Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere
der Fernsehserie 'The Pretender' gehören MTM, NBC und TNT (und leider nicht
mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern
wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben. Eine Verletzung des
Copyrights ist nicht beabsichtigt.
Hinweis der Autorin: Auch wenn ich generell gegen die heute übliche Darstellung
von Gewalt in den Medien bin, da sie meiner Meinung nach dazu beiträgt,
Menschen gegenüber allen Formen von Gewalt abstumpfen zu lassen oder gestörte
Gemüter vielleicht sogar zu undenkbaren Grausamkeiten inspiriert, glaube ich,
daß das Mittel der Gewaltdarstellung in *fiktiven* Werken durchaus dazu
beitragen kann, einen positiven Einfluß auf die Leser auszuüben. In diesem
Sinne wünsche ich euch ein anregendes Leseerlebnis.
Noch mal als kleine Erinnerung - Kostbare Momente ist eine alternative vierte
Staffel, die von einem Standpunkt aus geschrieben wird, an dem nur die Fakten,
die bis zum Ende der dritten Staffel bekannt waren, eine Rolle spielen. Das gilt
auch und besonders für Brigittes Schwangerschaft.
Meine Dankbarkeit gilt den zwei schlimmsten Sklaventreibern, die ich kenne -
ohne eure Hilfe wäre KM wohl unbeendet geblieben... :)
Außerdem bedanke ich mich natürlich wie immer bei Dara für ihre Hilfe als
Betafee - tut mir leid wegen der Asche. ;)
Kostbare Momente 16 |
Regen prasselte unaufhörlich auf das Dach; schon seit Stunden strömten die
Wassermassen über die Ziegel, gurgelten durch die Abflußrinnen und klopften
unablässig gegen die großen Fenster. Die Wasserspeier in Form von kleinen
Drachen an den vier Hausecken sprudelten einen stetigen Wasserstrahl aus ihren
weitaufgerissenen Mäulern.
Der Himmel war schwarz; Wolken schwammen gemächlich in Richtung Osten,
erlaubten nur hin und wieder einen Blick auf einzelne Sterne. Wind frischte auf
und bog die nun schon fast kahlen Baumkronen, bis sie alle wie anklagende Finger
gen Osten zeigten.
Mehr und mehr Wolken trieben über den nächtlichen Himmel, versammelten sich
zum ersten von vielen Herbstgewittern des Jahres. Aus der Ferne war bereits das
leise Grollen des Donners zu hören, das sich immer weiter auf die einsame
Residenz der Parkers zu bewegte. Am Horizont entlud sich die aufgestaute
Elektrizität in gleißend hellen Blitzen, die wie Speere aus Licht die Nacht
erhellten, während sie im Bruchteil einer Sekunde auf den Boden zurasten.
Allein und gefangen im Inneren des Hauses trat Brigitte vom Fenster zurück; das
Naturschauspiel auf der anderen Seite der Scheibe langweilte sie. Alles
langweilte sie in letzter Zeit. Doch eine Sache ganz besonders.
Während sie hinüber zum Sofa schritt, legte sie ihre rechte Hand ganz leicht
auf ihren auf monströse Ausmaße angeschwollenen Bauch. Oh, wie sehr sie sich
das Ende dieser Schwangerschaft herbeisehnte! Nicht nur, daß dieses Balg ihre
Figur ruinieren könnte - es war noch nicht einmal ihr eigenes. Wütend preßte
sie die Lippen aufeinander. Wie hatte sie nur jemals diesem Kuhhandel zustimmen
können?
Als sie die Couch erreicht hatte, ließ sie sich schwerfällig auf das kühle
Leder sinken. Noch immer ruhte ihre Hand auf der Wölbung ihres Bauches, doch
die Geste hatte nichts Beschützendes oder Liebevolles an sich. Mehr als alles
andere auf der Welt wünschte sie sich, das fremde kleine Leben in ihr endlich
loszuwerden. Der errechnete Geburtstermin lag noch mehr als zwei Wochen in der
Zukunft; in ihrem momentanen Zustand kam Brigitte diese Zeitspanne wie eine
Ewigkeit vor.
