Kostbare Momente 15 |
Er stand einfach nur da und starrte sie an; es war alles, wozu er fähig war.
Tage waren vergangen - lange, dunkle Tage voller Angst und Zweifel -, seit er
sie das letzte Mal gesehen hatte. Sein Herz trommelte einen schnellen, unregelmäßigen
Rhythmus gegen seinen Brustkorb, während seine Augen starr auf die blasse Frau
auf der anderen Seite des Raumes gerichtet waren. Waren es wirklich nur einige
Tage gewesen, die ihn gelehrt hatten, dem zornigen Flüstern seiner Sorge mehr
Aufmerksamkeit zu schenken als der Suche nach seiner Identität?
Sie saß bewegungslos an ihrem Tisch, das Gesicht halb im Schatten, die Hände
flach auf dem Tisch. Ihre Augen wanderten über seinen Körper, sparten nur sein
Gesicht aus, von dem er sich wünschte, sie möge es für den Rest der Zeit
einfach ansehen. Sekunden verstrichen, für alle anderen erfüllt mit dem Dröhnen
von mechanischer Musik, doch lautlos zwischen ihnen beiden. Sein Atem ging
schneller, schien sich dem Rasen seines Herzens angleichen zu wollen.
Als sie aufstand, wünschte er verzweifelt, er könne sich aus seiner Erstarrung
lösen, doch allein seine Augen schienen noch den Befehlen seines Gehirns zu
gehorchen. Sein Blick sog alle Details ihres Aussehens in sich auf; die
schwarzen, hochhackigen Stiefel; das lange, schwarze Samtkleid, das ihre Figur
wie eine zweite Haut umschmiegte und nicht verbergen konnte, wie dünn sie
geworden war; ihre blasse, beinahe durchscheinend wirkende Haut; ihr langes
Haar, das nicht länger glatt und perfekt zu beiden Seiten ihres Gesichtes lag,
sondern ihren Kopf stumpf und ungezähmt wie ein schwarzer Schleier umgab. Sie
war eine wilde Schönheit, die ihn in ihrem Blick gefangenhielt.
Hilflos sah er zu, wie sie nach ihrem schwarzen Mantel griff und ihn überstreifte.
Ihre rechte Hand verschwand in einer der Taschen, und sofort verriet ihre
gesamte Körperhaltung, daß sie dort etwas gefunden hatte, das ihr genug
Selbstsicherheit verlieh, um diese Situation zu kontrollieren.
Er ahnte, nein, wußte, was sie nun ihrer blassen Hand hielt. Noch immer hielt
er fest an dem Band, das seine Emotionen mit den ihren verknüpfte, ihm verriet,
wie er Zugang zu ihr finden konnte. Wenn er sich nur bewegen könnte!
Ihr Blick bohrte sich in ihn hinein, doch es lag keine Emotion darin, nur eine
stumme Herausforderung. Sie stand neben dem Tisch, wirkte mit einemmal wie eine
Erscheinung aus der Vergangenheit auf ihn. Unnahbar, kühl; gleichzeitig
verletzlicher, als sie selbst es ahnte. Allein an einem dunklen Ort, auf der
Flucht vor menschlicher Nähe und zugleich auf der Suche danach.
Er fragte sich, ob sie spüren konnte, daß er sie verstand, ob sie in seinem
Gesicht so lesen konnte wie er in ihrem.
Reglos standen sie da, gefangen in einem Moment, der die Entscheidung bringen würde
über Jäger und Gejagten. Dieser Moment zwischen ihnen dauerte nur einen
Herzschlag, doch gleichzeitig schien er ein ganzes Leben auszufüllen. Ihr
Leben. Sein Leben.
Es fiel ihm nicht leicht, doch er überließ ihr die Entscheidung. Obwohl er wußte,
daß sie noch immer nicht bereit war, ihm mit ihrem Herzen zu vertrauen,
schmerzte es ihn doch, als sie ihren Blick von ihm abwandte und davonging. Wieso
nur gestattete er sich selbst nie den Luxus, auf seine besonderen Fähigkeiten
zu verzichten, so daß ihn das Verhalten anderer Menschen überraschen konnte?
Als er sie weggehen sah, gelang es ihm endlich, sich wieder zu bewegen. Er
folgte ihr mit langen Schritten, während er in Gedanken durchging, was er zu
ihr sagen würde, wenn er sie eingeholt hatte.
Sie verschwand durch den Notausgang, doch er war so dicht hinter ihr, daß die Tür
noch nicht ganz zugefallen war, als er sie erreichte. Mit einer heftigen
Bewegung stieß er die Tür auf und trat hinaus in die schneidend kalte Luft des
späten Nachmittags. Doch das war nicht die einzige Kälte, die ihn beim
Verlassen des Nachtclubs begrüßte. Das kühle Metall einer Mündungsöffnung
preßte sich plötzlich gegen seine rechte Schläfe; eisblaue Augen musterten
ihn mit einer Mischung aus Zorn und Triumph. Er spürte, wie sie ihren Ärger
als einen Schutzwall benutzte, der ihn erfolgreich aus ihrer Gefühlswelt
ausschloß. Sein eigener Zorn wurde geweckt; hilflos ergab er sich ihm. Ein
leises Klicken war in der schmalen Gasse zu hören, in der sie standen, kündigte
an, daß die Waffe in ihrer Hand nun entsichert war.
Miss Parker starrte zu ihm empor, unbeeindruckt von dem Größenunterschied
zwischen ihnen beiden. Jarod hielt ihrem Blick stand, entschlossen, diesmal
keinen Deut weit nachzugeben.
"Ich dachte, wir wären alte Freunde. Weißt du nicht mehr, wer ich
bin?" fragte er, sein Tonfall gepreßt und gleichzeitig bittend.
"Und ich dachte, das hätten wir geklärt, Jarod", gab sie kühl zurück.
"Du und ich, wir sind keine Freunde. Es wäre besser für dich, wenn du das
endlich verstehen würdest."
Dienten ihre Worte nur dazu, ihn zu verletzen, oder war sie vielleicht wirklich
davon überzeugt, daß sie der Wahrheit entsprachen?
"Nein", sagte er und schüttelte den Kopf, "das werde ich nicht
akzeptieren. Ich bin hergekommen, um mit dir zu reden. Über dich. Über
uns."
