Die zukünftige Entscheidung durch das Bundesberufungsgericht für den 3. Gerichtsbezirk der Vereinigten Staaten kann zwar eingegrenzt, nicht aber mit irgendeiner relevanten Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden. Die Verteidiger zeigten sich optimistisch und sind zuversichtlich. Selbstverständlich werden auch allenthalben Beschreibungen der Anhörung vom 17. Mai veröffentlicht die eine anscheinend schwierige Position der Staatsanwaltschaft andeuten. Dies hängt aber auch davon ab, wessen Bericht man liest. Zwar scheinen alle Reporter bei der selben Anhörung gewesen zu sein, haben aber durchaus nicht das gleiche gehört.
Die Mehrzahl der Berichterstatter sieht die Position der Verteidigung geringfügig im Vorteil. Aber kein Bericht wagt eine deutliche Prognose. Die Richter des Bundesberufungsgerichts ließen sich auch nicht in die Karten blicken. Wahrscheinlich war die Staatsanwaltschaft weniger zuversichtlich als die Verteidigung, da sie vor der Anhörung beantragte, daß sich die Richter für befangen erklären sollen. Die Richter lehnten dies ab. In der Vergangenheit fällte dieses Gericht schon häufig Entscheidungen welche den Absichten der Staatsanwaltschaft zuwider liefen. Dies war wohl der eigentliche Grund für den abgelehnten Antrag.
Die drei Richter - vorsitzender Richter Anthony J. Scirica, Richter Thomas L. Ambro und Richter Robert E. Cowen - hörten Argumente zu insgesamt 4 Punkten:
- Die Aufhebung des Todesurteils (nicht aber der Verurteilung wegen vorsätzlichen Mordes) wegen eines Fehlers in den Anweisungen für die Geschworenen
- Die Zulässigkeit des Plädoyers durch Staatsanwalt Joseph McGill wonach für den Angeklagten „Berufung auf Berufung“ folgen würde
- Der Vorwurf des Rassismus während der Auswahl der Geschworenen
- Die Korrektheit der Verhandlungsführung durch Richter Sabo während der PCRA-Anhörungen (nicht aber während der Verhandlung von 1982)
Für keinen einzigen dieser Punkte kann eine sichere Prognose abgegeben werden.
Die Aufhebung des Todesurteils wegen eines Fehlers in den Anweisungen für die Geschworenen
Bundesrichter Yohn gab in seiner Entscheidung vom 18.12.2001 der Verteidigung in einem einzigen Punkt recht: das Formular zur Festlegung der Strafe war gemeinsam mit den mündlichen Anweisungen durch den Richter nicht verfassungsgemäß. Die Geschworenen wurden nicht darüber aufgeklärt, daß die mildernden Umstände nicht einstimmig festgestellt werden müssen. Sie müssen einen mildernden Umstand auch dann berücksichtigen, wenn nur ein einziger Geschworener glaubt, daß dieser Umstand zutrifft. Diese Entscheidung basiert auf einem Urteil des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1988 (Mills gegen Maryland).
Die Staatsanwaltschaft hat die Aufhebung des Urteils von 2001 und die erneute Einsetzung des Todesurteils beantragt. Wenngleich der Richterspruch nicht mit Sicherheit prognostiziert werden kann, sind sich praktisch alle Beobachter darin einig, daß sie die Umkehrung von Yohns Urteil nicht erwarten. Die Begründung für diese Einstellung kann sowohl politischer Glaube als auch faktische Überzeugung sein. Das 3. Bundesberufungsgericht gilt als einigermaßen „liberal“, und manche Kommentatoren sind daher zur Überzeugung gelangt, daß die Richter die erneute Einsetzung des Todesurteils aus politischen Gründen ablehnen werden. Eine solche Prognose baut wohl eher auf Wunschdenken als auf Realität auf. Der Glaube an die politische Beeinflußbarkeit könnte sich sehr leicht als fehlerhaft erweisen. Gleichzeitig hat Yohn aber auch eine sehr sorgfältige Untersuchung des Formulars und der Anweisungen an die Geschworenen durchgeführt (Seiten 235-262 seiner 270 Seiten starken Urteilsbegründung) und dabei die vorangegangene gegenteilige Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof Pennsylvanias heftig kritisiert. Sein detaillierter Vergleich mit anderen Fällen (Boyde, Frey, Banks und Zettlemoyer) stellt ein sehr sicheres Fundament für seine Entscheidung dar.
