Kostbare Momente 12 |
Ein grauer Himmel spannte sich über den geschäftigen Straßen von Brooklyn.
Menschenmassen schoben sich über die Bürgersteige, während endlose Kolonnen
von Autos und Bussen die langgezogenen Straßen verstopften. Das trübe Licht
des Nachmittags war keine Konkurrenz für all die Laternen, Scheinwerfer und
hell erleuchteten Fenster, die die Stadt mit ihren Reflektionen überzogen.
Ein leichter Nieselregen setzte ein und überall spannten sich Regenschirme auf,
sprossen wie bunte, bizarr gemusterte Pilze aus dem Boden.
Wie schon in den letzten Tagen hatte Miss Parker auch diesmal kein Auge für das
bunte Treiben um sie herum. All die Menschen, die sich an ihr vorbeischoben und
dabei keinen Blick für ihre Mitbürger übrig hatten, vermittelten ihr ein Gefühl
der Enge. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, und sie sehnte sich nach einem Ort,
an dem sie allein sein konnte.
Allein. Nicht einsam. Um einsam zu sein, mußte sie nicht erst extra einen
bestimmten Ort aufsuchen. Sie war immer einsam, ganz egal, ob sie allein in
ihrem trostlosen Appartement saß oder, wie jetzt, von Hunderten von Menschen
umgeben war. Im Moment kam es ihr so vor, als wäre sie immer einsam gewesen.
Ihr Herz schlug mit schmerzhafter Intensität gegen ihre Rippen, als wolle es
sie daran erinnern, daß das nicht stimmte. Es schien ihr beweisen zu wollen, daß
sie noch immer lebendig war, trotz all der Dinge, die in den letzten Tagen
passiert waren. Ein ersticktes Schluchzen bahnte sich seinen Weg nach außen.
Der Laut ging unter in dem Meer aus Geräuschen, von dem Miss Parker umgeben
war. Stimmen waberten um sie herum, trugen Gesprächsfetzen und Seufzer an ihre
Ohren. Im Hintergrund dröhnte der Verkehrslärm, schien immer lauter zu werden.
Ihr Kopf fühlte sich an, als werde er zwischen zwei riesigen, erbarmungslosen Händen
zusammengepreßt. Der Druck schien sich nicht allein auf das Körperliche zu
beschränken; auch ihre Gedanken wurden davon beeinflußt.
'Verliere ich jetzt den Verstand?' fragte sie sich, und das nicht zum ersten
Mal, seit sie Bens Leiche gefunden hatte.
Unwillig schüttelte sie den Kopf, als sich eine Spur ihres alten Kampfgeistes
in ihr regte.
'Jetzt reiß dich endlich zusammen, Parker', ermahnte sie sich selbst mit einer
Schärfe, die sie überraschte. 'Tu bloß nicht so, als hättest du noch nie
einen Kater gehabt.'
Obwohl dieser Gedanke alles andere als fröhlich war, heiterte er Miss Parker
doch auf - bedeutete er doch, daß es um ihre geistige Gesundheit nicht so
schlecht bestellt war, wie sie in ihren dunkleren Stunden befürchtet hatte.
"Miss? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"
Überrascht sah Miss Parker auf, nur um kurz darauf den Blick wieder ein Stück
weit zu senken. Ein junges Mädchen stand vor ihr, das Gesicht besorgt verzogen.
Sie mochte etwa elf oder zwölf Jahre alt sein - 'Debbies Alter', dachte Miss
Parker - und ihre großen, blauen Augen strahlten eine Wärme aus, die Miss
Parker völlig unvorbereitet traf. Wie gebannt starrte sie für ein paar
Sekunden auf die langen, blonden Zöpfe des Mädchens, dann erst begriff sie,
warum das Mädchen sie angesprochen hatte.
