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Bolschewismus und Rätedemokratie

Mensch kann die politische Form und den sozialen Inhalt einer Erscheinung nicht trennen. Die bürgerliche Partei reproduziert die kapitalistische Klassengesellschaft in der politischen Form der Partei durch BerufspolitikerInnen auf der einen Seite und der mehr oder weniger entmündigten lohnabhängigen Parteibasis. Indem die ArbeiterInnenbewegung die politische Form der Partei übernahm, übernahm sie die politische Form der Klassenherrschaft und reproduzierte in einem längeren oder kürzeren Prozeß den sozialen Inhalt, das heißt sie verbürgerlichte und wurde zu einer Stütze der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Bei der Sozialdemokratie verlief diese Entwicklung bis 1914 eher schleichend und langsam, aber dadurch nur unaufhaltsamer. Der Leninismus war unfähig diesen entscheidenden Grund (selbstverständlich nicht der alleinige!) der Verbürgerlichung der Sozialdemokratie zu reflektieren. "KommunistInnen" a la Lenin waren regelrechte Theologen der Parteireligion. Für sie war die Partei alles, die selbständige Aktion der Massen nur Mittel zum Zweck der Parteidiktatur. Der Trotzkismus ist auch in dieser Frage aufgewärmter Leninismus, der linke Flügel des Parteimarxismus. Die bürgerliche Demokratie ist im Unterschied zur stalinistischen Parteidiktatur eine Parteiendiktatur. Ob eine Partei die ArbeiterInnenklasse entmündigt oder mehrere -das ist für den politischen Inhalt der Parteienherrschaft als Entmündigung der ArbeiterInnenklasse belanglos.

Da jede Partei von ihrer Form her bürgerlich ist, war es auch die bolschewistische von Anfang an: Der Beginn ihrer Verbürgerlichung war ihre Entstehung. Die bürgerlich-bürokratischen Tendenzen waren aber schon im frühen Bolschewismus kräftig ausgeprägt. So schrieb Lenin 1903: "Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches (revolutionäres, Anmerkung des Autors) Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches (gewerkschaftliches, Anmerkung des Autors) Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u. a. m. Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien , die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klasse, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden." (Lenin, Was tun, Berlin (Ost), 1972, S. 62.)

Diese Ansicht Lenins hatte nichts mehr mit dem historischen Materialismus zu tun sondern war ein Hinabgleiten in den Idealismus. Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Der Marxismus entsprang dem revolutionären Klassenkampf des Proletariats und nicht andersherum, wie Lenin es darstellte. Der moderne Marxismus wurde sehr durch die Pariser Kommune geprägt, die revolutionär war und aus dem spontanen Klassenkampf hervorging. Wer die Fähigkeit der ArbeiterInnenklasse leugnet, von selbst zu einem revolutionärem Sein und Bewußtsein zu gelangen, lehnt den marxistischen Grundsatz, daß die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur ihr eigenes Werk sein kann, ab. Und wer das tut, hört objektiv auf, ein proletarischer Revolutionär zu sein, egal ob er sich nun subjektiv dafür hält oder nicht.

In der Tat war Lenin selbst in seinen besten Zeiten kaum mehr als ein kleinbürgerlicher Radikaler, der angesichts der proletarischen Revolution, verkörpert im Kronstädter Aufstand, zum großbürokratischen Konterrevolutionär wurde. Wir wollen Lenin gegenüber das praktizieren, was LeninistInnen stets gegenüber den Links/RätekommunistInnen unterlassen -historische Gerechtigkeit. Sein Eintreten für den Internationalismus während des ersten Weltkrieges war beispielhaft und besitzt auch heute noch eine große moralische Kraft. Auch die Machtübernahme der bolschewistischen Parteibürokratie war ein Akt großer Radikalität gegenüber der Weltbourgeoisie -die russische war nur schwach. Darin unterschieden sich die Bolschewiki vorteilhaft von den Menschewiki. Wenn wir Lenin einen "kleinbürgerlichen Radikalen" nennen, dann ist das eine materialistische Einschätzung und keine Beschimpfung. Wir sind keine StalinistInnen, die marxistische Begriffe zu Folterwerkzeugen ihrer moralischen Inquisition machen!