Ihre Augen verengten sich, und sie preßte ihre Lippen für einen Moment fest
aufeinander.
"Ich weiß genau, warum du hergekommen bist. Du hast geglaubt, daß ich
deine Hilfe brauche. Nun, du hast dich geirrt. Es geht mir gut. Ich brauche
keine Hilfe; ich komme sehr gut allein zurecht. Das war schon immer so, und ich
sehe nicht, warum sich das jetzt ändern sollte."
Erneut klickte der Sicherheitshahn ihrer Waffe. Sie ließ ihre Hand sinken und
verstaute die Waffe wieder in ihrer Manteltasche. Aus dem Augenwinkel sah er das
leichte Zittern ihrer Finger; diese kaum wahrnehmbare Unsicherheit ihrerseits
genügte, um seinen Zorn abzukühlen.
"Es ist vorbei, Jarod", wisperte sie rauh, das Gesicht von ihm
abgewandt. "Es endet jetzt und hier."
Damit drehte sie sich um, machte einen Schritt von ihm fort, offensichtlich in
der Absicht, ihn hier allein zurückzulassen. Doch Jarod war nicht bereit, sie
noch einmal auf diese Weise aus seinem Leben gehen zu sehen. Er war einmal dumm
genug gewesen, sie gehen zu lassen - dieses Mal würde er alles in seiner Macht
Stehende tun, um sie mit ihren Gefühlen zu konfrontieren und dadurch eine
Chance zu erhalten, ihren Panzer aus Angst und Zorn zu durchstoßen.
Seine Hand schnellte nach vorne, schloß sich um ihren Arm. Er zog sie zu sich,
drehte sie um, so daß sie ihn wieder ansah. Sie war gefangen, nicht so sehr
wegen seiner Finger, die sich fest um ihren Arm geschlossen hatten, sondern in
seinem intensiven Blick. Auch wenn es für ihn nicht ungefährlich war, legte er
die ganze Tiefe seiner Emotion für sie in seinen Blick, ließ sie sehen, was
ihn bewegte.
'Es ist fast wie bei unserer Begegnung im Centre', schoß es Jarod auf einmal
durch den Kopf. Er suchte ihren Blick und hielt ihn fest, versuchte zu ergründen,
ob sie diese Ähnlichkeit ebenfalls empfand. Aber ihr Blick war leer, kündete
einzig von ihrem verzweifelten Bemühen, ihre Emotionen gefangenzuhalten und
somit sicher vor ihm zu verwahren.
Jarods Finger schlossen sich fester um ihren Arm, bis er fast sicher war, daß
sein Griff ihr Schmerzen bereitete. Sein rationaler Kern war sich dessen bewußt,
daß er ihr wehtat, aber die Stimme seiner Vernunft war machtlos gegen den Sturm
der Emotionen, den Parkers Verhalten in ihm ausgelöst hatte. Als er sah, wie
sich ihre Augen veränderten, faßte er einen Entschluß. Ihr Schmerz würde
eine Öffnung in ihren Mauern aus Wut und Angst schaffen, würde ihm erlauben,
zu ihr vorzudringen.
"Nein, es ist nicht vorbei", wisperte er so leise, daß sie sich näher
zu ihm lehnen mußte, um seine Worte zu verstehen. "Es fängt gerade erst
an."
Ihre Augen weiteten sich ob der Bedrohlichkeit seiner Worte. Sie zog an ihrem
Arm, versuchte, sich dadurch von ihm zu lösen, aber er gab nicht nach, umschloß
den Arm nur noch fester. Seine Fingerknöchel begannen bereits, weiß
hervorzutreten. Miss Parkers Augen verfärbten sich dunkel vor Schmerz, doch sie
sagte nichts, blickte ihn nur stumm an.
"Bens Ermordung hat dich schwer erschüttert", fuhr Jarod im selben flüsternden
Tonfall wie zuvor fort. Ein Zittern lief, deutlich spürbar für ihn, durch Miss
Parkers Körper. Es war ihm Antwort genug.
"Du glaubst, es sei allein deine Schuld, daß er jetzt tot ist",
stellte Jarod nach einer kaum wahrnehmbaren Pause in normaler Lautstärke fest.
Noch immer zeigte sich keine Regung in Miss Parkers Augen, abgesehen von dem
Schmerz, den sein fester Griff ihr verursachte. "Er ist tot, ermordet weil
er dich kann..."
"Ich habe ihn nicht ermordet!"
Ihr zorniger Schrei hallte durch die Gasse, wurde von den hohen Wänden zurückgeworfen
und kehrte als anklagendes Echo zurück. Sie sah ihn mit großen Augen an, Zorn
und Enttäuschung so deutlich darin, daß es Jarod fast das Herz brach. Noch
einmal versuchte sie, sich mit einer heftigen Bewegung von ihm loszureißen,
aber er hielt sie fest, wagte einfach nicht, sie loszulassen. Statt dessen
lockerte er seinen Griff etwas, ließ seine Hand an ihrem Arm nach oben gleiten,
bis sie an ihrer Schulter ruhte. Er umfaßte auch ihre andere Schulter, verstärkte
seinen Griff wieder etwas und schüttelte sie leicht, um so ihre ganze
Aufmerksamkeit zu erringen.
"Das weiß ich", versicherte er ihr in seinem eindringlichsten
Tonfall. "Ich wollte damit nicht sagen, daß ich dich für Bens Mörderin
halte. Es ist nicht deine Schuld, daß er tot ist; das ist alles, was ich sagen
wollte. Die Wahrheit ist aber, daß er tot ist, weil er dich kannte. Doch dieser
Umstand gibt dir keine Schuld an seinem Tod."
Für einen winzigen Moment glaubte er, endlich zu ihr vorgedrungen zu sein. Tränen
schimmerten in ihren Augen, als sie ihn ansah, während sie über seine Worte
nachdachte. Vielleicht war das alles, was sie gebraucht hatte; eine bloße Bestätigung,
daß das fürchterliche Verbrechen in Maine nicht ihre Schuld war. Jarods
Hoffnung zerstob jedoch, als er sah, wie Miss Parker mehrmals heftig blinzelte,
um ihre Tränen zu vertreiben. Ihr Gesicht verhärtete sich, und ihre Augen
schlossen ihn wieder aus ihrer Gefühlswelt aus.