Ohne, daß sie es gemerkt hatte, war Miss Parker stehengeblieben, die Füße in
einer großen Pfütze, den Blick unverwandt auf den Beton des Bürgersteigs
gerichtet. Sie mußte ein jämmerliches Bild abgeben, wie sie hier ohne einen
Schirm im Regen stand, ganz in ihre Gedanken versunken.
"Ja. Ja, Kleines, mach dir keine Sorgen. Ich war nur für einen Moment...
abgelenkt", brachte Miss Parker hervor und mit einiger Anstrengung gelang
ihr ein beruhigend gemeintes, aber wohl eher gequält wirkendes, Lächeln.
Die Kleine sah Miss Parker einen Herzschlag lang zweifelnd an, dann verzogen
sich ihre Lippen zu einem leichten Lächeln.
"Sie sollten hier nicht so im Regen stehen", meinte sie zu Miss
Parker, und dann zwinkerte sie. "Sonst werden Sie noch krank."
Damit machte das Mädchen auf dem Absatz kehrt, ging mit langen Schritten los
und verschwand Sekunden später in der Menge. Miss Parker streckte die Hand nach
ihr aus, als könnte sie die Kleine damit aufhalten. Als sie kurz darauf die
Sinnlosigkeit dieser Geste erkannte, ließ sie die Hand wieder sinken. Verblüfft
starrte sie auf die Stelle, an der Sekunden zuvor noch das junge Mädchen
gestanden hatte. Konnte es möglich sein, daß in dieser Großstadt, wo das
Leben der Menschen von Anonymität regiert wurde, ein so junger Mensch Sorge um
eine Fremde empfand?
Ungläubig schüttelte Miss Parker erneut den Kopf. War das gerade wirklich
passiert? Oder wandelte sie doch näher an der Grenze des Wahnsinns als sie
geglaubt hatte? Ihr Herz schlug schneller, als ihr einfiel, an wen das Mädchen
sie noch mehr als an Debbie erinnerte.
Faith.
Miss Parker schluckte trocken. Das letzte Mal, als sie an ihre vor vielen Jahren
verstorbene Adoptivschwester gedacht hatte, hatte sie an der Schwelle des Todes
gestanden. Damals hatte ihr die Erinnerung geholfen, den Weg zurück ins Leben
zu finden.
Die kleine Faith, die versprochen hatte, immer auf sie aufzupassen.
Zutiefst erschüttert stolperte Miss Parker ein paar Schritte vorwärts, bis sie
einen Laternenpfahl erreichte, an dem sie sich abstützen konnte. Was passierte
hier nur? Hatte sie Halluzinationen? Faith war tot, und Miss Parker glaubte
nicht an solche Dinge wie Engel und Geister.
Miss Parkers Augen weiteten sich, als sie die Bedeutung ihrer Gedanken erfaßte.
Der Name Faith - er bedeutete auch Glaube. Und war ihr Glaube nicht wirklich
tot? Gestorben in dem Moment, als sie Bens toten Körper ein letztes Mal in
ihren Armen gehalten hatte? Ihr Glaube an sich selbst, ihre Kraft, an das Gute
im Menschen - er existierte nicht mehr. Sie hatte zugelassen, daß ihr Schmerz
und ihr Haß alles andere unter sich begruben und erstickten.
Zum ersten Mal seit Tagen hatte Miss Parker plötzlich wieder das Gefühl, einen
klaren Gedanken fassen zu können. Sie ließ den Laternenpfahl los, als hätte
sie sich an dem regennassen Metall verbrannt. Was hatte sie bloß getan? Es war
doch so gar nicht ihre Art, vor etwas davonzulaufen. Und hatte sie nicht genau
das getan, als sie aus Blue Cove abgereist war?
Sie verspürte einen Ärger auf sich selbst wie selten zuvor. Ihre Augen
verengten sich, als sie ihre Umgebung musterte. Hier konnte sie nicht in Ruhe
nachdenken.