Die Auffassung Lenins vom Parteiaufbau war von Anfang an ultrabürokratisch, und seine Ansichten von Parteidisziplin erzbürgerlich, indem er diese mit der von der Bourgeoisie erzwungenen Fabrikdisziplin auf eine Stufe stellte! Rosa Luxemburg trat Lenin schon 1904 entgegen: "Nicht durch die Anknüpfung an die ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin -mit der bloßen Übertragung des Taktstockes aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemokratischen Zentralkomitees, sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen Diszipingeistes kann der Proletarier erst für die neue Disziplin -die freiwillige Selbstdisziplin gewonnen werden." (zitiert nach Heinz Abosch, Trotzki und der Bolschewismus, Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M -Berlin -Wien 1984, S. 39/40.)Auch der junge Trotzki äußerte sich ähnlich: "Ebenso aber, wie es unbegründet wäre, den Sozialismus mit dem Kapitalismus gleichzusetzen, würde es sinnlos sein, die Fabrik-Disziplin des Proletariats mit revolutionär-politischer Disziplin zu identifizieren." (Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reibeck 1970, S. 96.)

Während Lenin erst behauptete, daß es die Aufgabe der Intelligenz wäre, sozialistisches Bewußtsein in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen, stellte er später die Fabrikdisziplin des Proletariers positiv den "Edelanarchismus" der Intelligenz gegenüber. Er unterschied nun "zwischen der Mentalität des unbeständigen Intellektuellen und den standhaften Proletariers, zwischen dem intellektuellen Individualismus und der proletarischen Geschlossenheit". (Lenin, Ausgewählte Werke I , Stuttgart 1952, S. 404. ) Schonungslos machte Trotzki auf die inneren Widersprüche in Lenins Theorien aufmerksam: "Das Proletariat, dasselbe Proletariat, von dem man gestern noch erzählt hat, es werde "spontan zum Trade-Unismus gezogen" , ist schon heute dazu aufgerufen, Lektionen in politischer Disziplin zu geben. Und wem? Der gleichen Intelligenz, der im gestrigen Schema die Rolle zufiel, das klassenmäßige, das politische Bewußtsein des Proletariats von außen her in das Proletariat hineinzutragen! Gestern noch kroch das Proletariat im Staub, heute schon ist es in unerwartete Höhe gehoben! Gestern noch war die Intelligenz Trägerin des politischen Bewußtseins, heute werden sie auf die Spießruten der Fabrikdisziplin herabgerufen!" (Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reibeck 1970, S. 96) Trotzki sagte voraus, daß "die Parteiorganisation die Partei selbst, das ZK die Parteiorganisation und schließlich ein Diktator das ZK ersetzt." (Leo Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, Reibeck 1970, S. 73.) Was für eine genaue Voraussage der zukünftigen Regierungspolitik des Bolschewismus -Trotzkis eigene spätere Praxis, die schließlich zu Stalin führte!

In der Frage des Charakters der russischen Revolution vertraten die Bolschewiki bis zum April 1917 eine Position, die zwischen der menschewistischen und der Trotzkis lag. Lenin erkannte genau wie Trotzki lange vor der Februarrevolution, daß die russische Bourgeoisie nicht in der Lage war eine bürgerliche Revolution durchzuführen. Deshalb lehnte er ein Bündnis zwischen Kapital und Arbeit in der russischen Revolution ab. Lenin bekämpfte aber Trotzkis Ansicht, daß die russische Revolution zur Diktatur des Proletariats führen müsse. Seiner Ansicht nach müßten sich die ArbeiterInnen und Bauern auf eine "demokratische Diktatur" einigen. Diese Regierungsform sollte die Lösung der bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution in Angriff nehmen, aber nicht die sozialistische Revolution durchführen.

