
handeln."
Jarod wurde von einem heftigen Schuldgefühl durchzuckt. In all seinem
Selbstmitleid hatte er nicht einmal an Miss Parker gedacht. Nein, das stimmte so
nicht. Er hatte an sie gedacht, hatte sich gefragt, was sie wohl davon halten würde,
daß er beinahe jemanden getötet hatte. Und daß dieser Jemand ihr Bruder war.
Langsam spürte Jarod, wie seine Entschlossenheit zurückkehrte. Sein Vater
hatte recht. Solange er hier saß und sich Gedanken um etwas machte, das er
nicht mehr ändern konnte, würde er Miss Parker nicht finden. Er mußte seine
Gedanken auf die Zukunft richten. Was zählte, war, daß er es in Zukunft besser
machen würde als in der letzten Nacht.
Er umfaßte die Unterarme seines Vaters und drückte sie sanft.
"Danke, Dad."
"Schon gut, Sohn", erwiderte sein Vater und zog ihn für eine kurze
Umarmung in seine Arme. Dann ließ er ihn wieder los und lächelte ihn warm an.
"Wie wär's mit einer schönen Dusche, während ich uns Frühstück
mache?"
"Klingt toll."
Major Charles warf ihm einen letzten prüfenden Blick zu, nickte dann zufrieden
und verließ das Zimmer. Jarod sah ihm nach und dankte dem Schicksal stumm dafür,
daß es sie nach all den Jahren wieder zusammengeführt hatte. Dann schüttelte
er die letzten trüben Gedanken ab und begann sich darauf zu konzentrieren, wie
er Miss Parker am besten finden konnte. Sie brauchte ihn, und er würde alles in
seiner Macht Stehende tun, endlich für sie da zu sein.
***
Ein leises Klopfen an seiner Bürotür ließ Sydney von der Akte aufsehen, die
vor ihm lag. Er warf noch einen letzten Blick auf das Foto, das zuoberst in der
Akte lag, dann schloß er den Deckel und sah zur Tür.
"Herein."
Die Tür ging langsam auf. Sydney war nicht besonders überrascht, Broots
hereinkommen zu sehen. Niemand sonst im Centre klopfte auf so eine respektvolle
Weise. Eigentlich klopfte außer Broots ohnehin niemand an seine Tür, bevor er
- oder sie - hereinkam.
Broots bot einen traurigen Anblick. Seine Kleidung war leicht zerknittert, und
er war nur schlecht rasiert. Die blutunterlaufenen Augen boten Sydney den
letzten Hinweis, den er noch brauchte.
"Guten Morgen, Mr. Broots", begrüßte er seinen Kollegen freundlich
und verzichtete auf die Frage, ob er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.
"An diesem Morgen ist nichts gut, Sydney", erwiderte Broots nervös
und mit belegter Stimme. Sein Blick huschte immer wieder durch den Raum, so als
suchte er nach verborgenen Kameras oder Mikrofonen. Sydney stellte das mit
einiger Besorgnis fest, denn es schien langsam zu einer schlechten Angewohnheit
zu werden. Vorsicht war für das Überleben im Centre essentiell, aber Broots'
Verhalten grenzte schon fast an Paranoia.
"Was meinen Sie?"
"Was ich meine?", fragte Broots fassungslos. Seine Stimme sank zu
einem Flüstern herab. "Haben Sie schon vergessen, was letzte Nacht
passiert ist? Da draußen ist alles voller Sweeper, die die ganze Gegend
absuchen. Früher oder später wird jemand darauf kommen, daß wir an Jarods
Flucht beteiligt waren, und dann sieht es ganz übel für uns aus!"
"Sie waren doch hier, als Lyle letzte Nacht mit mir gesprochen hat",
sagte Sydney ruhig, in einem Versuch, an Broots' logischen Verstand zu
appellieren.
"Ja! Oh ja", wisperte der Techniker entsetzt, und ein sichtbares
Schaudern lief durch seinen Körper.
"Broots, es liegt nicht in Lyles Interesse, uns zu verraten. Das kann er
auch gar nicht, ohne sich selbst ans Messer zu liefern. Wir sind sicher. Sie
haben doch selbst gesagt, daß sich von dem Überwachungsband aus Jarods Raum
keine Spur finden läßt."
Der Techniker nickte und Sydney stellte erleichtert fest, daß Broots sich ein
wenig entspannte.
"Kommen Sie, setzen Sie sich für einen Moment hin. Sie sehen erschöpft
aus."
Das war untertrieben, aber Sydney sah keinen Sinn darin, Broots noch weiter zu
beunruhigen. Broots leistete seiner Aufforderung Folge und ließ sich auf das
Sofa sinken, das Sydneys Schreibtisch gegenüber stand.