"Tu das nicht", bat er sie leise. "Tu das bitte nicht."
Ihre einzige Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. Sie biß sich auf die
Unterlippe, als müßte sie sich auf diese Weise daran hindern, ihm etwas zu
sagen. Jarod seufzte innerlich. Ihm blieb keine andere Wahl. Miss Parker ließ
einfach nicht zu, daß er es ihr leicht machte. 'Es tut mir leid, Parker',
dachte er kummervoll. 'Aber es geschieht nur zu deinem besten.'
"Es geht hier gar nicht nur um Ben", sagte er laut, seinen Blick fest
auf ihr Gesicht gerichtet. Sie wich seinem Blick nicht aus, doch trotzdem gelang
es ihm nicht, in den eisblauen Tiefen ihrer Augen zu lesen. Er bewegte sich ohne
Orientierungshilfe auf sehr gefährlichem Gebiet, doch er war fest davon überzeugt,
daß es seine - und ihre - einzige Chance war.
"Du trauerst noch immer um Tommy", drang er gnadenlos weiter in sie.
Er sah, daß sie sich noch immer auf die Lippe biß und erkannte plötzlich,
warum. Es waren keine Worte, die sie vor ihm verstecken wollte - es war das
leichte Zittern ihrer Unterlippe, das ihm ihre innere Aufgewühltheit mit
Sicherheit verraten hätte. Diese Erkenntnis erleichterte Jarod, denn sie
bedeutete, daß er sich auf dem richtigen Weg befand; zugleich machte sie ihm
aber auch angst, weil ihnen das schlimmste noch bevorstand.
"Er hat dich geliebt und dir etwas wiedergegeben, was das Centre dir vor
langer Zeit genommen hat. Familie. Das Vertrauen in menschliche Nähe. Doch
dieses Geschenk, das er dir gemacht hat, mußte er mit seinem Leben
bezahlen."
Seine Stimme war immer leiser, aber auch immer eindringlicher geworden. Es war
mehr als deutlich, daß seine Worte ihre Wirkung auf Miss Parker nicht
verfehlten. Erneut hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt; erste Anzeichen
ihres emotionalen Schmerzes verschleierten ihren Blick. Obwohl er sah, daß es
ihr nicht leicht fiel, hielt sie seinem Blick noch immer stand.
"Tommy", brachte sie hervor, ein mühsam unterdrücktes Schluchzen in
der Stimme. Entsetzen schlich sich in ihren Blick, als sie begriff, wie dünn
die Schicht aus Selbstbeherrschung war, mit der sie ihre Trauer bis jetzt verdrängt
und beherrscht hatte. "Sie haben ihn getötet, weil ich für ihn das Centre
verlassen hätte..."
Ihre Stimme erstarb, als sie ein letztes Mal versuchte, sich wieder unter
Kontrolle zu bringen. Jarod holte zitternd Luft und setzte zu seinem letzten
Schlag an.
"Sie konnten nicht zulassen, daß du mit Tommy fortgehst. Und weil sie dich
nicht opfern konnten..." Er ließ das Ende des Satzes kurz in der Luft hängen,
bevor er weitersprach. "Tommy und Ben waren einzigartige Stützen in deinem
Leben. Sie standen dir nahe, haben dich ebenso geliebt wie du sie. Sie wurden
dir genommen, so daß du dein Leben wieder allein meistern mußtest. So, wie es
schon einmal war, vor mehr als zwanzig Jahren."
Miss Parkers Widerstand erstarb mit einemmal; sie starrte in Jarods Gesicht,
verzweifelt bemüht, einen anderen Sinn als den von ihm beabsichtigten in seinen
Worten zu erkennen. Es gelang ihr nicht.
"Deine Mutter starb im Centre; starb für dich, einzig, weil sie deine
Mutter war", flüsterte Jarod. Zu mehr war er nicht fähig; er traute
seiner Stimme nicht länger. Nur zu gerne hätte er diese Konfrontation
vermieden, doch Miss Parker hatte ihm keine Wahl gelassen. Er hatte ihr zeigen müssen,
was das Centre aus ihrem Leben gemacht hatte, welches Unrecht ihr und den von
ihr geliebten Menschen angetan worden war. Nur so konnte er hoffen, daß er
endlich einen Weg finden würde, sie mit sich selbst und ihren Gefühlen - auch
denen für ihn - auszusöhnen.
Ein Zittern lief durch ihren Körper; Tränen rannen über ihre Wangen. Sie
wandte den Blick von ihm ab, senkte den Kopf und stand ein paar Sekunden lang
einfach nur so da, gestützt allein von seinen Händen um ihre Schultern. Dann
öffnete sie den Mund und ein trockenes Schluchzen bahnte sich seinen Weg nach
draußen. Miss Parker ließ sich nach vorne sinken, bis ihr Kopf an Jarods Brust
ruhte. Sofort schloß er sie in seine Arme, hielt sie so fest er nur konnte.
Weitere Schluchzer erschütterten ihre Körper, ließen Jarod erahnen, wie tief
der Schmerz sein mußte, den sie nun schon so lange allein mit sich
herumgetragen hatte. Was mochte es für ein Gefühl sein, all jene Menschen zu
verlieren, denen sie einen Teil dieses Schmerzes anvertraut hatte, mit denen sie
versucht hatte, ihre Bürde zu teilen? Er schreckte davor zurück, sich diese
Frage selbst zu beantworten. Es gab Dinge, die er sich einfach nicht vorstellen
wollte. Und doch, um Miss Parkers Willen, würde er es tun, denn er begriff, daß
er ihr nur würde helfen können, wenn er vorher ihre emotionale Last verstand.
Als er sich später an diese Begegnung zurückerinnerte, konnte er nicht mehr
sagen, wie lange sie dort engumschlungen in dieser Gasse gestanden hatten. Er
erinnerte sich nur noch an Miss Parkers leise Worte, die sie zwischen
Schluchzern gegen seine Brust gemurmelt hatte.
"Bitte bring mich fort von hier, Jarod."
Und genau das hatte er dann auch getan.