Miss Parker ging mit schnellen Schritten zur nächsten Ecke und sah dort auf die
Straßenschilder. Überrascht blinzelte sie, als sie feststellte, daß sie seit
dem Morgen einmal quer durch Brooklyn gelaufen war, ohne etwas davon
mitzubekommen. Wirklich großartig. Wenn sie so weitergemacht hätte, wäre es
nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie das Opfer eines Unfalls oder,
schlimmer noch, eines Verbrechens geworden wäre.
Sie überlegte einen Augenblick, wie sie am besten zurück zu ihrem Appartement
gelangen konnte, dann machte sie sich auf den Weg. Zunächst lief sie eine ganze
Weile die breite Hauptstraße entlang, sorgsam darauf bedacht, den eilig vorüberhastenden
Passanten auszuweichen. Immer wieder glitten ihre Augen zur Straße, so, als
suche sie dort etwas - allerdings wußte sie selbst nicht, was.
Nach etwa einer Viertelstunde erreichte sie eine Nebenstraße, die ihren Rückweg
erheblich abkürzen würde. Sie verließ den Menschenstrom, der sich
unaufhaltsam den Bürgersteig entlang wälzte, und betrat die kleine Straße,
die zwar auch nicht gerade leer, aber nach dem Gedränge eben doch geradezu
paradiesisch ruhig war. Nur einige wenige Autos und noch weniger Menschen waren
hier unterwegs.
Erleichtert atmete Miss Parker durch, dann verlangsamte sie ihre Schritte etwas
und ließ ihre Gedanken schweifen. Seit ihrer Abreise aus Blue Cove hatte sie
sich wirklich viel zu sehr gehen lassen - sie konnte nicht einmal mit
Bestimmtheit sagen, vor wie vielen Tagen sie in New York angekommen war. Das
hatte sie nun davon, daß sie versucht hatte, ihre Erinnerungen in Alkohol zu
ertränken. Es war ihr gelungen - allerdings nur mit den Erinnerungen der
letzten Tage.
Der Nieselregen, der sie in den letzten Minuten bis auf die Haut durchnäßt
hatte, hörte auf, gerade, als das Appartementhaus in Sicht kam, in dem sie zur
Zeit lebte.
"Na, großartig", murmelte Miss Parker sarkastisch. "Schon mal
was von Timing gehört?"
Ihre Gedanken drifteten vom aktuellen Wetter zu noch weitaus weniger angenehmen
Dingen. Der Anblick des Appartementhauses hatte sie daran erinnert, mit wessen
Hilfe sie diese Unterkunft gefunden hatte. Sam. Oh, was hatte sie sich nur dabei
gedacht, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Nicht nur, daß er wußte, wo sie
war - nein, er war vermutlich gerade dabei, Jarod auf ihre Spur zu bringen.
Diese ganze Idee mit der schwarzen Lilie war nichts weiter als ein dummer
Kinderstreich gewesen. Tief in ihrem Inneren wußte Miss Parker, daß das nicht
stimmte. Sie wußte ganz genau, warum sie Sam um diesen Gefallen gebeten hatte.
Mit zusammengepreßten Lippen starrte Miss Parker auf den Boden, während sie,
ganz in ihre Gedanken versunken, weiter auf ihr neues Zuhause zulief. Sie
weigerte sich, diesen bestimmten Gedankengang zuende zu führen. Es stimmte
einfach nicht, daß sie Jarod brauchte, daß sie in ihre tiefsten Verzweiflung
instinktiv an etwas gedacht hatte, das ihn zu ihr führen würde!
Ein leichtes Kribbeln in ihrem Nacken ließ Miss Parker mitten in der Bewegung
innehalten. Ihr Kopf ruckte nach oben, und sie wirbelte herum. Jemand folgte
ihr; sie wußte es ganz genau. Suchend glitt ihr Blick über die Straße hinter
ihr und blieb schließlich an einer dunklen Limousine hängen. Ihr Herz schien für
einen Moment auszusetzen; ihr Mund wurde trocken. Ein Wagen des Centres?
