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Rätekommunistische Kritik am Anarchismus von Nelke

Wir RätekommunistInnen lehnen den Staat als bürgerliche Organisationsform in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus ab. Es ist also nicht das erklärte Ziel des Anarchismus -die Abschaffung des Staates -die wir an ihm kritisieren, sondern seine Methoden, die diesem Ziel oftmals gar nicht dienlich sind. Weil der Parteimarxismus unfähig war/ist, sich aus dem Staatsfetischismus zu befreien, hat seine Anarchismuskritik einen reaktionär-bürokratischen Beigeschmack. Deshalb möchten wir eine wirkliche materialistische Kritik des Anarchismus leisten. Und diese Kritik ist nicht unwichtig, denn ähnlich wie der Parteimarxismus, führten die anarchistischen Methoden die ArbeiterInnenbewegung oft in revolutionären Situationen in Sackgassen und verwirrten/verwirren die revolutionären Minderheiten in stabilen Phasen der Klassengesellschaft.

1. Idealismus, Individualismus und Moralismus

Kritisieren wir den Anarchismus und die falsche parteimarxistische Kritik an ihm, am Beispiel des kommunistischen Anarchismus Erich Mühsams. Denn dieser Anarchismus steht dem Rätekommunismus am nächsten -und dennoch trennt beide ein methodischer Abgrund.

Erich Mühsam distanzierte sich vom individualistischen Anarchismus, der jede gesellschaftliche Organisation ablehnt. So schrieb Mühsam: "Entschiedene Abgrenzung aber ist geboten gegenüber den individualistischen Anarchisten , die in der egoistischen Steigerung und Durchsetzung der Persönlichkeit allein das Mittel zur Verneinung des Staates und der Autorität erblicken und selbst den Sozialismus wie jede allgemeine Gesellschaftsorganisation schon als Unterdrückung des auf sich selbst beruhen Ich zurückweisen. Sie schließen die Augen vor der naturgegebenen Tatsache, daß der Mensch ein gesellschaftlich lebendes Wesen ist und die Menschheit eine Gattung, in der jedes Individuum auf die Gesamtheit, die Gesamtheit auf jedes Individuum angewiesen ist. Wir bestreiten die Möglichkeit und auch die Wünschbarkeit des vom Ganzen losgelösten Individuums, dessen vermeintliche Freiheit nichts anderes sein könnte als Vereinsamung, mit der Folge des Untergangs im sozial luftleeren Raum. Wir behaupten: niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind. Die Freiheit aller aber und damit die Freiheit eines jeden setzt voraus die Gemeinschaft im Sozialismus." (1)

So weit so gut. Aber auch der kommunistische Anarchismus Erich Mühsams ist nicht frei von kleinbürgerlichen Individualismus. So verherrlichte Mühsam den bürgerlichen Individualismus der am kleinen Privateigentum klebenden BäuerIn-nen in einer solchen Art und Weise, der auf uns SchülerInnen des historischen Materialismus nur höchst befremdlich wirken kann. Mühsam brachte den kleinbürgerlichen Anteil seiner Theorie so auf den Punkt: "Der Bauer, soweit er nicht schon als Ausgebeuteter, dem Großgrundbesitz und der Staatskasse Verschuldeter oder auch selbst zum kapitalistischen Ausbeuter Erniedrigter dem bäuerlichen Naturgefühl entfremdet ist, hat Heimatliebe, weil er wirklich Heimat hat. Ein bestimmtes Stück Land umfängt ihn, ernährt ihn, ist ihm in Sorge und Freude vertraut; seine Arbeit verschmilzt mit seinem ganzen persönlichen Leben, seine Scholle ist sein Nest, die Natur, ganz gebunden an die Landwirtschaft, ist sein Besitzgut, und von ihr hängt das Gedeihen oder das Mißlingen seines Daseins ab. Der Bauer fühlt sich nicht als Eigentümer des Bodens, sondern als Besitzer; er sitzt darauf mit mit denen, die viel weniger seine machtunterworfene Familie als seine in gegenseitiger Verpflichtung verbundenen Helfer sind. Wohl hat das Priestertum auch in der Bauernschaft den Geist der Autorität hochzüchten können, so daß bei der Beharrlichkeit des bäuerlichen Denkens die Grundsätze des ehelichen Gebundenheit und der Vaterhohheit, zumal in einer geschickt gefädelten Verquickung mit den Regelungen des Familien- und Erbrechts die Welterneuerung auch auf dem Lande noch genügend Vorurteile der Macht zu überwinden haben wird. Dennoch hat hier der kommunistische Anarchismus nicht das unzugänglichste, sondern das dankbarste Feld seiner Zu-kunft zu erkennen." (2)

Ab einer bestimmten Stufe wird der Idealismus lächerlich. Mühsam hat in dieser Frage die Grenze weit überschritten. Was für eine grobe Idealisierung der "Idiotie des Landlebens" (Karl Marx), die Jahrhundertelang aus Analphabetismus und religiöser Beschränktheit und schwerer körperlicher Arbeit bestand! Was für eine grobe Idealisierung der patriarchalen bäuerlichen Familie! Welche Blindheit gegenüber dem kleinbäuerlichen Privateigentum, das Mühsam so pathetisch verherrlicht! Kleines Privateigentum strebt im allgemeinen dahin ein mittleres/großes zu werden.

Es ist kein Zufall, daß der Anarchist Mühsam, die KleinbäuerInnen verherrlicht. Historisch gesehen ist der Anarchismus der radikalere Bruder des Liberalismus. Er ist die Ideologie der militanten KleinbürgerInnen die ihr Privateigentum gegen die bedrohliche Konkurrenz, gegen das Großkapital verteidigen. Selbst der Anarchismus Erich Mühsams, der sich auf die ArbeiterInnenbewegung bezieht, kann sich nicht ganz von diesem kleinbürgerlichem Ursprung abnabeln. Für uns RätekommunistInnen ist das kleinbäuerliche Eigentum nichts was sich lohnt zu verteidigen. Ganz im Gegenteil. Für uns ist die russische BäuerInnenschaft neben der Bourgeoisie, menschewistischen und bolschewistischen Parteimarxismus die gesellschaftliche Hauptkraft der russischen Revolution, die diese in den Schranken einer bürgerlichen Revolution hielten. Nur die revolutionäre internationale Rätebewegung der ArbeiterInnen hätte das national-staatskapitalistische Joch des Bolschewismus abschütteln und eine internationale kommunistische Gesellschaft schaffen können. Für uns sind KleinbäuerInnen vor allen Dingen eine konservative soziale Schicht. Für Mühsam sieht die Sache anders aus: "Jeder Bauer ist, ohne es zu wissen, Anarchist..." (3) Hier wird kleinbürgerlicher Individualismus zum Grundbestandteil des Anarchismus gemacht.