Am Anfang, vor gut neun Monaten, hatte das alles wie eine wunderbare Idee
ausgesehen. Der Gedanke, schwanger zu werden, obwohl sie doch eigentlich
unfruchtbar gewesen war, hatte durchaus etwas Reizvolles an sich gehabt. Zu
diesem Zeitpunkt war es ihr noch egal gewesen, daß zur 'Zeugung' des Kindes
keine ihrer Eizellen verwendet worden war. Mittlerweile hatte sich das gründlich
geändert, dank ihres ach so treusorgenden Ehemannes, der es vorzog, sich in den
heiligen Hallen des Centres vor ihr zu verstecken, anstatt die letzten Wochen
der Schwangerschaft an ihrer Seite zu verbringen. Sicher, sie hatte ihn in
letzter Zeit nicht unbedingt freundlich behandelt, aber das war ja wohl kaum
ihre Schuld, nicht wahr?
Brigitte bemerkte gar nicht, wie sich ihre Hand beim Gedanken an den Vater des
Kindes, das sie in sich trug, verkrampfte. Abgeschoben hatte er sie. Hatte ihr
gesagt, daß er nicht wolle, daß sie in ihrem Zustand noch im Centre arbeitete.
Um das Kind nicht zu gefährden, hatte er gesagt. Kein Wort über ihre eigene
Gesundheit, oh nein. Weil ihre Gesundheit ja auch keine Rolle spielte. Daß eine
Verschlechterung ihres eigenen Zustandes auch eine Gefahr für das Kind bedeuten
könnte, hatte er wohl nicht bedacht.
Ein leises Grollen mischte sich in das nun nicht mehr so ferne Geräusch des
Donners. Überrascht sah sich Brigitte um, bis ihr nach ein paar Sekunden klar
wurde, daß sie dieses Geräusch verursacht hatte. Verärgert über sich selbst,
runzelte sie die Stirn. Sie hatte diese ganze Hormongeschichte nie für voll
genommen, aber vielleicht war doch etwas daran. Jedenfalls würde es mit
Sicherheit ihr Verhalten in den letzten Wochen erklären.
Insgeheim war sie sich sicher, daß ihre Temperamentsausbrüche und Unmutsäußerungen
der wahre Grund waren, warum der alte Parker sie nicht auch noch im Centre um
sich haben wollte. Es war wohl schon schwer genug für ihn, jeden Abend zu ihr
nach Hause zu kommen. Fast jeden Abend. Brigitte lächelte bei diesem Gedanken.
Sie hatte absolut nichts einzuwenden gegen die kleinen Abenteuer ihres Mannes.
Schließlich war sie selbst auch nicht gerade ein Unschuldslamm in dieser
Beziehung. Ihre Lippen kräuselten sich erwartungsvoll zu einem sinnlichen Lächeln,
als ihre Gedanken zu Lyle glitten. Ein paar Wochen noch, dann würde die Zeit
des Wartens endlich vorbei sein. Für sie beide. Doch erst mußte sie den
ungeborenen Parkerbastard loswerden.
Ihr Lächeln erstarb so plötzlich, wie es gekommen war. Natürlich war ihr
klar, daß ihr Leben nach der Geburt des Kindes sehr schnell an Wert verlieren
konnte. Sicher, sie hatte das Versprechen ihres Mannes und das Wort des Towers -
aber niemand wußte besser als sie, wie wenig beides für gewöhnlich wert war.
Nur weil sie ihren Teil des Vertrages erfüllt hatte, mußte das noch lange
nicht heißen, daß das Centre ebenso handeln würde. Zum Glück hatte sie ja
eine kleine Rückversicherung. Mit dem Wissen, das sie über Lyle und seine mehr
als zwielichtige Vergangenheit besaß, hatte sie ihn völlig in der Hand. Er würde
ihr Leben schützen, mit seinem eigenen, sollte es nötig werden, weil die
Informationen im Falle ihres Todes an die Öffentlichkeit weitergeleitet werden
würden. Glaubte Lyle jedenfalls.
Brigitte lachte leise. Lyle konnte wirklich unglaublich naiv sein. Und blind.
Sie mochte ihn, sehr sogar. Mehr als er sie mochte, das wußte sie natürlich.
Im Falle ihres Todes würde rein gar nichts mit den Informationen über ihn
passieren. Wenn sie tot war, welches Interesse konnte sie dann noch daran haben,
Lyle schaden zu wollen? Nein, wenn jemand ihre Rache aus dem Grab zu fürchten
hatte, dann war das höchstens ihr durch Abwesenheit glänzender Ehemann.