Sie zwang sich, das Auto genau zu studieren. Erleichterung erfüllte sie, als
sie erkannte, daß der Wagen nicht vom Centre stammte. Die Nummernschilder
stimmten nicht, und auch der Wagentyp war ein anderer. Noch während sie ihn
beobachtete, wurde der Wagen langsamer und wechselte die Spur. Miss Parker
schluckte, als sie erkannte, daß die Limousine genau auf sie zuhielt.
Wie erstarrt wartete Miss Parker auf dem Bürgersteig. Ein Teil von ihr wollte
einfach davonrennen, doch sie kontrollierte diesen Instinkt eisern. Kein
Weglaufen mehr.
Der Wagen hielt; Wassertröpfchen glänzten auf dem schwarzen Metalliclack und
den dunkel getönten Scheiben. Eine halbe Ewigkeit schien zu vergehen, in der
Miss Parker sich plötzlich an mehrere andere Zeitpunkte erinnerte, zu denen sie
diesen Wagen während ihres Aufenthaltes in New York gesehen, ihn aber nicht
wirklich bemerkt hatte. Als sie am letzten Abend die Bar verlassen hatte. Vor
zwei Tagen, als sie im Central Park gewesen war. Und das erste Mal, als sie...
Die hintere Wagentür ging auf und eine bekannte männliche Stimme erklang aus
dem Wageninneren: "Ich weiß, es ist nicht mehr weit bis zu deiner... ah...
Residenz, aber vielleicht möchtest du trotzdem einsteigen."
... die Zweigstelle von Tanaka Enterprises besucht hatte.
"Tommy Tanaka", sagte Miss Parker und bemühte sich gar nicht erst,
das Erstaunen aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie trat um die geöffnete Tür
herum und kletterte in die Limousine. Tommy sah ihr ernst entgegen, einen
besorgten Ausdruck in den Augen. Er streckte ihr die Hand entgegen und zog sie
auf den Sitz ihm gegenüber.
"Hast du jetzt genug gelitten, Parker?" fragte er, und obwohl sein
Gesicht eine starre Maske der Ruhe war, verriet das leichte Zittern seiner
Stimme, wie aufgebracht er in Wirklichkeit war.
"Ich hoffe, du erwartest nicht, daß ich mich freue, dich zu sehen",
gab Miss Parker verärgert zurück. Wenn sie etwas absolut nicht leiden konnte,
war das, wenn andere Menschen sich in ihr Leben einmischten. Mit voller Absicht
ignorierte sie die Frage ihres ehemaligen Liebhabers. Nur, weil sie einmal eine
intime Beziehung miteinander gehabt hatten, hieß das noch lange nicht, daß er
ihr in ihr Leben hineinreden durfte.
Tommy ließ ihre Hand los - widerstrebend, soweit sie das beurteilen konnte -
und lehnte sich zur Seite, um die Tür zu schließen. Dann wandte er sich an den
Fahrer.
"Zurück in mein Büro", sagte er auf Japanisch.
"Ich möchte nicht in dein Büro", sagte Miss Parker mit einer Ruhe,
die sie nicht fühlte, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Tanakas Augen
weiteten sich leicht, verrieten so seine Überraschung.
"Hast du gedacht, ich hätte deine Sprache schon wieder verlernt?"
erkundigte sich Miss Parker spöttisch. Sie drehte den Kopf halb zur Seite.
"Fahren Sie ein wenig durch die Gegend", wies sie den Fahrer ebenfalls
auf Japanisch an. Der Mann starrte in den Rückspiegel, suchte den Blick seines
Vorgesetzten. Tommy nickte knapp.
"Parker, was machst du hier?" erkundigte er sich dann. "Ich habe
gehört, was passiert ist, und als Ioyushu-kun mir erzählte, daß du hier in
New York bist und worum du ihn gebeten hast, da mußte ich einfach
herkommen."
Er beugte sich ein wenig zu ihr vor, und seine Stimme nahm einen sanften Klang
an.