Wenn das Todesurteil erneut festgelegt wird, müßte der Fall zurück an das Bundesbezirksgericht verwiesen werden. Richter Yohn hat 7 Punkte des Antrags der Verteidigung (Punkte 21-24, 26-28) nicht behandelt, da sie durch sein Urteil irrelevant wurden. Nach einer Aufhebung seines Urteils müßte er diese 7 Punkte ebenfalls behandeln. Wenn Yohns Entscheidung bestätigt wird, hätte die Staatsanwaltschaft 180 Tage Zeit um eine erneute Bestimmung des Strafmaßes durchzuführen.
Die Rechtmäßigkeit des Plädoyers durch Staatsanwalt Joseph McGill
Die Zulässigkeit von Joseph McGills Schlußplädoyer gilt unter Juristen als einer der schwierigsten und kontroversesten Punkte. Es geht nicht nur darum ob das Plädoyer unzulässige Behauptungen enthielt, sondern um die Frage ob diese Behauptungen ausreichen um das Verfahren zu annullieren. Das Argument, Abu-Jamal hätte „eine Berufung nach der anderen“ war mit Sicherheit nicht sauber. Ähnlich fragwürdig war die Erwähnung LaGrands, welcher nicht als Zeuge ausgesagt hat, um die Aussage Durhams zu untermauern. Für Richter Yohn war keines der Argumente der Verteidigung ausreichend um der Berufung stattzugeben, weder für sich betrachtet noch als Ganzes. Es ist aber auch denkbar, daß die Berufungsrichter das Gewicht aller angeführten Punkte anders betrachten.
Falls die Bundesrichter der Berufung stattgeben würde dies zu einem neuen Prozeß gegen Abu-Jamal führen. Er müßte wahrscheinlich wegen dringenden Tatverdachts im Gefängnis bleiben, hätte aber aufgrund der langen Haftzeit sogar eine geringe Chance auf Kaution entlassen zu werden. Die Staatsanwaltschaft würde selbstverständlich berufen und die Chancen, daß der Oberste Gerichtshof diesen Fall zur Entscheidung annehmen wird, sind einigermaßen groß.
Der Vorwurf des Rassismus während der Auswahl der Geschworenen
Die Verteidigung behauptet vehement, die Auswahl der Geschworenen wäre rassistisch gewesen. Tatsächlich behaupteten schon frühere Anwälte, dieser Fall wäre von Rassismus geprägt gewesen. Während der Anhörung vom 17. Mai legten die Anwälte ihr Hauptaugenmerk ebenfalls auf den Aspekt des Rassismus. Noch stärker kamen diese Vorwürfe in Interviews zu Vorschein. Unzählige Kommentatoren sehen das rassistische Verhalten des Staatsanwalts als erwiesen an. (Ähnlich lautende Vorwürfe gegen den Richter können in diesem die Geschworenenauswahl betreffenden Punkt naturgemäß nicht behandelt werden.) Als sichtbares Zeichen für diese rassistische Beeinflussung des Verfahrens wird angeführt, daß Staatsanwalt McGill 11 von 15 qualifizierten schwarzen Geschworenen ohne Angabe von Gründen abgelehnt hat. Trotzdem soviel von Rassismus die Rede ist, möchte ich dem geschätzten Leser meine eigene Meinung nicht vorenthalten: während der Auswahl der Geschworenen läßt sich kein einziger Fall einer rassistischen Entscheidung erkennen! Angesichts der oben angeführten Zahlen mag dies oberflächlich fragwürdig erscheinen, ein Blick auf die Auswahl der Geschworenen zeigt aber deutliche Gründe an. Im Urteil Richter Yohns findet sich eine Liste mit den Gründen für den Ausschluß der jeweilige Person (siehe Seite 212).