Interessanterweise lassen die ParteimarxistInnen der trotzkistischen SAV in einem Artikel, die sich der marxistischen Anarchismus-Kritik widmet, diese idealistischen und kleinbürgerlichen Bestandteile des kommunistischen Anarchismus unerwähnt. Das was sie an dem kommunistischen Anarchismus kritisieren sind seine progressiven Bestandteile, die er auch mit dem marxistischen Rätekommunismus teilt. So schreiben sie sachlich falsch und einseitig über die marxistische Kritik des kommunistischen Anarchismus: "Unterschiede zu den MarxistInnen bestehen bestehen in der Parteifrage, Staatsfrage und der Übergangsgesellschaft". (4) Wir verstehen uns auch als MarxistInnen, und gerade in diesen Fragen bestehen zwischen uns und den kommunistischen AnarchistInnen große Gemeinsamkeiten. Ja, selbst größere Gemeinsamkeiten als zum Parteimarxismus, der sich auf bestimmte Aussprüche von Marx und Engels stützt, indem diese die materiellen Verhältnisse des Staatseigentums idealisiert. Wir stimmen Mühsams Kritik am Parteimarxismus größtenteils zu. Ja, wir halten sie zum Teil "marxistischer" -besser gesagt: materialistischer -als manche Äußerungen von Marx und Engels in der Staatsfrage. Wie wir bereits geschrieben haben, ist nicht der/die ein guter SchülerIn des historischen Materialismus, der/die die meisten Marx-Zitate auswendig kann, sondern wer die materielle Wirklichkeit richtig analysiert. Und in der "Parteifrage, Staatsfrage und der Übergangsgesellschaft" sind die TrotzkistInnen idealistischer als der kommunistische Anarchismus!Wer an Äußerungen von Marx kleben bleibt, wenn diese von der Wirklichkeit selbst überholt worden sind, für die/den kann nur gelten: Hinsetzen, 6! Kurs im historischen Materialismus nicht bestanden! Dieses harte Zeugnis stellt das Leben dem Parteimarxismus aus.

So schrieb Mühsam ganz richtig:"Allgemein kann gelten, daß gleichartige Verhältnisse gleichartiges Verhalten zur Folge haben, gleichartiges Verhalten also ebenso gleichartige Verhältnisse bewirkt. Hat der Kapitalismus zur Kräftigung seiner Herrschaft über die Menschen eine zentralisierte Staatsverwaltung eingerichtet, die bei steter Steigerung des obrigkeitlichen Drucks die Macht des Kapitals dauernd vermehrt hat und rückwirkend eine ständige Erweiterung der staatlichen Befugnisse zum Schaden der Arbeiter und zum Nutzen der Bevorrechtigten verursachte, so bedeutet das, daß der von oben geleitete Staat die allein geeignete Organisationsform zur Erhaltung und Förderung kapitalistischer Wirtschaftsführung ist; zugleich aber bedeutet es, daß nur kapitalistische Verhältnisse mit dem staatlichen Zentralismus im Sinne der beabsichtigten Wirkung, und daß ferner jede staatliche Zentralmacht Kapitalismus entwickeln und, wo er etwa nicht oder nicht mehr vorhanden ist, neu erzeugen muß. Wenn daher gewisse Auslegungen der marxistischen Lehre davon überzeugen wollen, daß das Wesen des Kapitalismus durch die Verfügung privater Ausbeutung über die Produktionsmittel bedingt sei, ihre Bewirtschaftung durch den Staat jedoch bereits als Kennzeichen des Sozialismus gedeutet werden dürfe, so kann nicht heftig genug gegen eine solche Verfälschung und Umkehrung des sozialistischen Grundgedankens Einspruch erhoben werden. Staatskapitalismus, auch wenn man ihn Staatssozialismus nennen will, hat mit wirklichem Sozialismus nicht das allgeringste zu tun, ist im Gegenteil dem Gemeinschafts- Gegenseitigkeits- und Selbstverantwortungsgeist, ohne den kein Sozialismus sein kann, feindlichste Form der kapitalistischen Verknechtung.

Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Staat vom Proletariat erobert wird, um ihn in allmählicher Umgestaltung für sozialistische Lebensbedingungen herzurichten, oder ob man anstelle des durch Revolution zerstörten privatkapitalistischen Staates einen anderen schaft, in dem von vornherein Staatsgewalten die Obliegenheiten des Nutznießers der der eigenen Verfügung und Auswertung entzogenen Arbeitskraft der werktätigen Menschen versehen. Auch das Zugeständnis an die natürliche Einsicht der Sozialisten, die die Unvereinbarkeit von Staat und gesellschaftlicher Gleichheit erkennen, ist wertlos, wonach der mit dem Streben zu sozialistischen Wirtschaftsformen regierte Staat die Eigenschaft habe, mit dem Hinschwinden des Kapitalismus sich selbst überflüssig zu machen, abzusterben und einer Gesellschaft föderativ verbundener Gleichberechtigter den Weg zur Vollendung des Sozialismus freizumachen. Ein Staat stirbt nicht ab, sondern festigt sich, indem er die Grundlagen, auf denen er ruht, ausbaut. Die Grundlagen des Staates sind die kapitalistischen Klassenverhältnisse, und es macht keinen Unterschied, ob die Klassengegensätze aus der Privatverfügung Weniger über die Erde und die Arbeitsmittel stammen oder durch Übertragung derselben Verfügung auf eine Auslese staatlicher Befehlshaber herbeigeführt werden. Mag es immerhin moralisch befriedigender sein, die Ausbeutungsrechte nicht in den Händen persönlicher Habgier zu wissen, -es kommt darauf an, daß alle Ausbeutung ausgetilgt, nicht darauf, daß sie entpersönlicht wird. Für den schaffenden Menschen ist es ohne Bedeutung, ob seine Leistung einer Aktiengesellschaft zugute kommt, die den Nutzen daraus in Form von Gewinnanteilen Leuten zuführt, welche mit der Arbeit selbst gar keine Berührung haben, häufig nicht einmal wissen, was in dem Werk dessen Mitinhaber sie sind, überhaupt hergestellt wird, -oder ob der Staat seinen Arbeitsertrag einzieht. Die Wirkung ist für ihn ganz gleich: das Erzeugnis seiner Arbeit gehört nicht ihm, es ist seiner Verfügung entzogen, und sein Vorteil liegt überhaupt nicht darin, daß das Erzeugnis da ist, sondern nur darin, daß er für die Herstellung Lohn erhält. Am Lohnsystem ändert sich durch die Überführung des Privatkapitalismus in Staatskapitalismus nicht das geringste, das Lohnsystem aber ist das Kennzeichen der Ausbeutung." (5)