"Dein Verlust tut mir wirklich sehr leid, Parker", erklärte er ernst
und voller Mitgefühl. Der Hauch eines Lächelns zupfte an Miss Parkers
Mundwinkeln. In Momenten wie diesen erinnerte sie sich wieder, warum sie einmal
in Tommy Tanaka verliebt gewesen war. Es überraschte sie kaum, daß er nicht
nur über Bens Ermordung Bescheid wußte, sondern anscheinend auch erahnte, was
der Tod des alten Mannes für sie bedeutet hatte. Auch wenn sie einander nur
noch sehr selten sahen, so behielt Tommy sie doch immer im Auge.
"Du hast also davon gehört", schloß sie trocken. Sie hatte nicht
vor, sich von ihrer Wut auf sein Verhalten - seine Einmischung - ablenken zu
lassen. Tommys Augen verengten sich. Eine seiner Hände ballte sich zur Faust.
"Das ist nicht alles, was ich gehört habe", sagte Tommy in dem leisen
Tonfall, der mühsam unterdrückte Wut bedeutete. "Hör mal, ich weiß, daß
du meine Einmischung weder schätzt noch wünschst, aber ich werde nicht dabei
zusehen, wie du deinen Schmerz und deinen Kummer in die Länge ziehst. Wir sind
Freunde. Mehr als das, wenn du mir meinen Willen lassen würdest. Ich will dir
helfen."
Miss Parker verspürte eine verwirrende Mischung aus Rührung und Ärger. Es
gefiel ihr, daß Tommy sich so sehr um sie sorgte, daß er sogar Japan für sie
verlassen hatte. Auf der anderen Seite ärgerte es sie, daß er sie hatte überwachen
lassen, seit sie die Niederlassung von Tanaka Enterprises betreten hatte.
"Du willst mir also helfen", wiederholte Miss Parker und biß sich
nachdenklich auf die Unterlippe. "Und wie?"
Tommys Gesicht hellte sich auf.
"Komm mit mir nach Japan", schlug er vor. Miss Parker lachte laut auf.
"Wie bitte?"
"Du hast mich verstanden. Wieso willst du allein hier in dieser überfüllten
Stadt bleiben, wenn du die Schönheit und die Ruhe meiner Heimat haben könntest?
Ich respektiere, daß du trauerst - aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß
du deine Trauer respektierst."
Sie starrte ihn wortlos an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde
weicher, als er begriff, daß sie ihn nicht verstanden hatte.
"Was du hier tust, dient alles der Ablenkung. Du willst nicht an deinen
Schmerz erinnert werden. Du..."
"Und ist das so falsch?" unterbrach Miss Parker ihn heftig. Er neigte
den Kopf zur Seite.
"Falsch? Nein. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß man mit Schmerz
und Trauer besser fertig wird, wenn man sich in aller Ruhe damit
auseinandersetzt."
Tommy hob seine Hand und bewegte leicht den kleinen Finger, an dem das letzte
Glied fehlte, um seine Worte zu unterstreichen. Miss Parker starrte auf die längst
verheilte Narbe, fühlte eine explosive Mischung aus alten Erinnerungen und
Trotz in sich aufsteigen. Sie war noch nicht bereit, Tommys Hilfe anzunehmen.
"Ich möchte aussteigen", sagte sie in einem knappen Befehlston. Ihr
Gegenüber seufzte schwer, wies aber den Fahrer an, anzuhalten.
"Wie du meinst, Parker. Ich werde noch ein paar Tage länger in der Stadt
sein - falls du es dir anders überlegst", erwiderte ruhig, beinahe sanft,
in seinem überzeugendstem Tonfall.
"Rechne lieber nicht damit", gab Miss Parker zurück. Sie wußte
durchaus, daß sie sich gerade wie ein verzogenes Kind benommen hatte, aber nach
allem, was sie durchgemacht hatte, stand es ihr doch wohl zu, ihren Gefühlen
entsprechend zu handeln.