Wochen- und monatelang hatte er sie mit all seinen Erwartungen und Hoffnungen für
das Baby genervt. Sein Kind; sein erstes und einziges. Brigitte seufzte, als sie
sich daran erinnerte, was für einen Aufstand es in diesem Haus gegeben hatte,
als der alte Mann die Wahrheit darüber herausgefunden hatte, wer der Vater von
Lyle und der intriganten, sich selbst überschätzenden Schlange namens Miss
Parker war. Es war noch gar nicht so lange her, daß er in einem Anfall von
blinder Wut ein paar wertvolle Antiquitäten zertrümmert hatte.
Daß er vorher wirklich nichts davon geahnt hatte, von seiner ersten Frau
betrogen worden zu sein, hatte Brigitte zutiefst erstaunt. In all den Jahren im
Centre, in denen er gelernt hatte, sich sogar strenggeheime Informationen
anzueignen, war er nie über dieses kleine Detail gestolpert, das bis vor ein
paar Wochen ungesehen in einer von Raines Akten geschlummert hatte? Kaum zu
glauben. Doch noch unglaublicher war es, daß diese Information so plötzlich
aufgetaucht war. Woher, vermochte Brigitte nicht zu sagen, aber sie hatte
zumindest eine Ahnung. Wieder verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Sie würde
ihn fragen, sobald sie ihn das nächste Mal sah.
Oh ja, die heilige Catherine Parker hatte ihren Mann betrogen, in mehr als einer
Hinsicht, wie es schien. Wie sehr sie diesen Namen haßte! Der alte Parker
sprach oft von ihr: Catherine dies, Catherine das, Catherine den ganzen Tag
lang. Unerträglich! Wenigstens schien er beim Sex, der übrigens erstaunlich
gut war, wenn man Parkers Alter bedachte, mit den Gedanken bei ihr, Brigitte, zu
sein. Doch selbst, als er herausgefunden hatte, daß seine Kinder gar nicht die
seinen waren, hatte er kein schlechtes Wort über Catherine gesagt. Statt dessen
hatte er sich ganz auf das Kind konzentriert, das in Brigitte heranwuchs. Wenn
es erst mal auf der Welt war, würde Parker endlich haben, was er sich so sehr wünschte:
ein Kind, das sowohl seines als auch Catherines war.
Brigitte zog die Beine auf das Sofa und bemühte sich minutenlang vergebens,
eine bequeme Stellung zu finden, die sowohl ihre Füße als auch ihren Rücken
entlasten würde. Mit einem frustriert gemurmelten Fluch gab sie schließlich
auf und blieb halb auf der Seite liegen. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ sie
nur Sekunden später aufschrecken. Das Gewitter! Der Donner hatte sehr nahe
geklungen; das Unwetter mußte also fast über dem Haus sein.
Sie lauschte angestrengt und drehte den Kopf so, daß sie das Fenster aus dem
Augenwinkel sehen konnte. Es dauerte nicht lange, bis ein mächtiger Blitz aus
den Wolken herunterfuhr und die gesamte Umgebung taghell erleuchtete. Brigitte
begann zu zählen. Eins eintausend, zwei eintausend, drei eintausend, vier
eintausend, fünf eintausend, sechs eintaus... Der dem Blitz folgende Donner war
so laut, daß Brigitte fast sicher war, das Dach würde über ihr
zusammenbrechen. Nur knappe zwei Kilometer war das Gewitter noch entfernt vom
Haus; kein sehr beruhigender Gedanke, wenn man hochschwanger und allein in einem
Haus war, das mehrere Kilometer von der Zivilisation entfernt stand.
Mit einiger Anstrengung stemmte sie sich vom Sofa hoch und ging hinüber zu der
kleinen Anrichte, auf der das Telefon stand. Sie wählte und wartete ungeduldig,
bis sich endlich am anderen Ende eine männliche Stimme meldete.
"Hier ist Brigitte", informierte sie den Sweeper, sobald er sich
identifiziert und sie nach dem Grund ihres Anrufes gefragt hatte. "Schicken
Sie mir einen Wagen vorbei. Ich möchte ins Centre."