***
Regen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster in Sydneys Büro. Er saß schon
seit den frühen Morgenstunden an seinem Schreibtisch, versunken in seine
Gedanken. Der gestrige Tag war in mehr als einer Hinsicht sehr aufschlußreich
gewesen; er hatte sich mit mehreren Leuten hier im Centre unterhalten und so
Informationen gesammelt. Das Problem war nur, daß es ihm nicht gelingen wollte,
zwischen den einzelnen Informationen einen plausiblen Zusammenhang herzustellen.
Zunächst hatte er sich bemüht, ein halbwegs normales Gespräch mit Mr. Lyle zu
führen. Miss Parkers Zwillingsbruder war ihm als die logischste Wahl
erschienen, um mehr über diese mysteriösen Verhaftungen und die Anklage
herauszufinden. Sehr zu seinem Erstaunen hatte Lyle zwar nicht seine übliche Überheblichkeit
an den Tag gelegt, aber er hatte, ähnlich wie Broots an seinen schlimmsten
Tagen, extrem nervös, ja fast schon paranoid, gewirkt. Sydneys Fragen hatte er,
wenn überhaupt, nur sehr knapp beantwortet, und nach nicht einmal fünf Minuten
hatte er den Psychiater mißtrauisch angesehen und sich nach dem Grund für
Sydneys plötzliches Interesse an seiner Situation erkundigt. Offenbar hatte
Lyle es für möglich gehalten, daß Sydney hinter der falschen Anklage gegen
ihn steckte.
Nachdem er dieses Gespräch hinter sich gebracht hatte, war Sydney hinüber in
den Forschungstrakt gegangen, um ein paar Worte mit Raines zu wechseln.
Normalerweise stand eine Unterhaltung mit Raines ganz unten auf der Liste von
Dingen, die er freiwillig initiieren würde, aber Raines hatte - zumindest in
Sydneys Augen - ein großes Interesse daran, Lyle nachhaltig zu schaden. Nicht
nur, daß Lyle der Sohn von Mr. Parker - also Raines größtem Konkurrenten hier
im Centre - war, nein, er entwickelte besonders in der letzten Zeit einen immer
größeren Machthunger, den zu kontrollieren Raines nicht mehr lange imstande
sein würde.
Ebenso wie Lyle war Raines äußerst kurzangebunden ihm gegenüber gewesen. Er
hatte erstaunt, fast schon verärgert darüber ausgesehen, daß Sydney den
Forschungstrakt betreten hatte, ohne sich vorher anzukündigen. Es hatte beinahe
so ausgesehen, als wolle Raines etwas, das dort vor sich ging, vor ihm
verbergen. Und wenn er so über seinen ehemaligen Kollegen nachdachte, hielt
Sydney das für durchaus möglich. Doch was immer Raines auch wieder aushecken
mochte, die Ergründung dieses Geheimnisses würde warten müssen, bis das Rätsel
um Lyles momentane Probleme gelöst worden war.
Sydney runzelte die Stirn. Irgendwo mußte es etwas geben, das er übersehen
hatte. Es gab mehr als genug Leute, die einen Grund hatten, Lyle schaden zu
wollen. Nicht alle dieser Leute hatten etwas mit dem Centre zu tun. Da waren zum
Beispiel noch die Yakuza, die Sydneys Meinung nach ohnehin die Hauptverdächtigen
in dieser Angelegenheit waren. Für sie wäre es mit Sicherheit ein leichtes
gewesen, Lyle ein Verbrechen anzuhängen, das nicht er, sondern ein Mitglied der
Yakuza begangen hatte. Doch warum sollten sie ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen,
um aktiv...
Das Klingeln seines Handys unterbrach seinen Gedankengang. Aufgeregt griff er
nach dem kleinen Telefon, das seine einzige sichere Verbindung zu Jarod
darstellte. Nur wenige Menschen kannten seine private Nummer; wer immer ihn also
jetzt anrief, wollte nicht, daß das Centre mithörte.
"Hier spricht Sydney", meldete er sich und lauschte erwartungsvoll auf
die Antwort.
"Hallo, Sydney", erwiderte eine ihm im ersten Moment unvertraute
Stimme. "Major Charles hier."
"Major, stimmt etwas nicht?" erkundigte sich Sydney besorgt. Er hatte
Jarods Vater für den Notfall seine Handynummer gegeben.
"Nun, wie man's nimmt", war die wenig beruhigende Antwort des Majors.
"Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mir damals in der Hütte Ihre Hilfe
angeboten haben?"
Verwirrt fragte sich Sydney einen Moment lang, was der Major meinte, doch dann
fiel ihm wieder ein, worüber sie sich vor wenigen Wochen, die ihm mittlerweile
wie Jahre erschienen, unterhalten hatten.
"Natürlich", sagte er dann. "Was kann ich für Sie tun? Geht es
um Jarod? Oder um Jay?"
"Weder noch, Sydney. Ich würde mich mit Ihnen gerne über Miss Parker
unterhalten."
"Über Miss Parker?" Ohne, daß er es verhindern konnte, schlich sich
eine aggressive Note in seine Stimme. Er wußte, daß es unsinnig war; doch
trotzdem fühlte er sich gezwungen, sie zu verteidigen, auch und besonders
Jarods Vater gegenüber. "Sie haben den Bericht aus Maine im Fernsehen
gesehen, habe ich recht?"
"Ich weiß, daß sie es nicht getan hat, Sydney. Jarod hat mir alles genau
erklärt, bevor er aufgebrochen ist, um sie zu suchen. Mir geht es um etwas
anderes. Ich brauche mehr Informationen über diesen Ben Miller. Als ich Sie
eben danach gefragt habe, ob Sie sich noch an Ihr Hilfsangebot erinnern, wollte
ich Sie damit nicht um Ihre Hilfe bitten. Nun, genaugenommen schon."
Der Major machte eine Pause, wohl, um seine Gedanken zu ordnen. Sydney lächelte
schwach.
"Es ist doch so: Jay und ich haben im Moment nichts weiteres zu tun, als
auf Jarods Anrufe zu warten. Die, wenn ich das als besorgter Vater mal äußern
dürfte, ruhig ein wenig öfter kommen könnten."