Was für eine gute Analyse! Wer Interesse verspürt, kann ja diese Analyse mit dem Unsinn vergleichen, die der "Marxist" Trotzki zu diesem Thema geschrieben hat (für Trotzki war die UdSSR ein "bürokratisch degenerierter ArbeiterInnenstaat"), von den StalinistInnen ganz zu schweigen. Wir sehen also, daß der Anarchist Mühsam mehr von der Kritik der politischen Ökonomie verstand als gewisse parteimarxistische Herren und Damen. Und noch etwas belegen diese Zeilen: wir haben am Anfang geschrieben und auch am Beispiel der Haltung zur BäuerInnenschaft belegt, daß die Unterschiede in der Methode zwischen kommunistischen Anarchismus und Rätekommunismus zum Teil doch recht groß sind. Aber unsere Gemeinsamkeiten mit dem kommunistischen Anarchismus sind viel größer als die, die wir mit den leninistischen Sekten haben. Wir hoffen natürlich, daß die leninistischen ParteibürokratInnen nie wieder die materielle Macht haben werden "ArbeiterInnenstaaten" zu errichten, aber wenn es doch der Fall sein sollte, müssen diese Staaten von der revolutionären Bewegung gestürzt werden, denn sonst wird abermals die bürgerliche Scheiße in roter Verpackung serviert. Nicht mit uns RätekommunistInnen und AnarchokommunistInnen! Wir werden dann auf der selben Seite der Barrikade stehen -gegen den Partei-"Kommunismus"!

Aber VertreterInnen des Rätekommunismus und des kommunistischen Anarchismus können nicht nur in Zukunft zusammen kämpfen, sie können es schon jetzt. Deshalb sind alle kommunistischen AnarchistInnen aufgefordert, mit uns Kontakt aufzunehmen. Laßt uns gemeinsam kämpfen aber auch gegeneinander den theoretischen Streit ausfechten, über die Dinge, die uns trennen. Wobei wir wieder bei der Frage der Methode wären. Mühsam bekämpfte nicht nur den Parteimarxismus, sondern auch den historischen Materialismus als Denkmethode. Und in dieser Frage kann es für uns RätekommunistInnen keine Kompromisse geben. In einigen wichtigen Fragen sind die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus von der Wirklichkeit überholt, aber die von ihnen geschmiedete Waffe des historischen Materialismus ist es mit 100 Prozentiger Sicherheit nicht! Wenn wir Marx kritisieren, dann als konsequente historische MaterialistInnen, d.h. wir kritisieren nicht nur seine Fehler, sondern weisen auch auf die materiellen Ursachen dieser Fehler hin (siehe I. 1. Marx/Engels und der Parteimarxismus). Obwohl Mühsam in seiner Kritik des Parteimarxismus die selbe Position wie der marxistische Rätekommunismus einnimmt, lehnt er den historischen Materialismus ab. Was er zu dieser Frage geschrieben hat, ist sehr schlecht. Er begab sich wieder auf das platte Niveau des Idealismus.

So polemisierte Mühsam gegen den historischen Materialismus: "Erst wenn (...) der Grundsatz der Gleichheit geistigen Sinn und sittliche Erhöhung erfährt, ist er nach anarchistischer Auffassung sozialistisch gerechtfertigt. Nicht auf den Aus-gleich ins Wanken geratener äußerlicher Verhältnisse zwischen den Menschen kommt es an, sondern darauf, daß dieser Ausgleich aus innerer Notwendigkeit unternommen wird; und nicht die Ungleichheit an sich in hinlänglicher Anlaß Gleichheit zu schaffen, sondern die Ungerechtigkeit, die in der Ungleichheit zutage tritt." (6) Die Ungleichheit ist eine soziale Tatsache in der Klassengesellschaft. Sie führt zum Klassenkampf. "Ungerechtigkeit" ist nur eine moralisierende Umschreibung der sozialen Ungleichheit. "Gerechtigkeit" gibt es nicht in der sozialen Wirklichkeit, es gibt nur Verteilungskämpfe die die herrschende Klasse begünstigt. Diese findet das sehr "gerecht". Es ist die Ungleichheit, die die Gesellschaftsklassen gegeneinander kämpfen läßt, und moralische Urteile über "Gerechtigkeit" und "Ungerechtigkeit" sind nur eine gefühlsmäßige Widerspiegelung der materiellen Interessen der verschiedenen Klassen. Wir sind selbst zu leidenschaftliche RevolutionärInnen, um die Bedeutung von Gefühlen zu leugnen. Doch der Haß des Hungernden gegen die Satten wird nun mal von dem materiellen Interesse zu essen bestimmt. Und es sind an erster Stelle die ökonomischen Verhältnisse die Satte und Hungernde hervorbringt.

Mühsam verstand das nicht oder wollte es nicht verstehen: "Die Produktionsweise der Gegenwart ist kapitalistisch. Daß sich im materiellen Dasein hieraus für Kapitalisten wie Proletarier ein bestimmtes Verhalten ergibt, versteht sich von selbst. Die marxistische Formel jedoch: das Sein bestimmt das Bewußtsein, bei der das Sein ausdrücklich als ökonomischer Zustand gekennzeichnet ist, ist höchst bestreitbar. Das Bewußtsein des Menschen wird außer von materiellen Werten noch von vielerlei Eindrücken bestimmt und empfängt aus seelischen Bewegkräften manchmal selbst da noch die stärkste Anregung, wo sich die Anteilnahme auf kapitalistische Tatsachen bezieht. Richtig ist, daß die Verhältnisse das Verhalten bestimmen, wobei keineswegs nur ökonomische Verhältnisse in Frage kommen, es können auch aus dem Charakter, der geistigen Besonderheit, der Bindung an andere Personen, dem Klima, dem kosmischen Geschehen entquellende Verhältnisse sein, und wobei das Verhalten ganz unabhängig von allen Produktionsformen von ursprünglichen moralischen Empfindungen angetrieben werden kann." (7)