Das Rauschen und Knistern in der Leitung kündete von nichts Gutem, und Brigitte
beeilte sich aufzulegen, sobald der Sweeper ihren Befehl bestätigt hatte. Sie
hatte das Telefon kaum aus der Hand gelegt, als ein weiterer Blitz in einer
Explosion aus gleißendem Licht die aufgestaute Elektrizität zwischen Himmel
und Erde entlud. Es gab einen lauten Knall, der offenbar nichts mit dem Donner
zu tun hatte und keine drei Sekunden später folgte. Als die Helligkeit des
Blitzes nachgelassen hatte, sah Brigitte, was passiert war. Das Licht war
ausgegangen, und zwar im ganzen Haus, soweit sie das feststellen konnte. Der
Blitz mußte in eine Hochspannungsleitung ganz in der Nähe eingeschlagen sein.
Großartig. Zum Glück hatte sie das Centre noch rechtzeitig erreicht. Nicht
auszudenken, was ihr hier allein alles passieren konnte.
Das Geräusch des Regens wurde lauter; die Tropfen schienen mit neuerwachter
Dringlichkeit auf das Dach und gegen die Fenster zu prasseln. Auch der Wind
heulte nun lauter ums Haus, tat nichts dazu, Brigitte zu beruhigen. Unruhig ging
sie zurück zur Couch, setzte sich wieder hin. Anspannung machte es ihr unmöglich,
eine andere Haltung einzunehmen. Sie lauschte auf die Geräusche außerhalb des
Hauses und erhob sich halb, als sie zusätzlich zum Rauschen des Windes und dem
Prasseln des Regens ein dumpfes, sich in regelmäßigen Abständen
wiederholendes Pochen hörte. Waren das Schritte?
Brigitte atmete stockend ein. Es klang wie das Geräusch schwerer Schritte, die
sich langsam um das Haus herum bewegten. Innerlich schalt sie sich für ihr
kindisches Benehmen; das hier war ja schließlich kein schlechter Horrorfilm.
Doch trotzdem - dieses Pochen hatte etwas Beunruhigendes an sich.
Nach ein paar endlos langen Sekunden verstummte das Pochen plötzlich, und
Brigitte wollte schon erleichtert aufatmen, als ein neues Geräusch das Blut in
ihren Adern stocken ließ. Ein Knirschen war nun zu hören, hob sich deutlich
gegen den Regen und den Wind ab. Klang das nicht wie Metall, das über eine
Fensterscheibe schabte? Brigitte hob eine Hand vor den Mund; ein unangenehmes
Zittern lief durch ihren Unterleib. Angestrengt lauschte sie, doch lange Zeit
war außer dem Gewitter nichts mehr zu hören.
Ein Teil von ihr flüsterte drängend, daß sie ihre Waffe holen und nach dem
Rechten sehen sollte, schließlich war sie ja eine ausgebildete Mitarbeiterin
des Centres, aber ihre Angst und ihr Schreck waren stärker. Wann würde endlich
der verdammte Sweeper hier auftauchen? Wenn er nicht bald kam, würde sie mit
ihrem eigenen Wagen fahren, hochschwanger oder nicht.
Als sie lange Zeit nichts Ungewöhnliches mehr hörte, begann sie, sich langsam
wieder zu entspannen. Wahrscheinlich hatte sie sich alles nur eingebildet.
Verdammte Hormone.
Ein lautes Klirren bewies ihr das Gegenteil. Erschrocken fuhr Brigitte vom Sofa
hoch, nahm ganz unbewußt eine Verteidigungshaltung ein. 'Ganz ruhig', ermahnte
sie sich selbst. 'Behalte alles genau im Auge und überleg, bevor du handelst.'
Das Geräusch von Schritten war wieder da, doch es klang anders. Es dauerte
einen Augenblick, bis Brigitte erkannte, warum. Da war nun noch ein zweites
Pochen. Wer auch immer da draußen war, er war nicht allein.
Nervös stieß Brigitte ihren Atem in kurzen Stößen aus. Was sollte sie als nächstes
tun? Vielleicht ihre Waffe holen? Das klang vernünftig. Sie machte sich auf den
Weg ins Schlafzimmer, doch als sie im Flur angekommen war, brachte ein Klopfen
an der Tür sie für einen Moment aus der Fassung.
'Verdammt, Brigitte, jetzt reiß dich doch zusammen', dachte sie scharf. 'Seit
wann klopfen verrückte Axtmörder an die Tür und verlangen höflich Einlaß?'