Das Lächeln auf Sydneys Gesicht verbreiterte sich etwas. In diesem Punkt
verstand er den Major nur zu gut.
"Aber zurück zum Thema", fuhr der Major fort. "Als wir den
Bericht gesehen haben, ist uns klargeworden, daß diese Ermittlungen eine unnötige
Belastung für Miss Parker darstellen. Also haben wir uns entschlossen, eigene
Ermittlungen anzustellen. Aus diesem Grund rufe ich an. Ich nehme mal an, daß
Sie sich auch schon Ihre Gedanken darum gemacht oder vielleicht sogar schon
Schritte in diese Richtung unternommen haben. Jay und ich möchten Ihnen eine
Zusammenarbeit anbieten."
Sydney schluckte schwer. Er fühlte sich versucht, sich selbst für seine
grenzenlose Dummheit zu ohrfeigen. Wieso hatte er nicht daran gedacht?
"Major, ich weiß gar nicht, wie...", begann er, nur um mitten im Satz
abzubrechen und noch einmal von vorne zu beginnen. "Mein Kollege Broots und
ich, wir sind noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen. Wir sind gerade
dabei, etwas über unseren guten Mr. Lyle herauszufinden."
"Dieser Lyle schon wieder", grollte der Major. "Jarod meinte, er
würde wohl auch eine Rolle bei Mr. Millers Ermordung spielen. Hören Sie,
vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir arbeitsteilig vorgingen. Sie
kümmern sich um Mr. Lyle, was von daher praktisch ist, daß Sie sich ohnehin in
Blue Cove befinden, und Jay und ich sehen, was wir in Maine herausfinden können.
Was meinen Sie dazu, Sydney?"
Für einen Moment war Sydney sprachlos. Er dankte dem Schicksal stumm dafür, daß
es ihn im Ausgleich für seine Kollegen im Centre mit zuverlässigen und
intelligenten Freunden gesegnet hatte.
"Das ist die beste Idee, die ich seit langem gehört habe, Major",
sagte er, aufrichtig froh.
"Prima, dann machen wir es so", bestätigte der Major. "Und
bitte, Sydney, nennen Sie mich Charles."
"Ich danke Ihnen, Charles."
"Keine Ursache, Sydney, wirklich nicht. Ich helfe Miss Parker sehr gern;
nur bedauere ich die Umstände unserer Zusammenarbeit sehr. Wobei mir einfällt:
ich würde Sie gerne etwas fragen. Haben Sie vielleicht eine Idee, warum der Mörder
ein so großes Interesse an dem Wort Vater zu haben scheint? Jarod hat mir
leider nicht alle Details erzählt, deshalb beschäftigt mich diese Sache."
Sydney spürte, wie bei der Erinnerung an das Bild aus Bens Wohnzimmer jegliche
Farbe aus seinem Gesicht wich. Mit seiner freien Hand hielt er sich an der
Tischkante fest.
"Vor zwei Jahren hat Jarod herausgefunden, daß die Möglichkeit besteht,
daß Ben Miller der Vater von Catherines Kindern ist. Da Lyle Miss Parkers
Zwillingsbruder ist, vermuten wir, daß er der Mörder von Ben ist", erklärte
Sydney eilig. Er sprach nicht sehr gerne über dieses Thema und versuchte nun,
es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
"Ah, ich verstehe", meinte der Major nach einer kurzen Pause.
"Ja, das wäre durchaus eine Erklärung. Ich danke Ihnen, Sydney. Leider muß
ich jetzt Schluß machen, aber ich melde mich, sobald wir etwas Neues
herausgefunden haben."
"Ich habe Ihnen zu danken, Charles. Falls wir irgend etwas für Sie tun können,
zögern Sie bitte nicht, uns zu verständigen."
"Ist gut, Sydney. Bis bald", verabschiedete sich Charles von ihm.
"Machen Sie's gut", antwortete Sydney. Er hörte, wie der Major am
anderen Ende auflegte und klappte daraufhin sein Handy zu. Geistesabwesend legte
er es zur Seite. Ein Gedanke hatte sich in seinem Bewußtsein festgesetzt, ein
Gedanke, der nach einer genaueren Betrachtung verlangte. Warum hatte der Mörder
das Wort Vater an die Wand geschrieben? Wenn Lyle wirklich der Täter war, warum
hatte er dann diesen mehr als deutlichen Hinweis hinterlassen? Und warum hatte
er Ben überhaupt ermordet? Weil er den Gedanken nicht ertrug, daß nicht der
alte Mr. Parker sein Vater war?
Ein Verdacht begann in Sydney aufzukeimen, ein so schrecklicher Verdacht, daß
er ihm aufgrund seiner weitreichenden Verflechtungen für einen Moment den Atem
raubte. Möglicherweise sollten sie ihre Ermittlungen gar nicht auf Mr. Lyle
konzentrieren.
***
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal in ihrem
Leben so verletzt und alleingelassen gefühlt hatte. Es war, als lebe sie zu
drei Zeitpunkten auf einmal; als stünde sie als junges Mädchen am Sarg ihrer
Mutter; als fände sie gerade Tommys Leiche auf ihrer Veranda; als hielte sie
gerade Bens erkaltende Leiche in ihren Armen. Der Schmerz in ihr war so
intensiv, daß er es ihr fast unmöglich machte, sich auf die Realität zu
konzentrieren.
Miss Parker lag auf dem Bett in ihrem Appartement in New York; Jarod saß an
ihrer Seite, einen teils schuldbewußten, teils besorgten Blick auf sie
gerichtet. Sie hatte geweint - wie lange, wußte sie nicht -, und er hatte neben
ihr gesessen. Jarod hatte sie es zu verdanken, daß sie nun hier war, und das in
jedem Sinne. Er hatte sie zurück hierher gebracht, doch er hatte auch dafür
gesorgt, daß sie sich nun auf diese Weise mit ihrer Vergangenheit
auseinanderzusetzen hatte. Ein Teil von ihr wollte ihn hassen für den Schmerz,
den seine Worte in ihr ausgelöst hatten. Die Macht seiner Worte über sie war
es, die ihn immer zu einem gefährlichen Gegner für sie gemacht hatte. Diese
Macht war es auch, die sie davor zurückschrecken ließ, ihn als einen Freund zu
akzeptieren.