Lenin kam erst im April 1917 aus seinem Exil nach Rußland zurück. Bis zu Lenins Ankunft wurde die bolschewistische Partei von Stalin und Kamenew geführt. Die bolschewistische Partei stand zu dieser Zeit noch nicht in unversöhnlicher Opposition zu den Menschewiki und SozialrevolutionärInnen(die dank der Februarrevolution in der Regierung waren, aber wegen ihrem Bündnis mit Bourgeoisie und Grundbesitzern unfähig waren den imperialistischen Krieg zu beenden, eine Agrareform durchzuführen und in Widerspruch zur proletarischen Selbstorganisation der Sowjets gerieten, Anmerkung des Autors), sondern war das fünfte Rad am Wagen der kleinbürgerlichen Demokratie Es gab sogar die ersten Ansätze einer Verschmelzung zwischen Menschewiki und Bolschewiki zu einer Partei. Lenin bekämpfte nach seiner Ankunft in Rußland diese Tendenzen und rüstete "seine" Partei theoretisch um, damit sie zur Machtübernahme fähig war. Er hielt die Theorie der "demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern" für überholt, und orientierte die Partei auf die "Diktatur des Proletariats", die die bürgerliche Revolution zu Ende führen -und dann zu sozialistischen Zielen übergehen sollte. Die Eroberung der Macht durch die bolschewistische Partei sollte über den Umweg der Erzielung der Mehrheit in den Sowjets erfolgen. Die bolschewistische Parteiführung setzte der neuen Linie Lenins zuerst Widerstand entgegen, aber Lenin konnte sich schließlich noch im April durchsetzen.

Die LeninistInnen übernahmen also wichtige Kernaussagen aus Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Aber auch wenn sich Lenin der proletarischen Revolution in Rußland "theoretisch" annäherte -in der Praxis blieb er bürgerlicher Politiker. Denn daß was er als "Diktatur des Proletariats" bezeichnete, sollte sich als eine bürgerlich-bürokratische Parteidiktatur herausstellen. Und Leo Trotzki? Er kehrte im April 1917 aus seinem langen Exil nach Rußland zurück -und wurde im Juli Bolschewik und damit Verräter an seiner eigenen Theorie der permanenten Revolution. Aber im Jahre 1917 war der bürgerliche Charakter des Leninismus nur für wenige RevolutionärInnen erkennbar. Die bolschewistische Parteibürokratie konnte die Macht erobern, weil sie sich sowohl auf die Sehnsucht der Soldaten nach Frieden, den Landhunger der Bauern und auf den Kampf der ArbeiterInnenbewegung stützen konnte. Die Bolschewiki unterstützten bis zur Oktoberrevolution diese Bewegungen -allerdings nur taktisch und nicht prinzipiell, wie sich später noch herausstellen sollte. Sie traten für ein Ende des Krieges ein, forderten eine Agrarreform und - "Alle Macht den Sowjets!"

Es war taktisch klug von den Bolschewiki, daß sie die Kerenski-Regierung am gleichen Tag stürzten, an dem auch der Zweite Allrussische Sowjetkongreß tagte. So konnten sie sich ihre "proletarische Revolution" von den Sowjets nachträglich legitimieren lassen. Diese Legitimation hatte die leninistische Bürokratie damals noch nötig. War doch vor ihrer Machtübernahme "Alle Macht den Sowjets" eine ihrer Hauptlosungen. Die Zustimmung zur bolschewistischen Machtergreifung fiel knapp aus: 380 von 650 Stimmen. Aber auch die pathetische Schilderung des Oktober-Aufstandes durch Trotzki kann nicht verschleiern, daß es sich um einen militärischen Aufstand der Bolschewiki handelte, der später vom höchsten Gremium der Sowjets nachträglich gebilligt wurde -aber keine Revolution der Sowjets. An dieser Tatsache ändert auch der Fakt nichts, daß Trotzki der Vorsitzende des Petrograder Sowjets war. Diese Funktion benutzte er nur als Fassade, wie sein weiteres bürokratisches Verhalten den Sowjets gegenüber noch beweisen sollte.