Der Gedanke hatte etwas für sich, also ging sie zur Tür und starrte vorsichtig
durch den Spion. Ihre Erleichterung war groß, als sie Gordon erkannte, einen
der Sweeper, die für ihren Mann arbeiteten. Sie schob die Türkette zur Seite,
öffnete die Tür und versetzte dem überraschten Mann einen Stoß, der ihn aus
ihrem Weg beförderte.
"Was...?" fragte Gordon überrascht. Er war hochgewachsen und kräftig,
mit rötlichen Haaren, die seinen irischen Ursprung verrieten. Es geschah nicht
besonders häufig, daß er von Frauen herumgeschubst wurde. Eigentlich wurde er
sogar niemals herumgeschubst.
Brigitte schob den Kopf nach draußen und spähte in die Dunkelheit. Als sie
sich davon überzeugt hatte, daß dort niemand außer dem Sweeper war, wandte
sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu.
"Wieso hat das so lange gedauert?" zischte sie ihn an. Der Sweeper
macht große Augen.
"Nun, der Regen hat die Straße...", begann er, wurde aber fast sofort
von der ungeduldigen Brigitte unterbrochen.
"Ja, ja, schon gut, behalten Sie's doch einfach für sich. Haben Sie hier
draußen irgend jemanden gesehen?"
"Nein. Wer sollte denn in diesem Wetter..." Wieder erreichte er das
Ende seines Satzes nicht.
"Ich habe ein Klirren gehört. Jemand muß sich hier herumgetrieben
haben", stellte Brigitte mit einem angriffslustigen Funkeln in den Augen
fest. Sehr zu ihrem Mißfallen wirkte der Sweeper nicht etwa besorgt; nein, er
machte vielmehr einen peinlich berührten Eindruck. Wortlos trat er wieder
frontal vor Brigitte, gab den Blick frei auf einen großen Blumentopf, der bis
eben noch von seinem massigen Körper verdeckt worden war.
"Tut mir sehr leid", murmelte er und schien ehrlich betroffen zu sein.
Brigittes Blick viel auf die traurigen Reste des prächtigen Hibiskus, der auf
dem Boden in einem großen Haufen aus Erde und Tonscherben lag. Der Anblick
veranlaßte Brigitte zu einem Kichern; da hatte sie sich doch ganz umsonst
Sorgen gemacht. Sie ignorierte die Tatsache, daß Gordon sie ob ihres
uncharakteristischen Verhaltens verwundert anstarrte und ging zurück ins Haus,
um ihre Handtasche zu holen. Wenn sie erst einmal im Centre angekommen war, würde
sie ein für allemal klarstellen, daß sie nicht noch einmal allein zu Hause
bleiben würde. Schon gar nicht mitten in einem Unwetter, Hormone hin oder her.
Und wehe dem alten Parker, wenn er sich ihr widersetzen würde!
***
Schon seit Stunden führte die Straße durch einen nicht enden wollenden Wald.
Jay starrte gelangweilt aus dem Fenster. Sein Vater steuerte den Wagen mit
unerschütterlicher Ruhe Richtung Maine, hörte dabei mit wachsender
Begeisterung dem lokalen Country-Sender im Radio zu. Obwohl Jay mit großer
Ausdauer über die Musikauswahl gemault hatte, ließ der Major sich nicht dazu
bringen, einen anderen Sender zu suchen. Jay seufzte.
Eine Zeitlang hatte er sich mit Überlegungen über Ben Miller abgelenkt, doch
das Thema hatte schnell seinen anfänglichen Reiz verloren, als ihm klargeworden
war, daß er nur mit zusätzlichen Fakten weiterkommen würde. Wenigstens waren
sie jetzt endlich auf dem Weg zum Lake Catherine! Das untätige Herumsitzen war
Jay sehr schnell leid gewesen; er brauchte eine Herausforderung, etwas, das ihn
von seinen Erinnerungen an das Center ablenkte und sein Gehirn beschäftigt
hielt. Die Ermittlungen in einem Mordfall waren zwar nicht so ganz das, was er
sich vorgestellt hatte, aber wenn sie Miss Parker damit helfen konnte, war er
gerne dazu bereit.