"Wir müssen reden."
Sie schreckte zusammen, als seine Worte sie aus ihren Gedanken rissen. Hatte er
ihre Gedanken gelesen? Konnte er wissen, daß eine Unterhaltung mit ihm das war,
was sie im Moment am meisten fürchtete? Miss Parker stellte überrascht fest,
daß sie nickte. Betrog ihr Körper sie jetzt etwa auch, genau wie ihre eigenen
Gefühle?
In Jarods Blick lag eine Unsicherheit, die sie zu jedem anderen Zeitpunkt zum
Lachen gebracht hätte. Er hatte es mit wenigen Worten geschafft, ihre sorgsam
errichteten Barrieren zum Einsturz zu bringen, doch jetzt schien er nicht zu
wissen, was er sagen, was er tun sollte. Seine Hilflosigkeit tat ihr leid; sie hätte
ihm gerne irgendwie geholfen, aber derzeit fühlte sie sich nicht einmal in der
Lage dazu, sich selbst zu helfen.
Als er keine andere Antwort als ihr Nicken von ihr erhielt, schien auch Jarod
diese Tatsache klar zu werden. Er lehnte sich ein wenig in ihre Richtung; die
Matratze bewegte sich unter Miss Parker, als sie unter Jarods verlagertem
Gewicht etwas nachgab.
"Es tut mir sehr leid", sagte Jarod ernst. Seine Stirn war leicht
gerunzelt; ein deutliches Anzeichen dafür, daß ihn etwas beschäftige, das
auszusprechen er sich noch scheute.
Wieder fand Miss Parker keine Antwort auf seine Worte. Was sollte sie ihm auch
sagen? Wie konnte sie ihm jemals beschreiben, was sie gerade fühlte? Es war
hoffnungslos. Zwischen ihnen klaffte eine Lücke, die keiner von ihnen beiden
aus eigener Kraft überbrücken konnte. Vielleicht, wenn sie es darauf ankommen
ließen, würden sie es gemeinsam schaffen, aber Miss Parker wußte, daß sie
dazu noch nicht bereit war. Fast, aber noch nicht ganz.
Statt einer Antwort warf sie ihm einen langen Blick zu. Seine Augen, tiefbraun
und voller Wärme, waren so offen, spiegelten ganz unbefangen seine Emotionen
wider. Miss Parker beneidete ihn um diese Offenheit. Zeit ihres Lebens hatte sie
sich immer hinter Mauern versteckt, hatte andere nur äußerst selten sehen
lassen, was sie empfand. Es mußte frustrierend für Jarod gewesen sein, ständig
mit ihrer aus Vorsicht aufrecht erhaltenen Verschlossenheit konfrontiert zu
werden. Es war dieser Gedanke, der Miss Parker langsam begreifen ließ, was
zwischen ihnen passiert war, als sie in dieser Gasse gestanden hatten.
Ich werde fallen, und du kannst mich nicht fangen.
Miss Parker blinzelte überrascht. Es waren ihren Worte; irgendwie wußte sie,
daß es so war. Aber sie hatte sie nie zu Jarod gesagt...
Ohne, daß sie es verhindern konnte, sammelten sich erneut Tränen in ihren
Augen. Ein paar Wimpernschläge später rollten sie bereits über ihre Wangen,
folgten den Spuren, die ihr Schmerz und ihre Trauer dort bereits hinterlassen
hatten.
Jarod beugte sich zu ihr vor, sein Blick so weich, daß sie sich am liebsten für
immer darin verlieren wollte. Sein Mund öffnete sich, und Miss Parker ahnte,
was er sagen wollte. Sie hob ihre Hand und legte ihre Finger auf seine Lippen,
gerade, als sie den ersten Buchstaben ihres Namens bildeten.
"C..."
Ihre Hand verharrte an seinen Lippen, während sie den Kopf schüttelte. Es gab
einen Grund dafür, warum sie ihm verboten hatte, ihren Namen auszusprechen.
Jetzt, mehr denn je, würde sie es einfach nicht ertragen, die so vertrauten und
gleichzeitig verhaßten Silben von ihm zu hören.
Panik wallte in ihr auf, verdrängte alles andere. Dies war ihre verletzlichste
Stunde; wenn sie es jetzt zuließ, würde sie alles vor Jarod ausbreiten, würde
sich ihm hilflos ausliefern. Ihre Emotionen waren in Aufruhr, und wie immer,
wenn das der Fall war, übernahm ihr Überlebensinstinkt die Kontrolle über
sie.
Bevor sie sich selbst stoppen konnte, hatte sie bereits ihre andere Hand gehoben
und auf Jarods Schulter gelegt. Sie richtete ihren Oberkörper auf, bis nur noch
wenige Zentimeter ihr Gesicht von Jarods trennten. Seine Augen weiteten sich überrascht,
als er erkannte, was sie vorhatte. Widerstreitende Emotionen spiegelten sich auf
seinem Gesicht wider; Zweifel und Verlangen schienen die vorherrschenden zu
sein. Miss Parker ließ Jarod keine Zeit, lange über ihr Verhalten
nachzudenken. Die Hand, die an seinen Lippen gelegen hatte, wanderte zärtlich
über seine Wange, an seinem Hals entlang, bis sie schließlich seinen Nacken
erreichte. Langsam zog sie Jarod zu sich heran, und sie schloß ihre Augen.
Als sich ihre Lippen zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen berührten, spürte
Miss Parker sofort, daß es sich falsch anfühlte. Genau so, wie damals bei
ihrer schicksalhaften Begegnung im Centre, als er sie erst angegriffen und dann
geküßt hatte. Genau wie damals fühlte es sich aber nicht nur falsch, sondern
auch äußerst gut an. So, wie sie es noch Sekunden zuvor in Jarods Gesicht
gesehen hatte, mischten sich nun auch in ihr Zweifel und Verlangen.
Jarod lehnte sich näher zu ihr, gab seine passive Haltung auf. Seine Hände,
die noch bis eben auf seinen Oberschenkeln gelegen hatten, umschlossen nun ihr
Gesicht, veränderten sanft den Winkel zwischen ihnen. Der Pretender vertiefte
den Kuß, und Miss Parker ließ ihn gewähren. Mit jeder Sekunde, die verstrich,
wurden Jarods Zärtlichkeiten weniger zögerlich. Er ließ sich von seinen
Emotionen leiten, schien ganz ausgehungert nach ihrer Nähe zu sein.
