Verrat - Teil 4
by Tia



11. Wer ist Judy?

Am liebsten hätte er die Augen wieder geschlossen und wäre wieder eingeschlafen. Doch das Kopfweh ging nicht weg und je mehr er sich bemühte, wieder einzuschlafen, desto stärker wurde es, desto mehr klopfte ein Hammer gegen seine Schläfen, also gab er es auf.
Er sah sich vorsichtig um. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Das kleine Zimmer mit den grauen Wänden, in dem er sich befand, war nur mit wenigen Möbeln ausgestattet, wie mit einem Bett und einem Tisch mit zwei Stühlen, dazu noch eine kleine Kommode, die schon ziemlich alt und kaputt war. Die stumpfe Glühlampe, die von der Decke baumelte, flackerte leicht.
Er richtete sich langsam auf, ignorierte dabei das Stechen in seinem Kopf und ging zur Tür. Sie war aus Metall, ohne ein Fenster. Er rüttelte am Griff, aber sie war verschlossen. Er seufzte leise, aber eigentlich hätte er es sich denken können. Normalerweise war ein Gefängnis immer abschlossen.
Schritte hallten von draussen zu ihm durch und er trat von der Tür zurück. Gleich darauf wurde sie aufgestossen und mehrere Männer mit massgeschneiderten Anzügen traten ein. Sie waren alle von ziemlich breiter Statur und Alex musste nicht fragen um zu wissen, dass unter ihren Armen eine Waffe hing, die jederzeit gezogen werden konnte.
Hinter ihnen kam ein Mann herein, der schon ein wenig älter war und den Alex noch nie gesehen hatte.
„Mein Name ist Commander Paton. Miss Dexter hat mich beauftragt, Sie sicher nach Hause zu bringen“, stellte sich dieser Mann vor.
Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. „Entschuldigen Sie bitte, habe ich Sie richtig verstanden, Commander Paton? Judy Dexter hat Sie beauftragt, um mich nach Hause zu bringen?“
Scott Paton nickte. „Das ist richtig“, antwortete er.
Alex spürte noch immer den Schmerz in den Schläfen und war jetzt nicht mehr sicher, ob er nur von dem Schlag kam, den der Mann ihm verpasst hatte. Er setzte sich auf einen der Stühle. „Könnten Sie mir das vielleicht einmal erklären?“ fragte er.
Paton schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, das darf ich nicht.“
Alex hob wieder die Brauen. Er durfte es nicht erklären? Jetzt kapierte er überhaupt nichts mehr. „Warum nicht?“
Paton blieb still. Eine Antwort auf diese Frage wäre vermutlich auch eine auf die, die er vorher gestellt hatte.
„Von welcher Organisation sind Sie, Commander? Militär? CIA? FBI? Polizei?“ fragte er.
Paton fing plötzlich an zu grinsen. „Dexter hat mich vor Ihren Fragen gewarnt, Mr. Garcia, und ich höre normalerweise auf ihre Ratschläge.“
Alex nickte. „Sie kennen Miss Dexter also schon längere Zeit?“
Paton grinste noch einmal und schickte die Wachen mit einer Handbewegung hinaus.
„Warum haben Sie Wachen überhaupt mit hinein gebracht, wenn ich, wie Sie behaupten, frei sein soll?“
Paton sah in Richtung Tür und sagte: „Ich habe nicht gesagt, dass Sie frei sind.“
Alex nickte. Das Mundwerk von Paton war auch nicht schlecht. „Da haben Sie recht. Aber Sie haben gesagt, Sie bringen mich nach Hause. Wollen Sie mich dort etwa einsperren? In meinem eigenen Haus?“
Paton schüttelte den Kopf. „Nein, Mr. Garcia, das will ich nicht. Sie sind auch nicht unser Gefangener, aber wir können es auch nicht riskieren, dass Sie hier frei herumlaufen. Sie sind als Spion ziemlich gut bekannt.“
Alex hatte keine Ahnung, wovon dieser Mann eigentlich sprach. Er sollte frei sein, aber gleichzeitig war er eingesperrt. Er war kein Gefangener, aber trotzdem durfte er sich nicht frei bewegen. Offenbar war er an einem Ort, den er nicht sehen durfte, und der irgendwie in Verbindung mit Judy Dexter stand.