Am 25. Oktober 1917 wurde der Rat der Volkskommissare, die neue Regierung gebildet, die aus einer Koalition von Bolschewiki und linken SozialrevolutionärInnen bestand. Trotzki wurde Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten. Einen Tag später erklärten bolschewistische Sprecher auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongreß: "Die Revolution hat gesiegt. Die gesamte Macht ist an unsere Sowjets übergegangen. In diesen Tagen werden neue Gesetze zur Lage der Arbeiterklasse erlassen werden. Eins der wichtigsten wird die Arbeiterkontrolle der Produktion und die Wiedereinführung normaler Zustände in der Industrie regeln." Was die Bolschewiki unter "Arbeiterkontrolle" verstanden, sollte sich später als Abwürgen der ArbeiterInnendemokratie erweisen. "Normale Zustände" der Ausbeutung schufen sie aber wirklich, die LeninistInnen. Kein Wunder, daß sie selbständige Aktionen der ArbeiterInnen ablehnten. Weiterhin erklärten die Bolschewiki: "Streiks und Massenaktionen schaden in Petersburg. Wir bitten euch, alle Streiks für ökonomische und politische Forderungen abzubrechen, die Arbeit wieder aufzunehmen und in disziplinierter Weise auszuführen (...) Jeder an seinem Platz. Die beste Art, die Sowjetregierung im Augenblick zu unterstützen, besteht darin, die Arbeit fortzusetzen." Merkwürdige proletarische Revolution!

Trotzki schrieb in der "Geschichte der russischen Revolution": "Daß die Sowjets -wir wollen es hier gleich sagen -nicht einfach eine Ausgeburt der historischen Verspätung Rußlands, sondern vielmehr ein Produkt der kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, daß das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären Aufstieges von 1918/19 keine andere Organisationsform gefunden hat, als die der Räte" Trotzki hatte hier völlig recht. Aber die russische ArbeiterInnenklasse war nur eine zahlenmäßig schwache Klasse, die nur Fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Deshalb konnte sie ihre Revolution nicht siegreich zu Ende führen. Denn die russische ArbeiterInnenklasse hatte nicht nur die Bourgeoisie zum Gegner, sondern auch den Parteimarxismus, der viel gefährlicher war, weil dieser seinen bürgerlichen Charakter hinter pseudorevolutionären Phrasen versteckte.

Der Menschewismus versuchte nach der Februarrevolution die Rätedemokratie mit der bürgerlichen Demokratie auszusöhnen. Doch das war unmöglich, denn entweder wird die Rätedemokratie zur politischen Organisation der sozialen Revolution, oder sie verfällt wieder. Zu diesem Bewußtsein kamen auch immer mehr russische ArbeiterInnen. Die Räte, besonders die Fabrikkomitees gerieten in immer schärferen Widerspruch zur Bourgeoisie und dem Menschewismus. Das konnte der Bolschewismus ausnutzen, der verlogenste und heimtückischste und damit gefährlichste Feind der proletarischen Selbstorganisation.