So kann nur ein Schriftsteller schreiben, deren Leben nicht zum großen Teil daraus besteht, seine Arbeitskraft dem Kapital zu verkaufen und jene Arbeitskraft wieder zu reproduzieren. Daß die menschlichen Verhältnisse ausschließlich aus ökonomischen Verhältnissen bestehen -so etwas würden ersthafte SchülerInnen des historischen Materialismus nie behaupten. Allerdings wagen wir schon die Behauptung, daß der Klassenkampf und die soziale Revolution nicht vom Stand der Sonne, oder ob einige Beteiligte gerade frisch verliebt sind, während andere gerade eine Beziehungskrise durchmachen usw. bestimmt wird, sondern von den materiellen Interessen der ArbeiterInnen die wiederum aus den ökonomischen Produktionsverhältnissen erwachsen. Ob der/die einzelne ArbeiterIn vielleicht ganz besonders kämpferisch ist, weil er/sie vorher guten Sex gehabt hat, wird natürlich nicht von der politischen Ökonomie bestimmt. Aber es ist nicht der befriedig-te oder unbefriedigte Sexualtrieb die Klassenkollektive handeln läßt, sondern gemeinsame materielle Interessen. Der Rätekommunismus baut auf die kollektive Aktion der Klasse und damit auf deren materielle Interessen. Allerdings darf der Begriff "materielle Interessen" nicht zu eng aufgefaßt werden. Die Klassengesellschaft macht die lohnabhängigen Menschen auch psychisch krank. Das Streben wie ein Mensch behandelt zu werden und nicht wie eine unpersönliche Arbeits-kraft, ist genauso ein materielles Interesse wie Essen und Trinken. Indem Mühsam nichtökonomische Ursachen des sozialen Kampfes eine höhere Bedeutung beimißt als sie haben können, offenbart er wiederum seine kleinbürgerliche Beschränktheit.

Denn Muhsam sah im historischen Materialismus eine moralische Entweihung des ethischen Sozialismus: "Daß der Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus treten soll, hat seinen Grund nicht in der praktischen Logik zweckdienlicher Ökonomie, sondern im moralischen Gewissen der gerechten Denkart. Wir verabscheuen den Hunger der Armen, und zwar um der Gerechtigkeit willen!" (8) Wir RätekommunistInnen sind für eine Neuorganisation der ökonomischen Verhältnisse damit jede/r auf der Welt so viel essen kann wie er will. Dabei setzt er auf die Selbstorganisation der lohnabhängigen Klasse, das moralische Gewissen anderer Klassen taugt nur sehr bedingt zur sozialen Revolution.

Das Ungerechtigkeitsempfinden eines typischen linken Philosophieprofessors wird vielleicht dazu führen, daß er die PDS wählt, weil die ja auch soziale Gerechtigkeit fordert. Ein Fließbandarbeiter wird durch die Verhältnisse zum Klassenkampf gezwungen! Also die Politische Ökonomie bestimmt größtenteils das Handeln, wobei wir natürlich nicht sagen, das andere Faktoren keine Rolle spielen, aber eben eine untergeordnete. Natürlich kann ein Chemieprofessor ein Sympathisant des Rätekommunismus sein, während ein Müllfahrer rassistische Gedanken im Kopf hat.

Aber in ein paar Jahren kann unser Chemieprofessor Besitzer einer Reinigungsfirma sein und unser Müllfahrer ist bei ihm angestellt. Der Müllfahrer ist immer noch rassistisch während der ehemalige Chemieprofessor zwar nicht mehr so radikal ist wie früher, aber dennoch irgendwie links. Und jetzt kommt es zum Streik in der Reinigungsfirma. Auf der einen Seite der Kapitalist "mit dem moralischen Gewissen der gerechten Denkart" auf der anderen Seite die ArbeiterInnenklasse und in ihrer Mitte ein Rassist. Und dennoch ist es der Klassenkampf, an dem auch RassistInnen, PsychopatInnen, und Sexisten teilnehmen, der zum Sturz des Kapitalismus führt und nicht moralisches Empfinden. Natürlich stören sexistische und rassistische Vorurteile bei der Formierung einer Einheitsfront der Klasse. Aber vielleicht steht ja unserer rassistischer Müllfahrer mit einem schwarzen Kollegen auf Streikposten und überwindet so seinen Rassismus. Auch in diesem imaginären Fall wäre sein gedanklicher Reifeprozeß nicht Folge einer moralischen Erziehung sondern Folge des Klassenkampfes. Und die Einsicht in gemeinsame materielle Interessen ist tausend mal stärker als jede Moral. Wir bauen deshalb auf den historischen Materialismus und nicht auf das "moralische Gewissen der gerechten Denkungsart".

Mühsams Moralismus war sein schlimmster Fehler. Er betrachtet alles zu sehr aus dem Blickwinkel ob es gut oder böse ist, und viel zu selten ob eine bestimmte Handlung der sozialen Befreiung der Klasse nutzt oder nicht. So geht der Anarchist auch an die Frage des individuellen Terrors heran. Er verteidigt ihn gegen den bürokratischen Terror des Parteimarxismus. Wir RätekommunistInnen lehnen beide Formen der Gewaltanwendung ab, weil sie beide nicht der kollektiven Befreiung der ArbeiterInnenklasse dienen. Wir sind keine PazifistInnen. Der Rätekommunismus bejaht eindeutig die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt, aber sie muß kollektiv organisiert und ausgeübt werden. Weder der bürokratische Terror der leninistischen Parteibürokratien noch der individuelle Terror einiger AnarchistInnen dienten der sozialen Revolution. Der anarchistische Terrorist ist ein radikaler Moralist, der die Ungerechtigkeit sühnt. Aber die individuelle Tötung einzelner Charaktermasken der Klassengesellschaft ändert weder die Produktionsverhältnisse, noch geben sie dem kollektivem Klassenkampf irgendwelche Impulse.

Natürlich erkennen auch wir das Recht auf individuelle Notwehr im Verhältnis zu Staatsorganen oder NeofaschistInnen an. Aber revolutionär kann nur die kollektive Gewalt der Klasse sein, die sie in Selbstorganisation ausübt. In Mühsams Verteidigung des individuellen Terrors paart sich sein Individualismus und Moralismus mit einigen vernünftigen Ansätzen einer materialistischen Kritik am Parlamentarismus und bürokratischen Terror des Parteimarxismus.