Tommy suchte ihren Blick, doch sie wich ihm aus, starrte aus dem Fenster, bis
der Fahrer rechts rangefahren war. Die braunen Augen ihre Ex-Geliebten
erinnerten sie zu sehr an ein anderes Paar Augen, als das sie sich zugetraut hätte,
ihrem Blick jetzt standzuhalten. Ein Teil von ihr - ein großer Teil - war mehr
als versucht, sein Angebot anzunehmen, aber etwas, ein vages Gefühl nur, hielt
sie zurück.
Die Limousine hielt, und Miss Parker streckte erleichtert die Hand nach dem Türgriff
aus.
"Mach's gut, Tommy", sagte sie zum Abschied und schickte sich an, den
Wagen zu verlassen. Doch sie hatte nicht mit Tommys Zuneigung zu ihr gerechnet.
Er griff nach ihrer Hand und wartete, bis er ihre Aufmerksamkeit hatte. Dann hob
er ihre Finger an seinen Mund und preßte seine warmen, weichen Lippen zärtlich
gegen ihre Fingerspitzen. Sie schauderte, als diese vertraute Geste alte
Erinnerungen weckte. Beinahe wehmütig erwiderte sie Tommys intensiven Blick. Für
eine Weile sahen sie einander an, dann entzog sie ihm ihre Hand und drehte sich
um.
Miss Parker verließ den Wagen, froh darüber, der verräterischen Enge
entkommen zu sein. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und in ihren Augen standen
Tränen.
'Nimm dich zusammen', ermahnte sie sich selbst zum zweiten Mal an diesem Tag.
Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so emotional.
Heftiger als nötig warf sie die Autotür zu. Der Knall, mit dem die Tür
zufiel, schreckte sie auf aus ihren Gedanken. Sie sah auf ihre Hand, an deren
Fingern sie noch immer die sanfte Berührung von Tommys Lippen spüren konnte,
und bemerkte, daß sie zitterte. Mit einem Seufzend löste sie sich von der
Limousine.
Als sie sich umsah, stellte sie fest, daß sie entweder nicht weit gefahren
waren oder Runden um den Block gedreht hatten, denn sie stand beinahe an
derselben Stelle, an der sie eingestiegen war. Es waren nur noch ein paar
hundert Meter bis zu ihrer Wohnung, und seltsamerweise erfüllte sie dieses
Wissen mit einer absurden Erleichterung.
Sie ging los, ohne sich nach der Limousine umzudrehen. Wenn Tommy die Nacht im
Auto in Sichtweite ihres Appartements verbringen wollte, war das sein Problem,
nicht ihres.
Es dauerte nicht lange, bis Miss Parker den Hauseingang erreichte. Nachdem sie
die Schlüsselkarte aus ihrer Tasche gezogen und in das Lesegerät gesteckt
hatte, schwang die Tür lautlos nach innen auf. Miss Parker betrat die Lobby,
die - genau wie der Rest des Gebäudes - mit schlichter Eleganz eingerichtet
worden war. Zielstrebig hielt sie auf den Fahrstuhl zu, um dann ungeduldig
darauf zu warten, daß sich die Tür vor ihr öffnete. Zum ersten Mal seit
langer Zeit war sie zu sehr in ihre Gedanken versunken, um sich in der engen
Fahrstuhlkabine an das Schicksal ihrer Mutter zu erinnern.
Nach einer halben Ewigkeit, in der sich Miss Parker wieder und wieder fragte, ob
sie nicht vielleicht doch Tommys Angebot annehmen sollte und sich im selben
Moment dafür schalt, erreichte sie schließlich ihr Stockwerk. Die Türen
glitten vor ihr auseinander, und Miss Parker trat müde in den schwach
beleuchteten Korridor hinaus.