- Janet Coates (schwarz; Vorbehalte gegen Polizei, hörte Abu-Jamal im Radio)
- Alma Austin (schwarz laut Übereinkunft; starke Gefühle gegen die Todesstrafe)
- Verna Brown (schwarz; hörte Abu-Jamal im Radio)
- Beverly Green (Übereinkunft zur Hautfarbe zurüggezogen; zögerliche Beantwortung von Fragen)
- Genevieve Gibson (schwarz; hörte Abu-Jamal im Radio)
- Giatano Ficordimondo (Hautfarbe unbekannt; Alter 22, war noch nie Geschworener)
- Webster Reddick (schwarz; zögerliche Beantwortung von Fragen, starke Vorbehalte gegen die Todesstrafe)
- John Finn (Hautfarbe unbekannt; Kleriker, zögerliche Beantwortung von Fragen)
- Carl Lash (schwarz; Gehörprobleme, früherer Gefängnisberater)
- Delores Thiemicke (Hautfarbe unbekannt; Alter 24, arbeitslos, war noch nie Geschworene)
- Gwendolyn Spady (schwarz; hörte Abu-Jamal im Radio)
- Mario Bianchi (Hautfarbe unbekannt; hörte Abu-Jamal im Radio, verstand die Unschuldsvermutung nicht)
- Wayne Williams (schwarz; Alter 21, hörte Abu-Jamal im Radio)
- Henry McCoy (schwarz; Tochter arbeitete für die gleiche Radiostation wie Abu-Jamal, und drückte deutliche Meinungen aus)
- Darlene Sampson (schwarz laut Übereinkunft; hörte Abu-Jamal im Radio, war gegen die Todesstrafe, deutete an sie könnte nicht unparteiisch sein wenn das Verfahren lange dauert)
In dieser Liste werden 10 von 15 ausgeschlossenen Geschworenen als ‚schwarz’ bezeichnet. Beverly Green, die möglicherweise 11. schwarze Kandidatin, wurde gemäß einer Übereinkunft zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft zwar ebenfalls als schwarz bezeichnet, Leonard Weinglass versuchte jedoch wenige Tage später diese Übereinkunft zu annullieren. Die Hautfarbe dieser Frau ist daher fraglich.
Die Liste zeigt 2 Punkte sehr deutlich. Zunächst existierten für jede Person deutliche Gründe um den Staatsanwalt zu einer Ablehnung zu veranlassen. In einigen Fällen könnte man sogar diskutieren, ob diese für eine begründete Ablehnung ausreichen würden (ganz besonders Nr. 14 und 15). Man sieht aber auch, daß 7 der 15 abgelehnten Personen Abu-Jamal im Radio hörten. Dies reichte für eine begründete Ablehnung nicht aus, konnte aber trotzdem einen Verdacht erwecken. Wenn jemand Abu-Jamal öfters im Radio hört, wird diese Person möglicherweise eine irgendwie vorgefaßte Meinung über den Angeklagten haben. Abu-Jamal wäre für einen solchen Geschworenen mehr kein Unbekannter. Die Gefahr, daß ein solcher Geschworener bereits eine positive Meinung von Abu-Jamals haben könnte, war für die Staatsanwaltschaft viel zu groß. Der Grund für die Erlaubnis zur Streichung von bis zu 20 Geschworenen ohne Angabe von Gründen sind genau diese Verdachtsmomente die für eine begründete Ablehnung nicht ausreichen aber trotzdem Unbehagen auslösen können.
Grundsätzlich halte ich es für legitim alle potentiellen Geschworenen auszuschließen, die Abu-Jamal im Radio gehört haben. Dieser eine Punkt stellte aber von Anfang an eine Trennlinie zwischen weiß und schwarz dar. Seine Radioberichte waren auf die schwarzen Zuhörer Philadelphias ausgerichtet. Weiße Zuhörer waren eher selten. Deshalb waren auch sechs der sieben aus diesem Grund abgelehnten Geschworenen schwarz. Die Ablehnung dieser Personen basierte zwar in einem indirekten Sinn auf der Hautfarbe, war aber keinesfalls rassistisch motiviert. Wenn man die oben angeführte Liste um diese sieben Personen bereinigt, verbleiben noch vier (oder fünf) Schwarze zu vier (oder drei) Weißen (ohne oder mit Beverly Green), was nicht einmal oberflächlich als rassistisch gedeutet werden kann. Somit bleibt außer oberflächlichen Zahlenspielereien nichts übrig. Auch die von der Verteidigung angefügten Beweismittel waren lediglich statistische Gutachten. Die Verhandlungsmitschriften zeigten keine rassistisch motivierten Fragen.