Über das Verhältnis von Bolschewiki und ArbeiterInnenbewegung schrieb Maurice Brinton in Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle : "Zu dieser Zeit setzten die Bolschewiki auf zwei Pferde, um sowohl in Gewerkschaften wie in Fabrikkomitees ihre Anhängerschaft zu vergrößern. Sie ließen sich das ein gewisses Maß an Doppelzüngigkeit kosten, um ihr Ziel zu erreichen. In Gewerkschaften, die stark unter menschewistischer Kontrolle standen, drangen die Bolschewiki auf Autonomie der Komitees. In Gewerkschaften, die sie schon unter ihrer eigenen Kontrolle hatten, waren sie in diesem Punkt sehr viel zurückhaltender. (...) Es ist wichtig zu wissen, daß vom Beginn der Revolution die Gewerkschaften straff von politischen Organisationen kontrolliert wurden, die sie zu Akklamationszwecken benutzten. Dies erklärt die Leichtigkeit, mit der später die Partei die Gewerkschaften manipulieren konnte." Dem Bolschewismus gelang es im Petrograder Sowjet zu erobern. Diese Vormachtstellung nutzte Trotzki für seinen bürokratischen Putsch gegen die bürgerliche Regierung. Der aus ihm hervorgehende "ArbeiterInnenstaat" drehte den Räten die Gurgel um.

Maurice Brinton schrieb: "Ein bestimmtes Modell von Produktionsverhältnissen ist der gemeinsame Nenner aller Klassengesellschaften. Dieses Modell ist eines, in dem der Produzent nicht die Produktionsmittel beherrscht, sondern im Gegenteil sowohl "von ihnen getrennt ist" als auch von den Produkten seiner Arbeit. In allen Klassengesellschaften ist der Produzent in einer Position der Unterordnung gegenüber denjenigen, die den Produktionsprozeß leiten. (...) Wir meinen außerdem, daß die Produktionsmittel die Besitzer wechseln können (indem sie z. B. von privater Hand in die einer Bürokratie, die sie kollektiv besitzt, übergehen können), ohne daß die Produktionsverhältnisse revolutioniert werden. Unter diesen Umständen -welches auch immer der formale Eigentumsstatus war -ist die Gesellschaft immer noch eine Klassengesellschaft, weil die Produktion immer noch von einer anderen Instanz als der der Produzenten selbst gemacht wird. In anderen Worten: Eigentumsverhältnisse spiegeln nicht unbedingt Produktionsverhältnisse wieder. Sie mögen diese maskieren -und haben das auch tatsächlich oft getan.

Soviel der Analyse wird meist akzeptiert. Was bis jetzt noch nicht versucht wurde, ist, die Geschichte der Russischen Revolution mit diesem begrifflichen Rahmen in Verbindung zu bringen. Wir können hier nur die groben Linien eines solchen Versuches anzudeuten. In diesem Licht gesehen, stellt die Russische Revolution einen mißglückten Versuch der Arbeiterklasse dar, aus den bewiesenermaßen immer stärker unterdrückenden Produktionsverhältnissen auszubrechen. Die massive Aufwallung erwies sich als stark genug, um die politische Herrschaft der Bourgeoisie zu zerstören (indem sie die ökonomische Basis zerschlug, auf die diese gegründet war: das Privateigentum an Produktionsmitteln). Sie veränderte das bestehende System der Eigentumsbedingungen. Aber sie erwies sich nicht stark genug (trotz heldenhafter Versuche in dieser Richtung), die autoritären Produktionsverhältnisse zu ändern, die alle Klassengesellschaften charakterisieren. Teile der Arbeiterklasse (die meist in der Fabrikkomitee-Bewegung aktiv waren) erreichten sicher, daß sie die Revolution in dieser Richtung beeinflussen konnten. Aber ihr Ansatz schlug fehl. Es ist wertvoll, die Gründe dieses Fehlschlages zu analysieren -und zu sehen, wie neue Herren die alten ersetzten" (Maurice Brinton, Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle, a.a.O., S. 15/16. )