Hoffentlich würden ihre Bemühungen Miss Parker auch helfen. Jay wußte nicht
so genau warum, aber er mochte die Frau, die ihn damals mit soviel Trauer in
ihren blauen Augen besucht hatte, und er wollte ihr gerne helfen. Auch sein
Bruder Jarod schien sie sehr zu mögen, wenn er ihr sogar hinterher reiste...
Neben ihm begann sein Vater, einen der sogenannten Hits mitzusingen. Jay rollte
mit den Augen.
"Bitte, Dad, wenn es dir nichts ausmacht. Die Songs sind auch so schon
schlimm genug", erklärte er seinem Vater und sah ihn von der Seite an. Der
Major machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Schnauben und einem
Lachen klang, hörte aber mit dem Singen auf.
"Wirklich, Sohn, an deinem Musikgeschmack müssen wir noch arbeiten",
gab er mit einem Grinsen und einem Zwinkern zurück. Jay setzte zu einer
Erwiderung an, doch dann lenkte ihn etwas ab, das er nur aus den Augenwinkeln
gesehen hatte. Ein dunkler Schemen bewegte sich am Waldrand, hielt genau auf
ihren Wagen zu.
"Dad, paß auf!" schrie Jay, doch es war schon zu spät. Noch während
der Major in die Eisen stieg, spürten sie, wie etwas das Auto streifte und mit
einem dumpfen Pochen von der Karosserie abprallte.
"Verdammt!", rief der Major erschrocken, als der Wagen langsam zum
Stehen kam. "Kannst du erkennen, was es ist, Jay?"
Geschockt sah der Junge in den Seitenspiegel. Etwas Schwarzes lag in einem
reglosen Haufen hinter ihnen auf der Straße. Und da war auch Blut...
"Es muß ein Tier sein", sagte Jay gepreßt. Der Anblick schnürte ihm
die Kehle zu. "Glaubst du, es ist..."
"Das werden wir gleich wissen", sagte der Major und sah seinen Sohn
mitfühlend an. Er setzte den Wagen zurück und stoppte ein paar Meter entfernt
von dem bewegungslosen Tier. Jay riß die Tür auf und sprang aus dem Auto, war
mit wenigen Schritten bei der hilflosen Kreatur, die sich bei näherem Hinsehen
als Hund entpuppte.
"Es ist ein Hund!" rief Jay aufgeregt. Sein Vater verließ das Auto
und kam herüber. Er kniete sich neben den Hund, beugte den Kopf herunter und
lauschte.
"Der Kerl scheint Glück gehabt zu haben", informierte er seinen Sohn,
dem fast schlecht vor Erleichterung wurde. "Er atmet noch. Schwach, aber
regelmäßig. Wir haben ihn wohl nur gestreift."
Der Major machte sich daran, das Tier genauer zu untersuchen, ging dabei mit äußerster
Vorsicht zu Werke. Jay sah hilflos zu. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis
zum Hals, seine Gedanken rasten. Der Hund war ein schwarzer Labrador, der extrem
verwahrlost aussah. Das kurze Fell war struppig und hatte jeden Glanz verloren;
an einigen Stellen war es sogar ganz ausgefallen. Man konnte deutlich die Rippen
des armen Tieres sehen, so dünn war es.
"Dad...", murmelte Jay fassungslos. Sein Vater sah zu ihm auf, Wärme
und Mitgefühl in den Augen.
"Keine Sorge, Jay, wir kümmern uns um den Burschen. Wir bringen ihn zu
einem Tierarzt und sorgen dafür, daß es ihm besser geht", versicherte er
seinem Sohn, als er aufstand. Jay lief zu ihm und umarmte ihn stürmisch.
"Danke, Dad", wisperte er, und der Major strich ihm beruhigend über
den Kopf. "Aber wo sind denn die Besitzer? Er muß doch zu irgend jemandem
gehören."
Major Charles seufzte und schob seinen Sohn von sich weg. Sanft drehte er ihn an
den Schultern herum, bis er zum Waldrand sah. Jay kniff die Augen zusammen und
versuchte zu erkennen, was dort die Aufmerksamkeit seines Vaters erregt hatte.
Dann sah er es. Ein schmaler Weg führte vom Straßenrand zu einer kleinen
Ausbuchtung im Wald. Dort, an einem Baum, baumelten die Reste einer Leine; die
andere Hälfte hing vom Halsband des bewußtlosen Hundes herunter.