"Ich kann nicht glauben, daß Jarod wirklich schon wieder entkommen
konnte", sagte er nach etwa einer Minute, nun deutlich ruhiger. Sydney lächelte.
"Bei all der Hilfe, die er dieses Mal hatte, konnte er ja gar nicht
anders."
"Sydney!"
Broots entsetzter Blick war eine einzige stumme Bitte, nie wieder ihre Rolle bei
Jarods Flucht zu erwähnen, und wenn doch, dann wenigstens nicht innerhalb der
Mauern des Centres.
"Ich frage mich aber, von wem er dieses Messer hatte", fuhr Sydney
gedankenverloren fort.
"Jedenfalls nicht von uns", erklärte Broots mit Nachdruck, und Sydney
fragte sich einen Moment lang amüsiert, ob er zu ihm oder einem eingebildeten
Überwachungsgerät des Centres gesprochen hatte.
"Richtig. Ich weiß, daß sein Vater es ihm ebenfalls nicht zukommen ließ.
Das schränkt den Kreis der Verdächtigen ziemlich stark ein."
"Wer kann es bloß gewesen sein? Das alles ist so geheimnisvoll! Und das
ist noch nicht alles", sagte Broots, wobei seine Stimme zunächst einen
verwirrten, dann einen zunehmend mysteriösen Klang annahm.
Sydney sah ihn aufmerksam an, denn er vermutete, daß Broots ihm nun erzählen würde,
warum er hier war. Broots beugte sich ein wenig zu Sydney vor, ein neugieriges
Leuchten in den Augen.
"Mr. Parker soll sehr aufgeregt gewesen sein, als er heute morgen ins
Centre gekommen ist. Aber das hat nicht an Jarods Flucht gelegen; jedenfalls
nicht nur."
Gespannt wartete Sydney darauf, daß Broots endlich mit den Neuigkeiten herausrückte.
"Heute morgen ist auf Catherine Parkers Grab eine schwarze Lilie gefunden
worden", sagte Broots endlich und sah Sydney erwartungsvoll an. Seine
Aufregung wegen Jarods Flucht schien für den Moment vergessen zu sein.
"Eine schwarze Lilie?" wiederholte Sydney irritiert. Er hatte keine
Ahnung, warum sich Mr. Parker darüber so sehr aufregen sollte. Sicher, es war
eine ungewöhnliche Geste, aber nichts, weswegen man beunruhigt sein mußte.
Oder vielleicht doch? "Weiß man, wer sie dorthin gelegt hat?"
"Nein. Aber Mr. Parker ist sich sicher, daß es Jarod war."
"Ich verstehe", meinte Sydney. Das erklärte natürlich Parkers
Aufregung. Allerdings glaubte er nicht, daß Jarod etwas mit der Sache zu tun
hatte. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten Sydneys ehemaligen Schützling
sehr mitgenommen. Momentan war er bestimmt nicht daran interessiert, Mr. Parker
mit kryptischen Hinweisen zu ärgern.
"Sie glauben nicht, daß es Jarod war, oder?" fragte Broots, obwohl er
die Antwort bereits zu kennen schien. Sydney schüttelte den Kopf.
"Nein. Sie haben ihn doch letzte Nacht gesehen. Wie ich Jarod kenne, hat er
im Moment ganz andere Sorgen. Ich frage mich, ob vielleicht..." Er brach
mitten im Satz ab und starrte einige Sekunden lang ins Leere.
"Was fragen Sie sich, Sydney?" wollte Broots ungeduldig wissen.
"Ach, es ist nur so ein Gedanke gewesen. Ein sehr unwahrscheinlicher."
Broots zuckte mit den Schultern um anzudeuten, daß er Sydneys Vermutung
trotzdem hören wollte, ganz egal, wie unwahrscheinlich sie auch sein mochte.
"Für einen Moment hatte ich das Gefühl, daß Miss Parker vielleicht etwas
mit dieser Lilie zu tun haben könnte."
"Aber dann müßte sie ja noch in der Nähe sein!" entfuhr es Broots
in einer Mischung aus Erleichterung und Ungläubigkeit. Sydney teilte die
Erleichterung, die Broots fühlte, wenn auch aus anderen Gründen. Sein Gefühl
sagte ihm, daß Miss Parker tatsächlich hinter dieser Sache steckte. Wenn das
stimmte, bewies es, daß sie dabei war, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Lange Zeit hatte Sydney befürchtet, daß ihre Trauer und der Schock zu einem
schweren Realitätsverlust bei ihr führen könnten, so daß sie sich schließlich
gänzlich von der Welt zurückziehen würde.
Sydney wagte kaum zu hoffen, daß sie es war, die für diese eigenartige Geste
verantwortlich war. Leider hatte er keine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie
etwas damit zu tun hatte oder nicht, aber glücklicherweise kannte er jemanden,
der genau der richtige Mann für diesen Job war.