Die bürgerliche Revolution konnte sich nur feindlich gegenüber der proletarischen Selbstorganisation verhalten und die leninistische Parteibürokratie war als bürgerliche Kraft auch nichts anderes als die Totengräberin der ArbeiterInnendemokratie. Der klarste Ausdruck proletarischer Demokratie waren die ArbeiterInnenräte, die Sowjets. Die Geburt der Parteidiktatur konnte nur die Beerdigung der Sowjets sein. Die leninistische Parteiführung ging auch gleich nach ihrem Sieg daran, die Sowjets mit bürokratischen Knüppeln zu bearbeiten. Die Losung "Alle Macht den Sowjets", die den Bolschewiki half, die Macht zu erringen, war pure Heuchelei. Bei der Rechtfertigung der bolschewistischen Reaktion gegen die ArbeiterInnenräte muß oft der BürgerInnenkrieg von 1918-1920 herhalten. Nach dem Motto: Im Krieg kann es keine Demokratie geben. Doch dieses Argument hält der Kritik nicht stand. Denn die bürokratische Konterrevolution der LeninistInnen begann vor dem BürgerInnenkrieg. Bereits im November 1917 wurden die ersten Sowjets per Dekret von den Bolschewiki aufgelöst (so zum Beispiel am 9. November 1917 die Sowjets im Volkskommissariat des Post- und Telegrafendienstes).

Vor der Oktoberrevolution unterstützten die Bolschewiki die Fabrikkomitees gegen die Bourgeoisie und die Menschewiki. Die leninistische Parteibürokratie verdankte ihre Machteroberung im Oktober 1917 auch der revolutionären Fabrikkomiteebewegung. Diese Bewegung verkörperten von allen ArbeiterInnenorganisationen die proletarische Demokratie am unmittelbarsten. Deshalb war sie auch das erste Opfer der Parteidiktatur. Die Fabrikkomitees wurden von den LeninistInnen -von vorn gaben sie sich als GenossInnen aus -schleichend von hinten erdrosselt. Sie begannen damit, daß sie die Bewegung den Gewerkschaften unterordnete. Am 5. Dezember 1917 veröffentlichte die Regierung den Erlaß zur Bildung eines Obersten Volkswirtschaftsrates (Wesenka). Dieser sollte einen Plan für die Wirtschaft und die Regierungsfinanzen ausarbeiten. Dieser Wesenka wurde der Regierung angeschlossen, und war so zusammengesetzt: einige Mitglieder des gesamtrussischen Arbeiterkontrollrates, starke Vertretung der RegierungsbürokratInnen und von oben eingesetzte ExpertInnen.

Maurice Brinton: "Anfangs hatten die linken Bolschewiki die Führung innerhalb des Wesenka. Der erste Vorsitzende war Osinski und im leitenden Büro saßen Bucharin, Larin, Sokolnikow, Miljutin, Lomow und Schmidt. Trotz seiner linken Führung schluckte die neue Institution den Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrat, bevor er überhaupt zusammentreten konnte. Dieser Schritt wurde von den Bolschewiki öffentlich als Stabilisierung der wirtschaftlichen Macht begründet. Dies schwächte wiederum die Fabrikkomitees. Wie Lenin später sagte: "Wir gingen von der Arbeiterkontrolle zur Bildung eines Obersten Volkswirtschaftsrates über." Dieser Rat sollte eindeutig die Arbeiterkontrolle ersetzen und aufheben.

Hier setzt ein Prozeß ein, der im folgenden dargestellt werden soll. Ein Prozeß, der innerhalb der kurzen Zeitspanne von vier Jahren von der ungeheuren Bewegung der Fabrikkomitees (eine Bewegung, die die Produktionsverhältnisse grundlegend ändern wollte), zur unantastbaren Dominanz einer bürokratischen und monolithischen Instanz (der Partei) über sämtliche wirtschaftlichen Aspekte führte. Da diese Instanz nicht in der Produktionsphäre verwurzelt war, konnte ihre Herrschaft die Begrenztheit der Autorität der Arbeiter innerhalb der Produktion nur fortsetzen. Verlängerung hierarchischer Strukturen innerhalb der Produktion war die notwendige Folge und somit die Verlängerung des Klassenstaates.

