Kostbare Momente 13 |
Seine Schritte hallten unnatürlich laut durch den halbdunklen Korridor, als
Broots eilig durch das Centre hastete. Der Morgen hatte alles andere als gut
angefangen - Angelo hatte nichts Neues über Miss Parker herausgefunden, und zu
allem Überfluß war er gleich als erstes Mr. Raines in die Arme gelaufen - doch
wenigstens jetzt hatte er eine gute Nachricht zu überbringen. Er grinste, als
er an die Information dachte, die er von Miss Parkers Sweeper Sam erhalten
hatte. Sein Grinsen verblaßte allerdings, als er überlegte, ob seine
Neuigkeiten wohl gut genug waren, um Sydney ein wenig aufzuheitern.
Der alte Psychiater war in den letzten Tagen mehr als niedergeschlagen gewesen.
Zwar versuchte er, sich das nicht anmerken zu lassen, aber Broots war natürlich
trotzdem aufgefallen, daß Sydney mit seinen Gedanken sehr häufig woanders
gewesen war. Seine Sorge um Miss Parker war ihm mehr als deutlich anzusehen, und
Broots wußte, daß auch Jarod ein Grund zur Sorge für Sydney war.
Der Pretender hatte seit seinem erneuten Ausbruch aus dem Centre sporadischen
Kontakt zu Sydney gehalten, daher wußten er und Broots, daß Jarod sich zur
Zeit auf der Suche nach Miss Parker befand. Er hatte wohl einen Tip über ihren
Aufenthaltsort bekommen, wollte aber nicht mehr dazu sagen.
Broots seufzte unglücklich. Auch seine eigene Laune war nicht gerade die beste.
Miss Parkers Verschwinden bedrückte und verängstigte ihn. Ohne sie fühlte er
sich im Centre noch sehr viel unsicherer als sonst. Zudem hatte er am
vergangenen Abend einen Bericht über Bens Ermordung gesehen - und da er diesen
Bericht über einen Mord in Maine in Delaware gesehen hatte, bedeutete das, daß
es sich um eine überregionale Sendung gehandelt hatte. Also standen die Chancen
leider recht gut, daß Miss Parker, wo immer sie auch sein mochte, diesen
Bericht ebenfalls gesehen hatte.
Das Geräusch seiner eigenen Schritte brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.
Seine Schritte klangen jetzt viel dumpfer, weil er, ohne es zu bemerken, den
Hauptkorridor verlassen und den mit Teppich ausgelegten Nebenkorridor zu Sydneys
Büro betreten hatte. Broots verscheuchte seine unangenehmen Gedanken,
konzentrierte sich statt dessen auf seine Neuigkeiten. Er mußte Sydney mit
gutem Beispiel vorangehen, indem er versuchte, sich auf seine Arbeit zu
konzentrieren, um so vielleicht zu Miss Parkers Rückkehr beizutragen. Niemandem
war dadurch geholfen, daß er - oder auch Sydney - den ganzen Tag Trübsal
blies.
Seine Hand schloß sich um die Klinke, doch bevor er sie herunterdrückte,
klopfte er mit der anderen Hand leicht gegen das Holz von Sydneys Bürotür. Ein
leises 'Herein' war die Antwort, die er nach ein paar Sekunden des Wartens
erhielt.
Broots öffnete die Tür und betrat das Büro seines Freundes und Kollegen mit
klopfendem Herzen. Wie schon in den letzten Tagen war er sich auch heute nicht
ganz sicher, was ihn dort erwarten würde. Sydney war zwar nicht der depressive
Typ, aber Broots hegte die leichte Befürchtung, daß in letzter Zeit alles
etwas viel für Jarods ehemaligen Mentor gewesen war.
'Um so besser, daß ich heute gute Neuigkeiten habe', erinnerte sich Broots
energisch an seinen Vorsatz, seinen Freund aufzuheitern.
"Guten Morgen, Sydney", grüßte er, während er Sydney unauffällig
musterte. Zu seiner Überraschung sah Sydney an diesem Morgen endlich etwas
besser aus; sein Gesicht wirkte nicht mehr so eingefallen - 'er muß etwas
geschlafen haben', dachte Broots - und die Sorgenfalten auf seiner Stirn wirkten
im Licht des neuen Morgens weniger scharf. Auch seine Augen wirkten jetzt nicht
mehr so gebrochen, schienen einen Funken neuer Hoffnung zu enthalten. Er lächelte
sogar leicht, als er Broots' Begrüßung erwiderte.
"Ihnen auch einen guten Morgen, Broots."
Erleichterung und Freude über die Informationen, die er besaß, ließen Broots
grinsen. Sein Grinsen wuchs noch in die Breite, als sich Sydney von seiner guten
Laune anstecken ließ und ihn mit einem auffordernden Lächeln ansah.