"Er muß sich losgerissen haben, als er das Auto sah. Dachte vielleicht, daß
seine Besitzer zurückkommen. Diese Unmenschen." Die Stimme des Majors
hatte einen harten Klang angenommen, den Jay sonst nur von ihm kannte, wenn er
über das Centre sprach.
"Also können wir ihn mitnehmen?" fragte er nach, sah seinen Vater mit
großen Augen an. Der Blick des Majors kehrte aus der Ferne zurück, richtete
sich wieder auf Jay.
"Wir können nicht nur, wir werden. Geh bitte den Kofferraum aufmachen und
leg eine der Decken vom Rücksitz hinein."
"Sofort, Dad!" erwiderte Jay und rannte zurück zum Auto. Als er sich
noch einmal umdrehte, sah er, wie sein Vater den reglosen Hund vorsichtig
hochhob und zum Auto trug. Es sah ganz danach aus, als wäre Miss Parker nicht
die einzige, die ihre Hilfe brauchte.
***
Das Unwetter über Blue Cove tobte noch immer, vielleicht noch schlimmer als in
der Stunde zuvor. Brigitte schüttelte sich, als sie die Eingangshalle betrat.
Sie streifte ihre Jacke ab und hängte sie zum Trocknen über einen der
unbequemen Sessel, die im Foyer verteilt standen. Gordon konnte sie ihr später
bringen, oder sie würde sie auf ihrem Rückweg mitnehmen.
Der Sweeper war unschlüssig in der Tür stehengeblieben. Brigitte sah ihn
voller Ungeduld an.
"Halten Sie sich hier zu meiner Verfügung", wies sie ihn kühl an.
"Ich finde den Weg zum Büro meines Mannes schon alleine. Auch, wenn ich
lange nicht hier war."
Sie ließ die Eingangshalle mit langen Schritten hinter sich, stürzte sich in
das finstere Labyrinth aus Fluren und Korridoren, die das gesamte Centre
durchzogen. Es gefiel ihr gar nicht, daß der Strom auch hier ausgefallen war.
Warum arbeitete der Notstromgenerator nicht? Der lief doch mit Diesel und sollte
eigentlich sofort gestartet werden, wenn die Elektrizität aus irgendwelchen Gründen
ausfiel. Es gab mehr als genug wertvolle Projekte im Centre, die auf Strom
angewiesen waren - sei es eingefrorenes Erbmaterial im Forschungstrakt, bettlägerige
Patienten auf der Krankenstation oder die vielen anderen hochgeheimen
Forschungen, die Raines nur vor dem Tower zu verantworten hatte.
Beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen, vergaß Brigitte den Generator schnell
wieder. Da die Aufzüge nicht funktionierten, mußte sie die Treppe nehmen, um
das zwei Stockwerke höher gelegene Büro ihres Mannes zu erreichen. Auf dem
obersten Treppenabsatz angekommen, schnaufte sie hörbar. Verfluchte
Schwangerschaft. Sie war früher nie kurzatmig gewesen.
Als sie das Büro erreicht hatte, war ihre Wut auf ihrem bisherigen Höhepunkt
angekommen. Parker würde ihr diesmal zuhören! Er würde sie nicht noch einmal
aus dem Centre und seiner Näher verbannen, dafür würde sie jetzt sorgen.
Brigitte stieß die Doppeltür zu Parkers Büro auf, holte tief Luft, um mit
ihrer Rede zu beginnen und stockte. Das Büro war leer. Enttäuscht ließ sie
den Atem wieder entweichen. Wo steckte er? Er würde doch wohl nicht
ausgerechnet in diesem Unwetter sein Vergnügen bei einer anderen Frau gesucht
haben?
Verärgert machte Brigitte auf dem Absatz kehrt. Na schön, vielleicht war er ja
im Forschungstrakt. Soweit sie das von Lyle wußte, heckten Raines und ihr Mann
dort seit geraumer Zeit etwas aus, und sie war sich fast sicher, daß es etwas
mit dem Balg in ihr zutun hatte. Um so besser; in dieser Angelegenheit hatte sie
- zumindest noch - auch etwas mitzureden.
Während sie die Treppen wieder herunterstieg und in den Korridor einbog, der
zum neuen Forschungstrakt führte, verfluchte sich Brigitte wieder einmal selbst
für die Lage, in die sie sich gebracht hatte. Die Heirat mit Parker und eine
gesicherte Machtstellung im Centre im Austausch für ein Kind. Welch brillante
Idee. Zumindest hatte es damals so ausgesehen. Jetzt war sich Brigitte damit gar
nicht mehr so sicher.
Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie plötzlich ein Geräusch hinter sich
wahrnahm. Schon wieder dieses dumpfe Pochen! Schritte. Es war jemand hinter ihr.
Sie ging langsam weiter, gab sich den Anschein, völlig unbekümmert und in ihre
Gedanken versunken zu sein, dann wirbelte sie so plötzlich, wie es ihr
geschwollener Körper zuließ, herum. Nichts. Niemand war zu sehen. Nur ein
leerer Korridor erstreckte sich vor ihr.
Dann, plötzlich, hörte sie wieder Schritte, diesmal aus der Richtung, in die
sie eben noch gegangen war. Erneut drehte sie sich um; erneut war rein gar
nichts zu sehen. Genervt seufzte Brigitte. Zum Teufel mit ihrer Schwangerschaft,
allen dazugehörigen Hormonen und dem ihr verhaßten Kind.
Sie setzte ihren Weg fort und erreichte ohne weitere Zwischenfälle eine
Kreuzung im Korridor. Der rechte Weg führte zurück in die Eingangshalle, der
linke zum Forschungstrakt, geradeaus ging es weiter zur Krankenstation. Brigitte
rang kurz mit sich selbst, entschied sich dann für den Forschungstrakt. Es war
wirklich Zeit, daß sie dem alten Parker mal wieder ihre Meinung sagte!
Diese Entscheidung stellte sich wenige Meter später als ihr letzter Fehler
heraus. Als sie an einem dunklen Seitengang vorbeischritt, spürte sie auf
einmal eine Bewegung hinter sich. Einen Sekundenbruchteil später hatte sich
schon ein Arm um sie herumgewunden; eine Hand preßte sich auf ihren Mund, nahm
ihr die Luft zum Atmen und Schreien. Panisch wand sie sich hin und her, doch ihr
unbekannter Angreifer war eindeutig im Vorteil. Er hielt sie mühelos fest.
Noch während sie überlegte, wer sie hier im Centre wohl angreifen könnte und
was sie jetzt noch tun konnte, spürte sie, wie etwas Kühles, Scharfes an ihrem
Rücken entlang schabte. Ein Blitz, dessen Licht von hinten, aus Richtung des
Foyers kam, erhellte Teile des Korridors vor ihr, zeigte ihr ihren eigenen
Schatten und den ihres Angreifers, samt dem Messer, das er in der Hand hielt.
Ohrenbetäubender Donner schien das Centre in seinen Grundfesten zu erschüttern;
ihr Blut rauschte in ihren Ohren, als Brigitte verzweifelt um ihr Leben kämpfte.
Ihr Widerstand erstarb, als das Messer sie zuerst im Rücken traf, wo die Klinge
mühelos bis zu einer ihrer Nieren vordrang. Der Schmerz war schlimmer als
alles, was Brigitte je erlebt hatte, doch er schien immer mehr nachzulassen, je
öfter sie spürte, wie die Klinge in ihren Körper eindrang. Warmes Blut strömte
überall an ihrem Körper herunter, bildete bereits eine große Pfütze zu ihren
Füßen. Mit dem Blut verließ auch das Leben Brigittes Körper. Das letzte, was
sie spürte, war wie das Messer ihren Bauch durchstieß und sich seinen Weg bis
zu dem ungeborenen Leben in ihr bahnte. Ihre letzte Empfindung war Mitleid für
das hilflose Wesen in ihr; dann wogte gnädige Schwärze heran und erlöste sie
für immer vom Leid dieser Welt.
***
In den Schatten eines anderen Seitenganges stand ein Mann, leicht gebeugt, und
sah den Ereignissen ruhig zu. 'Wer hätte damit rechnen können?', dachte er mit
mildem Erstaunen.
Er wartete, bis der Mann von seinem Opfer abgelassen und sich hastig entfernt
hatte, dann machte er sich, so schnell er konnte, auf den Weg zum
Forschungstrakt. Wenige Minuten später kehrte er mit einem glitzernden Skalpell
in der Hand zurück, eilte hinüber zu der Leiche und barg den größten Schatz,
den das Centre seit langem beherbergt hatte.
Ende Teil 16
Fortsetzung folgt...
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