Im ersten Stadium dieses Prozesses wurden die Fabrikkomitees einem Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrat unterstellt, in dem die Gewerkschaften, die selbst unter starken bolschewistischen Einfluß standen, stark vertreten waren. Das zweite Stadium -daß dem ersten beinahe auf den Füßen folgte -war die Eingliederung des Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrates in den Wesenka, der noch auffälliger zugunsten der Gewerkschaften zusammengesetzt war, aber auch direkte Vertreter des Staates (d. h. der Partei) enthielt. Dem Wesenka wurde eine linke kommunistische Führung übergangsweise erlaubt.

Etwas später wurden diese "Linken" zurückgepfiffen. Eine lang anhaltende Kampagne wurde eingesetzt, um die Macht der Gewerkschaften einzuschränken, die, wie indirekt auch immer, doch noch von der Arbeiterklasse beeinflußbar waren. Es war besonders wichtig, den Draht der Gewerkschaften zur Produktion abzuschneiden -und ihn in die Hände von Parteivertretern übergehen zu lassen. Diese Manager und Verwalter, die fast ausschließlich von oben eingesetzt waren, wurden zu Basis einer neuen Bürokratie. Jedem dieser Schritte wurde Widerstand entgegengesetzt, aber ohne Erfolg. Immer erschien der Gegner im Gewand der neuen proletarischen Macht. Und nach jeder Niederlage wurde es für die Arbeiter noch schwieriger, die Produktion direkt zu bestimmen, d. h. die Produktionsverhältnisse zu ändern. Bis diese Produktionsverhältnisse geändert waren, konnte die Revolution nicht behaupten, ihre sozialistischen Ziele erreicht zu haben, ungeachtet der Propaganda ihrer Führer. Dies ist die wirkliche Lektion der Russischen Revolution." (Maurice Brinton, Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle, a.a.O., S. 52/53.)

Die russischen Anarcho-SyndikalistInnen haben in der russischen Revolution eine progressive Rolle gespielt -im Gegensatz zur CND-Führung im spanischen BürgerInnenkrieg. Sie verteidigten die Interessen des Proletariats gegen die bolschewistischen Parteibonzen auf dem Ersten Gesamtrussischen Gewerkschaftskongreß vom 7. -14. Januar 1918 in Petersburg die Fabrikkomitees. Die LeninistInnen wollten diese Organe der proletarischen Selbstorganisation der Gewerkschaftsbürokratie unterordnen. Der damalige Anarchosyndikalist Wladimir Schatow bezeichnete die Gewerkschaften als "wandelnde Leichen" und rief die Arbeiter auf "sich lokal zu organisieren und ein freies neues Rußland zu schaffen, ohne Gott, ohne Zar und ohne Gewerkschaftsboß." Als der bolschewistische Gewerkschaftsfunktionär Rjasanow die Angriffe Schatows zurückwies, verteidigte Maximow seinen Genossen: die Gegenargumente des Bolschewiki seien die eines gepflegten Intellektuellen, der nie geschuftet und deshalb auch keine Ahnung habe, wie das Leben eines Arbeiters aussehe. Der Anarchosyndikalist Laptew sagte zu der Versammlung, "daß nicht nur die Intellektuellen, sondern die Massen die Revolution gemacht hätten, weshalb Rußland auf die Stimme der Massen hören müsse, auf die Stimme von unten." (siehe hierzu: P. Avrich, The Russian Anarchists, Princeton, 1967, S. 168/69.)

Brinton schrieb: "Die anarcho-syndikalistische Resolution, die wirkliche Arbeiterkontrolle, nicht staatliche Arbeiterkontrolle forderte und betonte, daß "die Organisierung von Produktion, Transport und Distribution sofort in die Hände der arbeitenden Massen und nicht in die des Staates oder eines Beamtenapparates gelegt werden müssen" -diese Resolution wurde überstimmt. Die Stärke der Anarcho-Syndikalisten lag in der Unterstützung durch die Grubenarbeiter des Don-Beckens, der Zementarbeiter von Jekaderinodar und Nowosibirsk und der Moskauer Eisenbahnarbeiter."(Maurice Brinton, Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle, a.a.O., S. 65/66.) Die Anarcho-SyndikalistInnen "kämpften einen verzweifelten Kampf, um die Autonomie der Räte zu erhalten (...) Maximow erklärte, daß er und seine Anhänger bessere Marxisten als Menschewiki und Bolschewiki seien -eine Behauptung, die im Saal große Bewegung hervorrief."(P. Avrich, The Russian Anarchists, a.a.O., S. 168)