"Syd, das raten Sie nie", platzte es aus Broots heraus. Es bedurfte
nur Sydneys leicht gehobener Brauen, um ihn fortfahren zu lassen. "Lyle ist
verhaftet worden!"
"Was, schon wieder?" fragte Sydney ungläubig, und auch er grinste
noch breiter als zuvor.
Broots nickte heftig und dachte daran zurück, wie er sich mit Sydney über
Lyles erste Verhaftung unterhalten hatte. Diese Nachricht hatte sich wie ein
Lauffeuer im Centre verbreitet - sehr zu Lyles Verdruß - und war noch immer
eins der wichtigsten Gesprächsthemen im Technikraum. Es waren zwar nur wenige
Einzelheiten bekannt geworden, doch sowohl Sydney, als auch Broots hätten ihm
diesen Raubmord ohne weiteres zugetraut. Nur wußten sie beide, daß er es nicht
gewesen sein konnte, da sie ihn zur fraglichen Zeit im Centre gesehen hatten.
Sydney hatte während ihres Gesprächs auf die Ironie der Situation hingewiesen
und dann geäußert, daß es ihm egal wäre, für welches Verbrechen Lyle
letztendlich verurteilt werden würde - aber es wäre doch geradezu
ausgleichende Gerechtigkeit, wenn er aufgrund der einen Straftat, die er gar
nicht begangen hatte, für all seine anderen, ungesühnten Verbrechen büßen müßte.
"Ich wüßte zu gerne, wer oder was dahintersteckt", überlegte Broots
laut. Sydney nickte zustimmend, während er in einer unbewußten Geste die
Fingerspitzen aneinanderlegte und etwas einnahm, was Broots seine
'Nachdenkhaltung' nannte. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, den Blick
unverwandt ins Leere gerichtet, saß Sydney nun an seinem Schreibtisch. In
diesem Moment wirkte er so sehr wie sein altes, unbekümmertes Selbst, daß
Broots erleichtert entschied, daß seine Neuigkeiten gut genug gewesen waren.
"Wenn ich es nicht besser wüßte...", murmelte Sydney mit einemmal.
"Was meinen Sie, Syd?" erkundigte sich Broots neugierig. Der
Psychiater erwachte aus seiner nachdenklichen Trance und bedachte Broots mit
einem schiefen Lächeln.
"Ist nur eine Vermutung. Wissen Sie schon irgendwelche Einzelheiten? Warum
ist er dieses Mal verhaftet worden?"
Broots schüttelte bedauernd den Kopf.
"Sam konnte mir nicht viel mehr sagen, als daß Lyle wieder verhaftet
wurde. Er meinte nur, daß es wohl einen Zusammenhang zu seiner ersten
Verhaftung gäbe."
"Hmmm", machte Sydney geistesabwesend. "Mir will einfach nicht
aus dem Kopf gehen, daß es Asiaten waren, die er überfallen haben soll. Aber
wir beide wissen, daß er es nicht gewesen sein kann, habe ich recht?"
"Stimmt", bestätigte Broots, während er sich insgeheim fragte,
worauf Sydney wohl hinauswollte.
"Broots, das kann kein Zufall sein. Mr. Lyle hat es sich mit den Yakuza
verscherzt; es wäre also durchaus möglich, daß sie etwas damit zu tun
haben."
"Meinen Sie wirklich?" fragte Broots, die Augen leicht geweitet.
Sydney nickte.
"Ja. Nur der Zeitpunkt überrascht mich. Warum ausgerechnet jetzt? Wenn wir
bloß mehr herausfinden könnten..."
Er brach mitten im Satz ab, den Blick unverwandt auf Broots gerichtet. Der
Techniker spürte, wie sich eine altbekannte, unangenehme Ahnung in ihm regte.
"Oh nein, Sydney, das kann nicht Ihr Ernst sein", wehrte er die Idee
entsetzt ab. "Ich kann doch nicht in den Polizeicomputer einbrechen! Das...
das wäre ein Verbrechen!"
"Sind Sie denn gar nicht neugierig, Broots?"
"Worauf? Wie viele Jahre mir der Richter dafür aufbrummen würde?"
gab Broots düster zurück.
"Broots, ich habe das Gefühl, daß uns weitere Informationen über Lyle
sehr weiterhelfen würden. Vielleicht sogar in Bezug auf Miss Parker", erklärte
Sydney eindringlich.
'Oh ja, sehr fair von Ihnen', dachte Broots, 'bringen Sie ruhig Miss Parker ins
Spiel.' Wie konnte er jetzt noch ablehnen? Mit einem Seufzen gestand er die
Aufgabe seines Widerstandes ein.