So schrieb Mühsam: "Von derselben Seite, die den Anarchisten die Enge ihres politischen Tätigkeitsfeldes glaubt zum Vorwurf machen zu können, weil sie die Vergeudung von proletarischen Kampfkräften in Stimmzettelhäufung als klassenkampfwidrig angreifen, wird ihnen eine bestimmte, in der Vergangenheit vielfach von Anarchisten angewendete Form des unmittelbaren Zufassens verübelt. Die gewaltsame Einzeltat, erklären die Marxisten, sei verwerflich, weil sie das planvolle Handeln der Massen im revolutionären Kampf durchkreuze und infolgedessen den gegenrevolutionären Kräften willkommene Vorwände zu Vergeltungsmaßnahmen liefere, so daß also die ganze Klasse für das Unternehmen eines Einzelnen büßen müsse. Der Grund für diese Verurteilung individueller Tötungen, Brandlegungen, Enteignungen und ähnlicher Taten aus politischer Überzeugung ist sehr durchsichtig. Sie fließt durchaus nicht aus moralischen Bedenken, denen in der marxistischen Denkweise ja allenthalben nur eine sehr untergeordnete Rolle zukommt; auch wird von diesen Bekämpfern des individuellen Schreckens der Massenschrecken ausdrücklich gebilligt. Es ist die Feindschaft autoritärer Zentralisten gegen jede selbstverantwortliche Regung, einer nach eigenen Überlegungen handelnden Persönlichkeit, die sogar die Aufopferung des Lebens im Dienste der revolutionären Idee mißbilligt, wenn die Tat nicht von einer zentralen Obrigkeit beschlossen, befohlen und beaufsichtigt wird. Jedes Heraustreten eines einzelnen Menschen im Kampfe bedeutet eine vom Standpunkt des Herren-, Priester-, Vater- oder Zentrale-Denkens schädliche Minderung der beglaubigten Macht, bedeutet den Beweis, daß wirksame Taten auch auszuführen sind, wenn sie nicht von oben her gelenkt und berechnet sind. So blöde die Meinung ist, die individuelle Gewalt sei ein ausschließlich anarchistisches Werbemittel -in der neueren Zeit sind politische Morde fast nur von Nationalisten begangen worden -,ebenso blöde ist die Ansicht, sie könne im Klassenkampf keine Stätte haben oder die Anarchisten hätten Anlaß sich von den Gewalttätern aus ihren Reihen abzugrenzen.

Hier entscheidet vollständig selbständig die Persönlichkeit über die Tat, und kommt die Persönlichkeit aus anar-chistischer Überzeugung zum Beschluß und zur Ausführung, so unterliegt das Geschehen selbstverständlich der Beurteilung nach Zweckmäßigkeit und Erfolg, aber niemals der Verurteilung aus der Klassenkampfgesinnung heraus. Die anar-chistische Freiheitslehre stellt das Recht der Persönlichkeit viel zu hoch, als daß sie es da, wo eine beleidigte Natur ihrem Gefühl den Ausdruck der Vergeltung gibt, wo ein freiheitlich gesinnter Mensch der Werbung, der Warnung, der Einschüchterung, des Trotzes wegen oder um ein Kampfzeichen zu geben mit einer aufschreckenden Tat vor die Welt tritt, verleugnen sollte. In dieser Betonung liegt zugleich die heftige Zurückweisung der marxistischen Auffassung, Gewalttätigkeit werde dadurch gerechtfertigt, daß sie auf zentrale Weisung geübt werde. Gerade dann entsteht mechanische Gewalt, die Hand, die sie ausführt, ist bloßes Werkzeug, der Mensch, der sie begeht, bloßes Vollzugsorgan. Nur die Tat aber ist nach anarchistischer Denkart sittlich zu verantworten, die aus freiem Willen des Täters, nach der Erwägung im eigenen Hirn, aus der eigenen ersthaft überprüften Überzeugung und unter Einsatz des eigenen Lebens dessen, der sie beschlossen hat, mit dem Bewußtsein unternommen wird, ein Werk gegenseitiger Hilfe, ein Werk brüderlicher Pflicht, ein Werk im Dienste der Idee und der Klasse zu verrichten. Ob es sich dabei um die Tat eines einzelnen, um die Verschwörung Verbündeter oder um eine Massenunternehmung handelt, macht dann keinen Unterschied, wenn jeder Mittäter Herr des eigenen Handelns bleibt, nur tut, was er selbst überlegt und wozu er sich aus seinem sozialen Gewissen heraus entschlossen hat, und die ganze Persönlichkeit freiwillig und ohne Untertanengehorsam und Machtfurcht für die gemeinsame Sache einsetzt." (9)

2. Gewerkschaftsfetischismus

Jede Organisation der ArbeiterInnenbewegung bringt die Gefahr des Organisationsegoismus und -fetischismus mit sich. Denn jede Organisation bringt Institutionen hervor, die immer dahin tendieren, sich zu verselbständigen, eigenständige soziale Interessen herauszubilden und diese in einer besondere Ideologie widerzuspiegeln. Diese verselbständigten Orga-nisationen treten dann ab einer bestimmten Stufe gegen die Bewegung auf, die ursprünglich diese Organisationen erst hervorgebracht haben. Ziel dieser Broschüre ist es, den Parteimarxismus als eine überlebte Ideologie darzustellen und unsere rätekommunistische Alternative zur Diskussion zu stellen. Aber auch der Anarchismus, genauer gesagt: der Anarchosyndikalismus wurde im Verlauf seiner Geschichte zum Gefangenen eines Organisationsfetischismus -den Gewerkschaftsfetischismus. Wir möchten betonen, daß der russische Anarchosyndikalismus in der Revolution von 1917 von dieser Verknöcherung weitgehend frei war und die Autonomie der ArbeiterInnenräte sowohl gegen menschewistische und bolschewistische Parteibürokratie als auch gegen die Gewerkschaften verteidigte (siehe Kapitel: ArbeiterInnenräte in Sowjetrußland und in Deutschland). Der russische Anarchosyndikalismus war im Wesen eine gesunde revolutionäre Strömung.

Im spanischen BürgerInnenkrieg in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts sah das leider ganz anders aus. Hier spielte die anarchosyndikalistische Gewerkschaft C.N.T. eine negative Rolle bei der Lähmung der revolutionären Initiative der spa-nischen ArbeiterInnenklasse. Wir können den spanischen BürgerInnenkrieg hier nur kurz beleuchten, aber die Soziale Befreiung Nr. 6 wird sich ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzen. So beteiligten sich AnarchossyndikalistInnen im spanischen BürgerInnenkrieg an der bürgerlichen sogenannten "Volksfront"-Regierung. Diese bürgerlich-nationale Volksfront sollte die bürgerliche Demokratie nur in zweiter Linie gegen den Faschismus verteidigen, aber in erster Linie die spanische Klassengesellschaft vor der sozialen Revolution schützen. Die StalinistInnen, die eine mächtige Fraktion der Volksfront waren, lösten die erste Aufgabe ausgezeichnet, konnten deshalb aber nicht die zweite lösen. Die anarcho-syndikalistische Führung ließ sich von der Bourgeoisie und der stalinistischen Parteibürokratie wie ein Ochse am Nasenring führen.

Im Disput zwischen Parteimarxismus und Anarchismus ist es oft so, daß die beiden Kontrahenten jeweils gegeneinander Recht haben, aber jeder für sich auf dem Holzweg ist. So haben die AnarchistInnen Recht, wenn sie die bürgerliche und bürokratische Rolle, die der Bolschewismus in der russischen Revolution spielte, kritisieren, aber der Linkskommunismus und der Trotzkismus haben ebenfalls Recht, wenn sie dem spanischen Anarchosyndikalismus Opportunismus vorhalten.