Weil die AnarchistInnen und AnarchosyndikalistInnen die Grundsätze der ArbeiterInnendemokratie gegen die Willkürherrschaft der leninistischen Parteibürokratie verteidigten, bekamen sie auch bald deren Repression in aller Härte zu spüren. Bereits in der Nacht vom 11. April zum 12. April 1918 ging die Tscheka in Moskau blutig gegen 26 Versammlungsorte der AnarchistInnen vor. Vergeblich appelierten sie an die bolschewistischen Staats-terroristInnen: "Füsiliert nicht Menschen, die waffenlos verhaftet wurden." Es wurden 40 AnarchistInnen getötet und über 500 inhaftiert. Die AnarchistInnen waren in ihrer Mehrzahl keine bürgerlichen FeindInnen der Rätedemokratie -im Gegenteil! Sie waren zum Großteil glühende VerfechterInnen der Sowjetdemokratie. Im Mai 1918 werden die führenden anarchistischen Zeitungen (Burewestnik, Anarchia, Golos Truda ...) aufgelöst.

Violine schrieb: "Die Bolschewisten (...) wollten die Anarchisten nicht einmal anhören, noch weniger sie ihre Thesen vor den Massen erläutern lassen. Da sie sich im Besitz einer absoluten, unbezweifelbaren, "wissenschaftlichen" Wahrheit wähnten und behaupteten, sie unbedingt aufzwingen und durchführen zu müssen, bekämpften und eliminierten sie die libertäre Bewegung, sobald sie die Massen zu interessieren begann: das übliche Verfahren aller Herrscher, Ausbeuter und Inquisitoren." (zitiert in Justus W. Wittkop, Unter der schwarzen Fahne. Aktionen und Gestalten des Anarchismus, 1996, Karin Kramer Verlag, S. 213.)

Trotzki wußte natürlich besser als die AnarchistInnen, wie er und seine GenossInnen sie behandelte. Er schrieb noch im Jahre 1937: "In der heroischen Epoche der Revolution marschierten die Bolschewiki mit den wirklich revolutionären Anarchisten Arm in Arm. Der Verfasser dieser Zeilen erörterte häufig mit Lenin die Frage, ob es nicht möglich sei, den Anarchisten gewisse Gebietsteile zu überlassen, damit sie im Einverständnis mit der betreffenden Bevölkerung mit ihrer Staatslosigkeit die Probe aufs Exempel machen. Doch die Bedingungen des Bürgerkrieges, der Blockade und des Hungers ließen keinen Raum für derartige Pläne"(Leo Trotzki, Bolschewismus und Stalinismus, herausgegeben von der trotzkistischen Sekte "Arbeitermacht", November 1990, S. 6.) Nichts als zynische Lüge. Die anarchistische Machno-Bewegung, die in der Ukraine erfolgreich gegen die bürgerlich-monarchistische Konterrevolution kämpfte, und die mehr von Selbstorganisation hielt als die Bolschewiki wurde von diesen mit Betrug und Gewalt vernichtet. Der Kronstädter Aufstand war der letzte verzweifelte Widerstand des russischen Proletariats gegen die bürokratischen Usurpatoren der Rätedemokratie. Dieser wurde übrigens nicht von Anarcho-SyndikalistInnen organisiert, sondern entstand spontan im Klassenkampf zwischen ArbeiterInnenklasse und leninistischer Parteibürokratie. Nelke

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