Der Abend war noch jung, doch trotzdem fühlte sie sich so müde wie schon seit
langer Zeit nicht mehr. Vielleicht war sie sogar müde genug, um in dieser Nacht
etwas erholsamen Schlaf finden zu können, ohne auf die Hilfe von Alkohol oder
Medikamenten zurückgreifen zu müssen. Ihre Erinnerungen waren schon schlimm
genug, da konnte sie auf die quälenden Alpträume gut verzichten.
Miss Parker seufzte, als sie die Schlüsselkarte in das Lesegerät neben ihrer Tür
steckte. Tommy hatte recht. Wieso tat sie sich das an? Warum war sie nicht
einfach in Blue Cove geblieben, wo sie wenigstens den Komfort ihres eigenen
Hauses hatte?
'Weil dein Vater dort ist. Weil Sydney dort ist. Weil es dich an deine Mutter
erinnert. Weil es dich an Tommy erinnert', wisperte ihre innere Stimme
gnadenlos.
Oh, ja. Das waren nun wirklich Gründe genug, Blue Cove für immer den Rücken
zu kehren.
Sie betrat die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu, streifte ihre Schuhe von
den Füßen und tapste barfuß den Flur entlang. Einen Moment lang spielte sie
mit dem Gedanken, das Licht einzuschalten, entschied sich dann aber dagegen. Das
trübe Licht des frühen Abends paßte einfach zu gut zu ihrer Stimmung.
Unschlüssig blieb sie stehen, als sie das Wohnzimmer erreichte. Eigentlich
hatte sie ja geplant, den Abend wieder in der kleinen Bar zu verbringen, die
sich schnell zu einem ihrer Hauptaufenthaltsorte in New York entwickelt hatte,
doch ihre Begegnung mit Tommy und die Erinnerung an Faith hatten sie zu sehr
aufgewühlt - da wollte sie nicht auch noch Alkohol mit ins Spiel bringen.
'Jarod wäre stolz auf dich', beschied ihre innere Stimme, und Miss Parker
fragte sich, ob das eine sarkastische Bemerkung gewesen war. Einen Herzschlag später
runzelte sie die Stirn. Sich Gedanken über kryptische Bemerkungen einer imaginären
inneren Stimme zu machen, war nicht unbedingt ein Zeichen für geistige
Gesundheit.
"Zeit für ein bißchen sinnlose Berieselung", murmelte Miss Parker.
Sie ging zum Sofa, setzte sich und zog die Decke vom Rücken der Couch, um sie
sich um ihre Schultern zu legen. Dann griff sie nach der Fernbedienung, um den
Fernseher einzuschalten. Ein paar Minuten lang surfte sie durch die Kanäle,
bevor sie das Interesse verlor und sich mit dem Nachrichtensender zufriedengab,
der als letztes auf dem Bildschirm erschien.
Es dauerte nicht lange, bis Miss Parkers Augen schwer wurden. Sie blinzelte
bereits heftig, als plötzlich ein Bericht ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ihre Hand flog zu ihrem Mund, als heftige Übelkeit in ihr aufstieg. Die Bilder,
die dort über den Schirm flackerten, hätten genausogut aus einem ihrer Alpträume
stammen könnten. Stumme Tränen des Entsetzens strömten über ihre Wangen, als
sie hilflos auf ein vergrößertes Foto starrte, das die Ursache für alle ihre
Schuldgefühle und ihren Schmerz zeigte.
"Oh Gott", würgte sie hervor, nur um kurz darauf die Lippen fest
aufeinander zu pressen. Die Fernbedienung rutschte aus ihren wie tauben Händen
und fiel klappernd zu Boden, während Miss Parker auf dem Monitor in ein Gesicht
blickte, das ihrem eigenen ähnlich genug war, um sie ihren Kampf gegen die Übelkeit
verlieren zu lassen.
Ende Teil 12
Fortsetzung folgt...
Feedback wird überschwenglich begrüßt und verhätschelt, wenn ihr es hier
hinterlaßt: missbit@web.de ^_^
Teil 11 | zurück zur Übersicht | Teil 13 |
© 2001 Miss Bit