Wäre sie nicht so aufgewühlt gewesen, hätte Miss Parker vielleicht an diesem
Punkt zu begreifen begonnen, daß sie noch nicht bereit war für diese Art von Nähe
zu Jarod. Es stimmte, auch sie sehnte sich nach seiner Nähe, aber anders als
bei den meisten Männern, mit denen sie bisher zusammengewesen war, wünschte
sie sich, mit Jarod zuerst eine andere Art der Nähe zu erleben.
Ihr Herz schlug immer schneller, machte es immer schwieriger für sie, einen
klaren Gedanken zu fassen. Wie konnte sich etwas so gut und gleichzeitig so
falsch anfühlen? Schwach wurde ihr bewußt, daß sie sich das schon einmal
gefragt hatte, aber bevor sie dem Gedanken folgen konnte, übernahm ihr Instinkt
wieder die Kontrolle. Sie ließ sich langsam nach hinten sinken, zog Jarod mit
sich. Er lag nun halb auf ihr; sie spürte das wilde Schlagen seines Herzens über
ihrem eigenen. Letzte Zweifel regten sich in ihr, doch sie wischte sie fort, gab
sich ganz der Erregung hin, die seine Nähe in ihr auslöste.
Es war Jarod, der schließlich ihren Kuß unterbrach. Miss Parker vermutete, daß
er, ebenso wie sie, das dringende Bedürfnis verspürte, tief Atem zu holen,
doch nach ein paar Sekunden wurde ihr klar, daß das nicht der Grund für die
Unterbrechung war. Widerwillig, fast ängstlich, öffnete sie ihre Augen wieder.
Jarods Gesicht war noch immer nur Zentimeter von ihrem entfernt. Seine Haut glühte,
und seine Augen waren dunkler, als sie sie jemals gesehen hatte. Er atmete
schwer und schien Mühe zu haben, sich auf das zu konzentrieren, was er ihr
offenbar sagen wollte.
Langsam zog er seine Hände von ihr zurück, einen Ausdruck des Bedauerns in den
Augen.
"Ich kann das nicht tun", sagte er entschuldigend, sah ihr dabei
direkt in die Augen. "Es... es fühlt sich falsch an. Versteh mich nicht
falsch, es ist nicht, daß ich das nicht tun möchte, es ist nur... wir tun das
richtige aus den falschen Gründen."
Es lag etwas Bittendes in seinem Blick. Miss Parker begriff, was sein Blick zu
bedeuten hatte. Nicht nur er hatte Macht über sie; auch sie hatte einen großen
Einfluß auf sein Verhalten.
Sie wurde sich der Tatsache bewußt, daß sie ihn noch immer umarmte; eine ihrer
Hände lag in seinem Nacken, die andere ruhte in seinem dichten, kurzen Haar.
Hastig zog auch sie ihre Hände wieder an sich. Eine seltsame Mischung aus gekränktem
Stolz und Erleichterung erfüllte sie. Jarod hatte sie zurückgewiesen! Doch er
hatte es nicht getan, weil er sie nicht wollte - er hatte es getan, weil er sie
nicht verletzen wollte.
"Es tut mir leid", wiederholte er noch einmal, griff dabei nach einer
ihrer Hände und nahm sie in seine. Ein trauriges Lächeln umspielte seine
Lippen. "Ich weiß, was du vorhattest - und ich kann dich gut verstehen.
Sex bedeutet Nähe. Nähe ist etwas, das wir beide immer gesucht haben. Wir können
diese Nähe miteinander finden, aber zuerst müssen wir... Freunde werden."
Er sah aus, als hätten ihn diese Worte große Überwindung gekostet. Miss
Parkers Wangen brannten. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade eine schallende
Ohrfeige erhalten. Was meinte er mit seiner letzten, kryptischen Bemerkung?
Hatte er ihr damit sagen wollen, daß er in ihr nur eine Freundin sah, oder
vielleicht nicht einmal das? Wieso hatte er dann ihren Kuß erwidert? Sie war zu
aufgewühlt, um den Sinn hinter seinem Verhalten und seinen Worten zu erkennen.
Ihr war durchaus bewußt, daß Jarod nur ausgesprochen hatte, was auch ihr durch
den Kopf gegangen war, aber diese Worte von ihm zu hören... es war einfach
zuviel für sie. Sie starrte ihn an, während sie darüber nachdachte, was sie
beinahe getan hätte. Jarod hatte recht; in der Vergangenheit war Sex für sie
immer ein willkommenes Mittel gewesen, um den Anschein von Nähe zu erwecken.
Bei Tommy war das anders gewesen - aber Tommy war nun tot. Wer garantierte ihr,
daß es mit Jarod anders sein würde?
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Gerade noch war sie bereit gewesen,
mit Jarod zu schlafen und jetzt wies sie den bloßen Gedanken an Nähe mit ihm
weit von sich. Ihr wurde klar, daß sie niemals einen klaren Gedanken würde
fassen können, solange Jarod in ihrer Nähe war. Vielleicht war Abstand genau
das, was sie jetzt brauchte. Und Jarod schien doch ebenso zu empfinden, nicht
wahr? Warum sonst hatte er sie darauf hingewiesen, daß sie zuerst Freunde
werden mußten?
Miss Parker richtete sich auf; sie mußte hier raus, sie brauchte Freiraum zum
Denken. Sie wich Jarods fragendem, irgendwie gequält wirkendem Blick aus, ließ
ihren Blick über seinen Körper gleiten als wolle sie ihn sich für alle Zeiten
einprägen. Seine Haut glühte noch immer, und die dunkle Färbung seiner Augen
ließ ihn fast gefährlich wirken. Mehrere kurze Haarsträhnen hingen ihm in die
Stirn; überhaupt wirkte seine Frisur noch zerzauster als üblich. Auch sein
Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, verriet, genauso offensichtlich wie
der Ausdruck auf seinem Gesicht, wie sehr ihn diese Bewegung aufgewühlt und
verwirrt hatte. Als sie wieder zu seinem Gesicht aufschaute, stellte sie fest,
daß er den Blick gesenkt hatte, daß er nun wie gebannt auf ihre Hand sah, die
noch immer in seiner ruhte. Der Pretender wirkte wie versteinert, schien genauso
wenig wie sie selbst zu wissen, war er nun sagen oder tun sollte.