Ich kann die Entscheidung des Bundesberufungsgerichts in diesem Punkt genauso wenig vorhersagen wie andere Beobachter. Es wäre für mich jedoch eine Überraschung und gleichzeitig eine Enttäuschung, wenn die Richter Rassismus entdeckten. Das Verhandlungsprotokoll unterstützt den Rassismusvorwurf in keinem Punkt. Weder der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias noch Richter Yohn konnten einen Hinweis auf Rassismus entdecken. Wenn die Bundesrichter trotzdem rassistische Motive entdeckten, würden sie in meinen Augen unsachgemäß reagieren. Allerdings ist dies nur meine persönliche Meinung. Für mich war es bereits überraschend, daß sie diesen Punkt zur Berufung zugelassen haben.
Sollten die Bundesrichter in diesem Punkt im Sinne der Verteidigung entscheiden, könnten sie sich für zwei unterschiedliche Vorgehensweisen entscheiden. Sie könnten die Auswahl der Geschworenen annullieren und ein neues Verfahren anordnen. Die zweite Möglichkeit ist eine Beweisanhörung zu diesem Punkt um die Frage genauer zu klären. Dazu würde das Verfahren erneut an Richter Yohn verwiesen werden.
Die Korrektheit der Verhandlungsführung durch Richter Sabo während der PCRA-Anhörungen
Schon seit dem ersten Verfahren vom Juni 1982 wurde Richter Sabo als voreingenommen bezeichnet. Während der PCRA-Anhörungen wurde er erneut kritisiert, von der Verteidigung aufgefordert sich zurückzuziehen und von der Presse in zahlreichen Leitartikeln als voreingenommen bezeichnet. Im Rahmen der jetzigen Berufung wird nur sein Verhalten während der PCRA-Anhörungen, nicht aber während des ersten Verfahrens behandelt. Aus praktischer Sicht ist dies keine wirkliche Einschränkung, da das Verfahren von 1982 der Verteidigung keine Angriffspunkte bietet. Zwar gehen die am lautesten gegen Sabo vorgebrachten Anschuldigen - er hat Abu-Jamal das Recht entzogen sich selbst zu verteidigen und hat ihn dreizehn Mal aus dem Gerichtssaal entfernt - auf das erste Verfahren zurück, stellen aber gleichzeitig keinen Angriffspunkt für die Verteidigung dar. Beide Aktionen des Richters waren gut begründet.
Die Verfahren von 1995-97 sahen deutlich anders aus. Die feindselige Atmosphäre während der PCRA-Anhörungen ist sogar aus den Mitschriften ersichtlich, obwohl es sich dabei nur um „kaltes Papier“ handelt. Auch der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias hat festgestellt, daß ein Richter nur ein Mensch mit Gefühlen ist. Seine zum Teil heftigen Reaktionen waren deutlich sichtbar und waren nicht immer eine Reaktion auf das Verhalten der Verteidigung. Es geht ebenfalls deutlich hervor, daß Richter Sabo Einsprüche zuweilen in einer fragwürdigen Weise behandelt hat und auch dann innerhalb des rechtlich erlaubten Rahmens geblieben wäre, wenn er anders entschieden hätte. Jetzt muß aber nur noch geklärt werden, ob Richter Sabo mit seinen Entscheidungen tatsächlich unrechtmäßig vorgegangen ist. Der Oberste Gerichtshof Pennsylvanias hat diesen Vorwurf zurückgewiesen. Richter Yohn hat diese Frage aus formalen Gründen nicht konsequent behandelt, aber gleichzeitig auf die gründliche Untersuchung durch die Richter aus Pennsylvania verwiesen und erwähnt, daß er eine große Anzahl dieser Entscheidungen bereits an anderer Stelle untersucht hat und keinen Fehler entdecken konnte.
Wenn Abu-Jamal in diesem Punkt die Zustimmung der Richter gewinnt, wird das Verfahren an das Gericht in Pennsylvania zur Abhaltung einer erneuten Anhörung verwiesen. Dies wäre aber nur eine Fortsetzung der PCRA-Anhörungen und kein neues Verfahren.
Im Moment liegt die Anhörung bereits gut zwei Monate zurück. Unmittelbar nach der Anhörung wurde geschätzt, die Richter des Bundesberufungsgerichts würden für eine Entscheidung irgendwo zwischen 30 und 90 Tage benötigen. Wenn sie weiterhin so schnell sind wie bisher, kann diese Entscheidung noch sehr viel länger dauern als nur ein paar Monate.