Trotzki schrieb ganz richtig über die bürgerlich-nationale Volksfront einschließlich ihrer anarchistischen MinisterInnen während der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts: "Was die bürgerlich-republikanischen Parteien betrifft, so besaßen sie weder eigene Ideen noch eigene politische Bedeutung und hielten sich nur auf dem Buckel der Reformisten und Anarchisten. Man kann weiterhin ohne Übertreibung sagen, die Führer des spanischen Anarchosyndikalismus haben alles getan, um ihre Doktrin zu desavouieren und praktisch ihre Bedeutung auf Null zu reduzieren. (...) Nach Auffassung der Sozialisten und Stalinisten, d.h. der Menschewiki ersten und zweiten Aufgebots, sollte die spanische Revolution nur ihre "demokratischen" Aufgaben lösen, und dazu sei eine Einheitsfront mit der "demokratischen" Bourgeoisie erforderlich. Jeder Versuch des Proletariats, über den Rahmen der bürgerlichen Demokratie hinauszugehen, ist von diesem Gesichtspunkt nicht nur verfrüht, sondern auch verhängnisvoll. Außerdem steht nicht die Revolution , sondern der Kampf gegen den Rebellen Franco auf der Tagesordnung. Der Faschismus ist jedoch nicht feudale, sondern bürgerliche Reaktion. Erfolgreich kann die bürgerliche Reaktion nur mit den Kräften und Methoden der proletarischen Revolution bekämpft werden. Dafür hat der Menschewismus, selbst ein Zweig des bürgerlichen Denkens, kein Verständnis und kann es auch nicht haben." (10) Bleibt nur hinzuzufügen, daß der Trotzkismus ebenfalls ein Produkt bürgerlichen Denkens ist.

Wenn die anarchistischen ArbeiterInnen in Konflikt mit der bürgerlichen Volksfront-Regierung gerieten, wurden sie von der opportunistischen C.N.T.-Führung zurückgehalten. So war es auch in den Maitagen 1937. In einer anarchistischen Zeitung können wir können wir über die Maitage 1937 lesen: "Die Maitage 1937 in Katalonien waren überschattet von einem blutigen Kampf. Einem Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, der 500 Tote und 1000 Verwundete kostete. Anlaß zu die-sem Konflikt war ein mehrschichtiger Komplex, der sich aus den Gegensätzen zwischen den alten Mächten und den neu-en Kräften ergab. Nach den siegreichen Julitagen des Jahres 1936 (Sieg der ArbeiterInnenklasse gegen Franco, nicht we-gen, sondern trotz und gegen die Volksfront, Anmerkung des Autors) hatten sich in Barcelona Kontrollpatrouillen gebildet (...) Als es zwischen diesen Patrouillen und der Polizei zu Kompetenzstreitigkeiten kam, nahm die Koalitionsregie-rung für die Polizei Partei. Das verbitterte die Anarchisten. (...) Am 5. März 1937 entwendete ein kommunistischer Stoß-trupp unter Vorweisung gefälschter Papiere zehn Panzerwagen aus einem von Anarchisten verwalteten Depot. Der Vorfall löste eine Regierungskrise aus. Am 27. April erschossen kommunistische Soldaten den anarchistischen Bürgermeister der Grenzstadt Puigcerda, Antonio Martin, und drei seiner Mitarbeiter. Einige Tage später versuchte die Polizei in Barcelona einige Kontrollpatrouillen zu entwaffnen. Am 3. Mai fuhren Soldaten auf drei Lastwagen vor der von den Gewerkschaften verwalteten Telefonzentrale von Barcelona vor, um sie zu besetzen. Als sie in den ersten Stock kamen, wurden sie von den bewaffneten Wache der oberen Stockwerke aufgehalten. Die Nachricht von diesem Überfall löste bei den Arbeitern eine vehemente Reaktion aus. Die Arbeit in den Industriebetrieben wurde spontan niedergelegt, die Ge-schäfte wurden geschlossen, auf den Straßen errichtete man Barrikaden. Acht Zehntel der Stadt Barcelona befanden sich in den Händen der Arbeiter. Im Stadtinnern verbarrikadierten sich die Regierungstruppen." (11) Einige anarchistische Gruppierungen wollten den Kampf gegen die StalinistInnen aufnehmen, doch sie wurden von der C.N.T.-Führung zurückgehalten.

Wenn heutige AnarchistInnen den untauglichen Versuch unternehmen die opportunistische Politik der CNT-Führung zu verteidigen, geraten sie in ein unerträgliches opportunistisches Geschwätz: "Die Gruppe "Freunde Durrutis" und die "Freiheitliche Jugend" waren bereit, zum Angriff überzugehen, um die Provokateure zur Verantwortung zu ziehen, doch die Vorstandsmitglieder der C.N.T: rieten davon ab. In Barcelona und auch im übrigen Katalonien hätten Anarchisten siegen können. Doch was dann? Ein anarchistisches Katalonien hätte von keiner Seite Waffenhilfe erwarten können, es wäre auch ausgehungert worden. Früher oder später wäre Katalonien der republikanischen Zentralregierung oder Franco in die Hände gefallen." (12)

Das ist die Sprache der Kapitulation! Mit einer solchen Denkhaltung läßt sich niemals irgendwo auf dieser Welt eine Revolution durchführen. Die soziale Revolution bettelt nicht um Waffenhilfe bei der Konterrevolution, sondern bewaffnet sich auf deren Kosten. Fakt ist, daß die opportunistische Politik der C.N.T.-Führung mit zum Sieg des Faschismus von 1939 beigetragen hatte.

Unser moralisierender Kleingeist fährt fort: "Die Anarchisten zogen, sich ihrer Verantwortung gegen Franco bewußt, nicht einen Mann von den Fronten ab. Der blutige Konflikt endete mit einem Kompromiß. Die Anarchisten, die am 19. Juli 1936 mit unglaublicher Bravour einen überlegenen Feind ge-schlagen hatten, zeigten sich in den Maitagen 1937 erstaunlich zurückhaltend. Sie zögerten, gegen antifaschistische Ver-bündete zu kämpfen. Ihre Gegner aber hatten keine Skrupel, antifaschistische Genossen zu ermorden." (13)

Ein Paradebeispiel wie bei nicht wenigen AnarchistInnen Moralausdünstungen die Klassenanalyse ersetzt! Die opportunistische Feigheit der AnarchobürokratInnen von der C.N.T. wird hier zu einem moralischen Sieg umgedeutet. Der Faschismus läßt/ließ sich nur wirkungsvoll bekämpfen, wenn mensch die bürgerliche Demokratie einschließlich der sie stützenden SozialdemokratInnen und StalinistInnen bekämpft. Wer jedoch diesen Kampf ausweicht und die bürgerlichen DemokratInnen einschließlich der ParteimarxistInnen als "antifaschistische Verbündete" verklärt, schwächt die Kampfkraft der ArbeiterInnenklasse und dient objektiv den demokratischen und faschistischen HandlangerInnen des Kapitals.