Ich werde noch ein paar Tage länger in der Stadt sein - falls du es dir anders
überlegst.
Tommy Tanakas Worte waren ihr noch immer im Gedächtnis; im Augenblick klangen
sie weit verlockender als die Alternative.
Sie überlegte nicht lange. Handeln, nicht grübeln, hieß ihre Devise. Bevor
Jarod auch nur erahnen konnte, was sie vorhatte, hatte sie ihm bereits ihre Hand
entzogen, war vom Bett aufgestanden und auf dem Weg zur Kommode, auf der ihre
Tasche stand. Ein paar ihrer Sachen lagen zwar noch im Bad und im Wohnzimmer,
aber alles Wichtige befand sich noch immer in ihrem einzigen Gepäckstück. Ohne
weiter darüber nachzudenken, griff sie nach ihrer Tasche und war schon auf halb
auf dem Weg nach draußen, als Jarod sie eingeholt hatte. Erneut schloß sich
seine Hand um ihren Arm, aber diesmal ließ er sie sofort los, als sie ihm einen
auffordernden Blick zuwarf.
"Wo gehst du hin?" fragte er das Offensichtliche. Miss Parker schüttelte
den Kopf, zugleich erleichtert und überrascht über ihre Selbstkontrolle.
"Ich... ich muß hier raus; ich kann einfach nicht mehr klar denken. Bitte,
versteh mich", bat sie ihn.
"Du erwartest von mir, daß ich dich einfach so gehen lasse? Nach dem, was
hier gerade passiert ist?"
Jarod sah sie ungläubig an; seine Miene wirkte wie versteinert.
"Passiert wäre", gab Miss Parker sanft zurück. "Du hast keine
Wahl, Jarod. Es gibt nichts, was mich jetzt zurückhalten könnte."
"Nicht einmal ich?" erkundigte sich Jarod, sein Tonfall flach, gepreßt.
"Nicht einmal du."
Sie spürte, wie das Gefühl der Bedrängnis und ihre Panik langsam nachließen.
Jetzt zu gehen, fühlte sich richtig an; es allein zu tun, fühlte sich richtig
an.
"Du läufst also vor mir weg", stellte Jarod ruhig fest, doch seine
Augen verrieten seinen inneren Aufruhr.
"Nein!" antwortete sie, verärgert über seinen offensichtlichen
Versuch, sie zu provozieren. "Ich laufe nicht weg. Es ist nur, daß ich
endlich mal meine Ruhe brauche. Um über alles nachzudenken. Um Entscheidungen
zu treffen. Ohne irgendwelche Einmischungen, egal ob vom Centre oder von
dir." Sie machte eine Pause. Es war mehr als deutlich zu sehen, daß ihre
Worte ihn nicht erreichten. "Bitte, Jarod. Mach das hier doch nicht noch
schwerer für mich."
Der Pretender stand nur da und sah sie an. In seinem Gesicht arbeitete es, doch
er sagte nichts. Miss Parker wartete, so lange sie konnte, aber nach einer Weile
hielt sie einfach nicht mehr aus. Sie drehte sich um und ging zur Tür.
"Wirst du wiederkommen?"
Seine Worte hingen lange unbeantwortet in der Luft. Die Antwort auf seine Frage
war nicht einfach, und sie wollte ihn auch nicht belügen.
"Ich weiß es nicht", flüsterte sie schließlich, nicht sicher, ob er
sie überhaupt gehört hatte. Zu ihm umdrehen konnte sie sich nicht; ihr fehlte
einfach der Mut dazu. Ihre Hand schloß sich um die Türklinke, drückte sie
entschlossen nach unten. Sie spürte mehr als daß sie hörte, wie Jarod ein
paar Schritte auf sie zu machte.
"Nicht", warnte sie ihn, dann öffnete sie die Tür weit genug, um in
den Flur schlüpfen zu können. Mit langen Schritten ging sie zum Aufzug, drückte
auf den Rufknopf und wartete mit klopfendem Herzen darauf, daß sich die Türen
endlich öffneten. Gespannt lauschte sie auf Jarod; sie wagte es noch immer
nicht, sich umzudrehen. Endlich glitt die Fahrstuhltür vor ihr zur Seite.
Erleichtert trat sie in die Kabine und erlaubte sich ein Seufzen, als sich die Tür
ohne Zwischenfälle wieder hinter ihr schloß. Allein. In Sicherheit. Allein.
Es dauerte nur zwei Minuten, bis sie auf der Straße vor dem Appartementhaus
stand. Ihre Augen glitten suchend über die Straße, blieben schließlich voller
Erleichterung an der schwarzen Limousine hängen, die keine zweihundert Meter
von ihr entfernt parkte. Miss Parker umfaßte den Griff ihrer Tasche fester und
ging los. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen, wurde erst wieder
langsamer, als sie den Wagen erreichte. Die hintere Tür ging wie von Zauberhand
auf, erlaubte ihr einzusteigen, ohne dabei viel Zeit zu verlieren.
Als Miss Parker in den Wagen stieg, hörte sie Schritte hinter sich. Sie schloß
die Tür mit einer heftigen Bewegung, so daß sie nur die erste Hälfte ihres
Namens hörte, bevor der Wagen anfuhr. Tommy Tanaka saß ihr gegenüber, lächelte
sie beruhigend an. Doch sie sah nicht wirklich sein Gesicht vor sich, und als
die Limousine beschleunigte, fragte sich Miss Parker, ob sie nicht gerade ihre
Zukunft hinter sich zurückgelassen hatte.
Ende Teil 15
Fortsetzung folgt...
Weil mich manchmal die Zweifel plagen,
möchte ich hier nach Feedback fragen,
erst wenn mir viele ihre Meinung sagen,
werd ich mich an den nächsten Teil wagen... ;)
So, jetzt habe ich sogar für euch gedichtet - also bitte immer her mit dem
Feedback an: missbit@web.de ^_^
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