"Na schön, ich werde heute abend länger im Centre bleiben und einen der
Computer im Technikraum benutzen. Mit sehr viel Glück läßt sich die Spur dann
nicht bis zu mir zurückverfolgen, falls die Polizei etwas bemerkt", gab
sich Broots endgültig geschlagen. Sydney lächelte ihn zufrieden an.
"Ich danke Ihnen, Broots", sagte Sydney in seinem aufrichtigsten
Tonfall. "Ah, fühlt es sich nicht viel besser an, endlich wieder etwas zu
tun?"
Broots sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. Darauf hätte er auch wirklich früher
kommen können. Was Sydney letztendlich gefehlt hatte, war das Gefühl, etwas
Sinnvolles zu der Suche nach Miss Parker beizutragen - auch wenn er im Moment
noch nicht unbedingt eine Verbindung zu Lyle und dessen aktuellen Problemen
erkennen konnte. Doch wenn es Sydney half...
"Vielleicht könnten Sie ja in der Zwischenzeit versuchen, etwas mehr über
Lyles Verbindungen zu den Yakuza herauszufinden", schlug er zaghaft vor. In
Sydneys Augen leuchtete für einen kurzen Moment ein Funke auf, der ihn mehr als
alles andere davon überzeugte, das Mysterium um Lyles Verhaftung aufzuklären.
"Ist gut", antwortete der Psychiater mit einem lange vermißten Elan.
"Ich weiß auch schon ganz genau, an wen ich mich wenden werde."
"Okay, dann... dann mache ich mich jetzt mal lieber an die Arbeit",
brachte Broots hervor, tapfer bemüht, sein erleichtertes Grinsen so gut es ging
zu unterdrücken. Er drehte sich um und ging zur Tür. Als er schon halb draußen
war, hörte er noch, wie Sydney ihm etwas nachrief.
"Danke für die gute Nachricht, Broots!"
"Gern geschehen", murmelte der Techniker und gab endlich den Kampf
gegen sein Grinsen auf.
***
"Nicht zu fassen. Es ist doch einfach nicht zu fassen", murmelte ein
anderer Mann an einem anderen Ort innerhalb von Blue Cove. "Polizeiwillkür
ist das. Ich bin unschuldig."
Lyle hielt sich nur mühsam unter Kontrolle, als er hinter einem Angestellten
des Centres das Polizeirevier verließ. Diese zweite Verhaftung hatte ihn mehr
als verunsichert; er verspürte momentan eine lähmende Mischung aus Zorn und
Angst.
Angeblich waren neue Beweise gegen ihn aufgetaucht. Was genau, hatten ihm die
Polizeibeamten nicht gesagt. Sie hatten ihn nur erneut befragt, einen großen
Teil der Nacht und den ganzen Morgen lang. Mittlerweile vermutete Lyle, daß
sich ein weiterer Augenzeuge gemeldet hatte, der noch detailliertere Angaben zur
Person des Täters hatte machen können. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund
schienen diese Angaben genau auf ihn, Lyle, zu passen.
"Ich verstehe das einfach nicht", brummte Lyle. Er begann langsam, an
seinem Verstand zu zweifeln. In der fraglichen Nacht hatte er mit Jarod um sein
Leben gekämpft, und doch sprachen alle Beweise gegen ihn. Wenn er es nicht
besser gewußt hätte, würde er sich selbst für schuldig halten. Wie, zum
Henker, war das möglich?
Etwa auf halber Höhe der kurzen Treppe, die vom Revier herunter auf die Straße
führte, hielt Lyle mitten in der Bewegung inne. Eine Limousine des Centres
stand nur wenige Schritte von ihm entfernt am Straßenrand. Das hintere Fenster
des dunklen Wagens war heruntergekurbelt; sein Vater starrte ihm mit finsterer
Miene aus dem Wageninneren entgegen.
'Großartig', dachte Lyle sarkastisch, 'genau darauf hat der Alte doch bloß
gewartet.'
Der Sweeper, der ihn aus der Untersuchungshaft ausgelöst hatte, ging um den
Wagen herum, stieg ein und ließ den Motor an. Lyle stand wie erstarrt da, den
Blick auf den Mann gerichtet, den er aus vielen Gründen 'Vater' nannte, die
Gedanken in seinem Bewußtsein in Aufruhr. Was sollte er jetzt tun?
"Steig ein", grollte Parker in seine Richtung und nahm ihm damit die
Entscheidung ab. Mr. Lyle setzte sich widerwillig in Bewegung. Er umrundete den
Wagen, nachdem er den Wunsch niedergerungen hatte, sich nach vorne neben den
Fahrer zu setzen, stieg ein und nahm neben seinem Vater Platz.