Der Trotzkismus kritisiert zwar den Gewerkschaftsfetischismus des Anarchosyndikalismus, aber natürlich im Namen eines anderen Fetisch -nämlich im Namen der revolutionären Partei. Trotzki schrieb: "Die Anarchisten besaßen in der spanischen Revolution keinerlei eigene Position. Sie taten nichts weiter, als zwischen Bolschewismus und Menschewismus hin und her zu schwanken. Genauer: die anarchistischen Arbeiter waren bestrebt, den bolschewistischen Weg zu gehen (19. Juli 1936, Maitage 1937), während die Führer umgekehrt mit aller Kraft die Massen ins Lager der Volksfront, d.h. des bürgerlichen Regimes zurücktrieben.

Die Anarchisten zeichneten sich durch fatales Unverständnis der Gesetze der Revolution und ihre Aufgaben aus, als sie versuchten, sich auf ihre Gewerkschaften, d.h. mit Routine durchtränkte Organisationen der Friedenszeit zu beschränken, und alles was jenseits der Gewerkschaftsgrenzen in den Massen, in den politischen Parteien und im Staatsapparat vor sich ging, ignorierten. Wären die Anarchisten Revolutionäre gewesen, so hätten sie vor allem zur Bildung von Sowjets aufgerufen, in denen sich Vertreter aller Werktätigen von Stadt und Land versammelten, darunter auch die unterdrücktesten Schichten, die niemals den Gewerkschaften angehörten. In diesen Sowjets hätten die revolutionären Arbeiter natürlich die dominierende Stellung innegehabt. Die Stalinisten wären eine winzige Minderheit gewesen. Das Proletariat wäre sich seiner unüberwindlichen Kraft bewußt geworden. Der bürgerliche Staatsapparat hätte in der Luft gehangen. Ein starker Hieb würde genügt haben, um diesen Apparat vollends zu zertrümmern." (14)

Der Parteimarxist Trotzki hatte bei seiner Analyse zwar in seiner Kritik am anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsfetischismus recht, aber er vermengte diese Kritik mit der Verklärung des Bolschewismus. Die anarchistischen ArbeiterInnen waren in der Tat bestrebt den revolutionären Weg ihrer Befreiung zu gehen, dieser ist aber unvereinbar mit dem Bolschewismus/Trotzkismus, da dieser in den Staatskapitalismus führt. Außerdem zeigte Trotzki hier wieder, daß er unfähig war, die Rolle der proletarischen Selbstorganisation in der sozialen Revolution zu verstehen. Es kam nicht deshalb nicht zur Bildung von ArbeiterInnenräten, weil keine politische Kraft dazu aufrief, sondern weil die Bewegung noch nicht so weit war, um diese Frage der revolutionären Selbstorganisation selbständig zu lösen. Hätte sich die revolutionäre Bewegung weiter ausgedehnt, hätte sie sich ihre eigene Organisation geschaffen -ganz ohne Partei- oder Gewerkschaftsfetischismus!

Spanien war kein Betriebsunfall des Anarchosyndikalismus. Die anarchosyndikalistische Bürokratie verriet nicht den Anarchosyndikalismus, sondern bewies, daß sich die bürgerliche Organisationsform der Gewerkschaft überlebt hat und reaktionär wird, wenn die ArbeiterInnenbewegung zur sozialen Revolution übergeht. Auch in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft C.N.T. standen sich bürgerliche BerufspolitikerInnen und proletarische Basis gegenüber, als Ausdruck der Klassenspaltung dieser Organisation. So ist zum Beispiel die schwedische Massengewerkschaft SAC durch und durch reformistisch. Selbstverständlich gibt es auch einen revolutionären Flügel des Anarchosyndikalismus, der den bürgerlich-reformistischen bekämpft, und unsere Kritik am rechten Flügel weitgehend teilt. Wir RätekommunistInnen sind bereit mit revolutionären AnarchosyndikalistInnen zusammenzuarbeiten, gleichzeitig werden wir unsere generelle gewerkschaftsfeindliche Haltung niemals einem Bündnis unterordnen, genauso wenig wie wir unsere parteifeindliche Haltung im Bündnis mit LinkskommunistInnen aufgeben werden. Mögen einige Leute, unsere Haltung als Sektierertum betrachten, für uns sind es Lehren des Klassenkampfes.

3. Anarchismus und Patriarchat

Anarchistische Männer neigten/neigen wie alle anderen auch zu patriarchalen Verhalten und Gedanken. So beschrieb ein französischer Anarchist die Arbeitsteilung in einer anarchistischen Kommune zu Beginn des 20. Jahrhunderts: "Jeder gemäß seinen Fähigkeiten und nach den Erfordernissen einer bestimmten notwendigen Arbeit, die aber jeder Andere, wenn es sein muß, ebensogut verrichten kann. Die Gefährtinnen kümmern sich um das Essen und um die Führung des Haushalts. Nur durch diese besondere Beschäftigung, unterscheiden sie sich von uns. Sie nehmen an den Diskussionen teil und waren uns allen anderen gleichgestellt." (15) Die Frauen waren also in jener anarchistischen Gemeinschaft gleichberechtigt -bis auf jene "Kleinigkeit", daß sie weiterhin allein die Hausarbeit verrichten mußten.

Ein weiteres Beispiel für sexistische Vorurteile auch bei Anarchisten ist ein Text der beliebten Band Ton Steine Scherben. So heißt es in der ersten Strophe des Liedes Feierabend : "Acht Stunden Arbeit sind vorbei! Es sieht ganz so aus, als wärst du frei! Kannst dich vollaufen lassen, kannst ins Kino gehn. Und du kannst dein Geld im Puff ausgeben..."(16) Die männliche Arbeitskraft reproduziert sich in der Klassengesellschaft auch durch die Ausbeutung der Frau, sowohl durch deren unentgeltliche Inanspruchnahme ihrer Arbeitskraft im privaten Haushalt als auch als Sexualobjekt. Die Prostitution ist der höchste Grad der Entfremdung des Menschen zur Ware. Daß die Benutzung des weiblichen Körpers zu Reproduzierung des Mannes, der acht Stunden lang lang in der Produktion nicht Mensch sondern unpersönliche Ware Arbeitskraft ist, auch den Mann nicht wirklich befreit, ist klar. Freier und Hure sind in der Prostitution Gefangene der Warenproduktion, wobei es für die Frau tausendfach erniedrigender ist... Daß die Anarcho-Band Ton Steine Scherben den traurigen Akt der Prostitution unhinterfragt feiert, ist kein Einzelfall unter linken Männern -sowohl bei anarchistischen, parteimarxistischen, rätekommunistischen... Das Patriarchat ist auch im Spätkapitalismus noch so allgegenwärtig, daß es das Sein und Bewußtsein aller Männer mehr oder weniger vergiftet.