"Broots, ich glaube zwar, daß Miss Parker dahintersteckt, aber sie ist
bestimmt nicht mehr hier in Blue Cove. Trotzdem sollten Sie vielleicht noch
einmal zu ihrem Haus rausfahren und nachsehen, ob sich dort irgend etwas verändert
hat. Ich werde in der Zwischenzeit einen wichtigen Anruf machen."
Zwar schien Broots nicht ganz glücklich darüber zu sein, daß er allein zu
Miss Parkers Haus fahren sollte, aber gleichzeitig wirkte er erleichtert darüber,
endlich nicht mehr untätig zu sein.
"Ich melde mich, wenn ich etwas entdecken sollte", versprach er und
hatte kurz darauf das Büro wieder verlassen. Sydney sah ihm kurz nach, dann
schlug er die Akte wieder auf und sah hinunter auf das Foto der jungen Miss
Parker. Es schmerzte ihn, daß sie sich nicht bei ihn gemeldet hatte, daß sie
nicht bereit war, sich von ihm in ihrem Kummer helfen zu lassen, aber wenigstens
hatte er jetzt einen Anhaltspunkt dafür, daß sie sich auf dem Wege der
Besserung befand.
Den Blick noch immer unverwandt auf das Foto gerichtet, hob er schließlich den
Hörer ab und begann zu wählen.
***
Die Dämmerung brach langsam über Blue Cove herein, als Jarod mit seinem Vater
in der Ortschaft eintraf. Es war für sie beide äußerst gefährlich, hierher
zu kommen, denn nach Jarods Flucht in der letzten Nacht wimmelte es in der
ganzen Gegend von Angestellten des Centres, die nach Spuren und Hinweisen
suchten. Doch Jarod wußte, daß er nur hier eine Chance haben würde, die Spur
von Miss Parker aufzunehmen.
"Da vorne ist es, Dad", sagte er leise zu seinem Vater, als sie in
eine Nebenstraße einbogen. Jarod zeigte auf ein Appartementhaus, das am Ende
der Straße stand. "Du kannst mich hier raus lassen."
"In Ordnung. Ich nehme an, daß ich dich nicht extra zur Vorsicht ermahnen
muß, Sohn", erwiderte Major Charles und warf seinem Sohn einen strengen
Blick zu. Jarod nickte nur. "Wenn du mich brauchst, ruf einfach an. Ich
bleibe in der Nähe."
"Ist gut, Dad. Bis später."
Nach einem letzten Blick auf seinen Vater öffnete Jarod die Tür und verließ
in einer geschmeidigen Bewegung den Wagen. Leise warf er die Tür hinter sich zu
und machte sich auf den Weg zu seinem Ziel.
Trotz der einsetzenden Dunkelheit und seiner dunklen Kleidung nutzte er jede
Deckung, die sich ihm bot. Außerdem bemühte er sich, sich so unauffällig wie
möglich zu bewegen. Als er gegenüber des Hauses angekommen war, kauerte er
sich hinter eine dichte Hecke und verschmolz mit den Schatten. Jetzt mußte er
nur noch warten.
Seit Sydney ihn am späten Morgen angerufen hatte, hatte er sich den Kopf darüber
zerbrochen, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Ebenso wie Sydney glaubte
er, daß Miss Parker etwas mit der schwarzen Lilie auf Catherine Parkers Grab zu
tun hatte. Aber anders als Sydney war er der Meinung, daß diese Blume nicht
etwa zur Erinnerung an ein bestimmtes, für Miss Parker wichtiges Datum dorthin
gelegt worden war, sondern daß es sich um einen Hinweis handelte, um ein
Zeichen dafür, daß Miss Parker gefunden werden wollte. Der Gedanke ließ
Jarods Herz schneller schlagen, und er schloß für einen Moment die Augen, um
sowohl die aufkeimende Hoffnung, als auch seine Sorge zu unterdrücken. Es blieb
ein Gefühl der Wärme zurück, verursacht durch das Wissen, daß Miss Parker
ihn - unbewußt oder bewußt - zu sich führen würde.
Versunken in seine Gedanken hätte Jarod beinahe den Mann übersehen, wegen dem
er heute abend hierher gekommen war. Ein dunkler Wagen setzte ihn vor dem Haus
gegenüber ab, und in der Dunkelheit fiel es Jarod schwer, ihn eindeutig zu
identifizieren. Doch dann tauchte das Scheinwerferlicht des davonfahrenden
Wagens ihn für einen Moment in gleißendes Licht, und Jarod erkannte den Mann,
dessen Schatten er von nun an sein würde.
Ende Teil 10
Fortsetzung folgt...
Über Feedback freue ich mich sehr; bitte hinterlaßt es unter missbit@web.de
Teil 9 | zurück zur Übersicht | Teil 11 |
© 2001 Miss Bit