"Fahren Sie", wies Mr. Parker den Sweeper hinter dem Steuer an. Seine
Miene wirkte versteinert, doch seine Augen spiegelten kaum verhüllte Wut und Ärger
wider.
Obwohl Lyle sich versucht fühlte, sich zu verteidigen, hielt er den Mund fest
geschlossen. Wenn er viel Glück hatte, würde sein Vater ebenfalls nicht davon
anfangen, in was für eine Situation er sich nun schon wieder gebracht hatte.
'Nicht, daß ich diesmal etwas für meine Situation kann', dachte Lyle bitter.
Nein, er hat sich tatsächlich nichts vorzuwerfen. Er hatte die Interessen des
Centres doch schließlich geschützt, indem er sein Alibi - den Kampf mit Jarod
im Centre - nicht preisgegeben hatte. Nur bezweifelte er, daß der alte Parker
die Sache von diesem Standpunkt aus sehen würde.
Eine ganze Weile fuhren sie schweigend durch Blue Cove. Lyle hatte zu hoffen
begonnen, daß der Fahrer in bei seiner Wohnung absetzen würde, doch er schlug,
kurz nachdem sie den Ortsrand erreicht hatten, den Weg ins Centre ein. Mr. Lyle
verzichtete darauf, seinen Vater darauf hinzuweisen, daß er in der letzten
Nacht nicht allzuviel Schlaf bekommen hatte. Er sah keinen Grund, den alten Mann
noch weiter gegen sich aufzubringen.
Lyle konnte sein Glück kaum fassen, als er nach einer endlos erscheinenden
Weile hinter einer Straßenbiegung das Centre auftauchen sah. Sein Vater hatte während
der ganzen Fahrt kein Wort zu ihm gesagt; das war mit Sicherheit besser, als
sich eine weitere Strafpredigt anhören zu müssen. Er begann, sich zu
entspannen - zu früh, wie sich kurz darauf herausstellte.
"Ich hatte dich doch gebeten, das Centre nicht wieder in so eine Situation
hineinzuziehen", sagte Parker tonlos. Er hatte die Augen starr geradeaus
gerichtet; die Knöchel seiner Hände, die er gefaltet in seinem Schoß liegen
hatte, traten weiß hervor.
"Gebeten?" fragte Lyle hitzig und starrte seinen Vater wütend an. Der
Schlafmangel erstickte die mahnende Stimme der Vorsicht in seinem Inneren.
"Befohlen dürfte es eher treffen! Dad, ich weiß nicht, was da los ist.
Ich habe mit dieser ganzen Sache nichts zu tun!"
"Ich habe dich gewarnt, mehr als einmal", entgegnete sein Vater, so,
als hätte er Lyle gar nicht zugehört - was wahrscheinlich auch der Fall war.
"Das Centre hat für mich oberste Priorität, und ich werde es um jeden
Preis beschützen." Erst jetzt drehte er den Kopf, um den Mann anzusehen,
der vielleicht sein einziger Sohn war. "Um jeden Preis, hörst du?"
Lyle zwang sich, nicht vor der Kälte in den Augen des älteren Mannes zurückzuweichen.
Es lag ein Drohung in diesem Blick, die ihn bis ins tiefste Mark erschütterte.
Er schluckte einmal, zweimal, bemüht, seine Stimme wiederzufinden.
"Dad, ich...", war alles, was er hervorbringen konnte, bevor Mr.
Parker ihn unterbrach.
"Schweig. Du wirst noch eine letzte Chance erhalten, dem Centre deinen Wert
zu beweisen. Mir deinen Wert zu beweisen. Nutze diese Chance, denn ich bin mir
sicher, daß du nicht herausfinden möchtest, was passieren würde, wenn du es
nicht tätest."
Der Wagen hielt vor dem Haupteingang des Centres an. Lyle war nur noch von dem
einen Wunsch beseelt, so schnell wie möglich dieses Auto zu verlassen. Er
streckte die Hand nach dem Türgriff aus und machte sich daran, auszusteigen.
Auf halbem Weg hielt ihn die Hand seines Vaters an seinem Arm zurück. Mr. Lyle
drehte den Kopf, begegnete erneut dem eiskalten Blick des Mannes, der ihn seinen
Sohn nannte.
"Wir wollen doch nicht, daß sich diese Sache in Maine wiederholt, nicht
wahr, Lyle?"
Fast panisch riß sich Lyle los und stolperte auf den Eingang des Centres zu, während
Mr. Parkers letzte Frage wieder und wieder durch seinen Kopf hallte.
Ende Teil 13
Fortsetzung folgt...
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