Nur die Aufhebung der Warenproduktion und der Lohnarbeit kann die proletarische Frau befreien. Die Antisexismus-Diskussionen der kleinbürgerlichen Feministinnen sind oft moralisierend und überschreiten nicht selten die Grenze zu einem weiblichen Sexismus hin. Der kleinbürgerliche Feminismus ist unfähig, die proletarische Frau aus kapitalistischer Ausbeutung und patriarchalen Verhältnissen zu befreien. Allerdings darf sich die Arbeiterin auch nicht auf die vorwiegend männliche Bürokratie der ArbeiterInnenbewegung verlassen -dann ist sie nämlich verlassen.

Die spanischen anarchistischen Arbeiterfrauen der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts haben das verstanden. So entstanden die Mujeres Libres, in der mehr als 30.000 Frauen -zumeist ArbeiterInnen -organisiert waren. Diese anarchistische Frauenorganisation wurde von der offiziellen -männlich dominierten -anarchistischen Bewegung nie richtig anerkannt. Die Trotzkistin/ Man-delistin Jcqueline Heinen schrib über die Mujeres Libres und ihr Verhältnis zu den männlichen Anarchisten: "Zunächst einmal wollen wir klarstellen, daß "Mujeres Libres" niemals als offizielle Organisation der anarchistischen Bewegung anerkannt worden ist, obwohl sich diese sehr darum bemühten. Es bleibt die Frage, warum eine solche Organisation innerhalb der anarchistischen Bewegung entstanden ist.

Ihre zahlenmäßige Stärke und ihr Einfluß auf die Arbeiterklasse der am stärksten industrialisierten Gebiete -vor allem Katalonien -genügen nicht um den glänzenden Aufstieg dieser feministischen Bewegung zu erklären, die ihre organisatorische Selbständigkeit forderte und sich für eine Reihe von Fragen, die heute noch aktuell sind, geschlagen hat. Dabei muß man sich in Erinnerung rufen, welche traditionellen Forderungen hin-sichtlich der Familie, der Ehe und der freien Liebe von den Anarchisten vertreten wurden.

Die Tatsache, daß diese Positionen meist Theorie oder Erklärungen auf dem Papier blieben, war sicher kein geringer Faktor bei der Radikalisierung von aktiven anarchistischen Frauen, und daß sie sich der Notwendigkeit bewußt wurden, zu kämpfen, damit ihre besonderen Interessen zur Kenntnis genommen wurden. Die anarchistische Bewegung hatte in un-mittelbarer Nachfolge der Utopisten des 19. Jahrhunderts in der Tat ihr Mißtrauen gegen die bürgerliche Institution der Ehe öffentlich bekundet. (...) Was (...) in Frage gestellt wird, ist, (...), weniger die dauerhafte Verbindung zweier Menschen als vielmehr der autoritäre Charakter der bürgerlichen Familie, deren Mitglieder durch das Geld miteinander ver-bunden sind. Aus den meisten Texten läßt sich der Gedanke herauslesen, daß die Familie künftig den Kindern ein antihierarchisches und kooperatives Verhalten einprägen wird. Die Vorstellung der freien Liebe stimmt voll mit den anarchistischen Grundsätzen bezüglich eines Maximums an individueller Freiheit überein. Was sie nicht sehen, ist dies, daß sich weder für die Frau noch für die Kinder etwas ändert, solange die Frau nicht selbst über ihren Körper verfügen kann und keine Kindergrippen vorhanden sind.. (...) Den Frauen blieb nur, festzustellen: alles Theorie! Ob legal verheiratet oder nicht, ihre wirtschaftliche und moralische Abhängigkeit blieb bestehen." (17)

Die Anarchistin Lucia Sanchez Soarnil brachte die sexistischen Vorurteile eines großen Teils ihrer männlichen Gesinnungsgenossen zur Sprache: "Es genügt nicht zu sagen: Wir müssen bei den Frauen Propaganda machen und sie in unsere Kreise einbeziehen; vielmehr müssen wir das Problem weiter fassen, viel weiter. Die meisten Kollegen, mit Ausnahme eines Dutzend gut unterrichteter, haben eine von der charakteristischen bürgerlichen Irreführung beeinflußte Mentalität. Während sie im Protest gegen das Eigentum aufschreien, sind sie selbst die besessensten Eigentümer." (18)

Diese und andere Erfahrungen waren es, die Soarnil zu der nicht unbegründeten Einsicht brachten: "Ich komme zu der Auffassung, daß wir Frauen nach der sozialen Revolution "unsere eigene Revolution" machen müssen. Es gibt eine Menge Tatsachen, die mich veranlassen darüber nachzudenken..."(19)

(1) Erich Mühsam, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?, Verlag Klaus Suhl Berlin, S. 10.

(2) Erich Mühsam, a.a.O., S. 62.

(3) Erich Mühsam, a.a.O., S. 63.

(4) Christine Lehnert, Anarchismus -Ausweg oder Irrweg? in Voran Nr. 220, Dezember 2000/Januar 200, S. 7.

(5) Erich Mühsam, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat., a.a.O., S. 28-30.

(6) Erich Mühsam, a.a.O., S. 13/14.

(7) Erich Mühsam, a.a.O., S. 14.

(8) Erich Mühsam, a.a.O., S. 18.

(9) Erich Mühsam, a.a.O., S. 80/81.

(10) Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, a.a.O., S. 295.

(11) Bakiru, Die anarchistische Revolution in Spanien, Zündstoff-Sonderausgabe, S. 7/8.

(12) Bakiru, Die anarchistische Revolution in Spanien, Zündstoff-Sonderausgabe, S. 8.

(13) Bakiru, Die anarchistische Revolution in Spanien, Zündstoff-Sonderausgabe, S. 9.

(14) Leo Trotzki, Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39,a.a.O., S. 302/303.

(15) Andre Mounier, Die libertäre Kolonne von Aiglemont, S. 24.

(16) Ton Steine Scherben, Feierabend auf Keine Macht für Niemand, 1972 David Volksmund KG

(17) Anik Mahaim, Alix Holt, Jacqueline Heinen, Frauen und Arbeiterbewegung , a.a.O. S. 170-172.

(18) Mujeres libres, Barcelona 1976

(19) zitiert nach Anik Mahaim, Alix Holt, Jacqueline Heinen, Frauen und Arbeiterbewegung , a.a.O., S. 203.

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