„Okay, ich akzeptiere, dass Sie mir nicht alles sagen können. Aber Judy Dexter ist bei der LOTFA. Und deren Chef will mich umbringen lassen. Warum befreit sie mich dann? Sie gerät dabei ebenfalls in die Schusslinie.“
Paton nickte. „Das ist wahr. Aber ich kann Ihnen keine Antwort auf Ihre Fragen geben. In etwa einer halben Stunde sind wir für Ihren Transport bereit. Ich hoffen, Sie empfinden es hier nicht allzu sehr als Beleidigung gegen das, was Sie von der LOTFA gewohnt sind, aber wir sind hier ziemlich schlecht eingerichtet. Wir sind uns nicht gewohnt, Gäste zu haben. Doch man wird Ihnen gleich etwas zu essen bringen. Sie sehen aus, als hätten Sie Hunger.“
Alex neigte dankend den Kopf. Allein der Gedanke, dass er nun nicht mehr unter Feinden war, führte dazu, dass er sich hier fast wie zu Hause fühlte.
Paton ging wieder zur Tür.
„Warten Sie noch einen Augenblick!“ rief Alex plötzlich und sprang auf. „Was ist mit Jessica?“
Paton sah ihn fragend an. „Jessica?“ Scheinbar wusste er nicht, wer Jessica war.
„Meine Tochter. Sie ist noch immer bei der LOTFA.“
Paton zuckte mit den Schultern. „Judy hat sie bei der Übergabe mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht will sie ... Nein, tut mir leid, ich weiss nicht, was mit ihr ist.“
Alex musterte ihn einen Augenblick aufmerksam, bevor er nickte. „Wenn Judy sie nicht auch hierher bringen kann, werde ich sie holen gehen. Dann war ihre Rettungsaktion umsonst gewesen. Ich hole sie auf jeden Fall da raus. Sagen Sie ihr das, wenn Sie sie sehen.“
Paton hob erstaunt die Brauen. „Für einen, dem sie gerade das Leben gerettet hat, sind Sie verdammt undankbar.“
Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich denke nicht, dass Cooper einfach so die Karten hinschmeissen wird, wenn er noch ein Ass im Ärmel hat.“
Paton nickte. „Okay, ich werde es ihr sagen ... falls ich sie sehe.“
Er neigte erneut dankend den Kopf und Paton ging hinaus.
Alex dachte einen Moment daran zu untersuchen, wie er hier heraus kommen konnte, aber er liess den Gedanken schnell wieder verschwinden. Paton machte einen guten Eindruck bei ihm. Er hatte nicht das Gefühl, dass er ihn anlog. Ausserdem würde er wahrscheinlich sowieso nicht weit kommen. Vor der Tür mussten Wachen stehen, die dafür sorgten, dass er nicht spionierte.
Eine dieser Wachen kam herein und brachte ein Tablett mit einer Mahlzeit mit. „Hier, Sir, Ihr Essen.“ Alex dankte dem Mann, während er ihn aufmerksam musterte. Er ging gleich darauf wieder hinaus.
Die Tür verschloss er nicht. Er rechnete nicht damit, dass Alex einen Fluchtversuch wagen würde, obwohl man ja eigentlich gar nicht von Flucht sprechen konnte. Schliesslich war er nicht in Gefahr und er war kein Gefangener.
Alex kaute langsam an seinem Essen, während er sich genauer im Zimmer umsah. Es hatte keine Fenster. Der einzige Ein - und Ausgang war die Tür. Von den Wänden bröckelte der Anstrich und zeigte einige Kratzspuren auf. Er musste grinsen, als er daran dachte, dass ein Gefangener vielleicht versucht hatte, durch die Wand zu fliehen.
Er sah zur Tür zurück. Was war, wenn Judy ihm nicht helfen, sondern nur selbst ein bisschen verdienen wollte? Wenn sie selbst Cooper erpressen wollte? Sie konnte Paton angestellt haben, um die Verhandlungen um Alex zu leiten, aber in Wirklichkeit sackte sie alles ein, nur wusste Cooper nichts davon. Er würde dann immer noch das Gefühl haben, als wäre Judy seine treue Untertanin, und ihre Position in seiner Gruppe wäre nicht gefährdet. Sie würde dann zwei Jobs in einem machen.
Sein Blick glitt zur Türfalle. Langsam erhob er sich und näherte sich der Tür. Er strich über die Klinke. Wie viele Wachen standen da draussen? Könnte er entkommen? Er versuchte, sein gebrochenes Handgelenk zu bewegen, aber das war schier unmöglich. Mit einer Hand müsste er also gegen vielleicht fünf oder noch mehr Männer bestehen können. Doch das war auch für ihn unmöglich.
Er umfasste die Klinke. Ein Teil in ihm sträubte sich gegen das, was er vorhatte zu tun, aber ein anderer Teil sagte ihm, dass er Paton nicht trauen konnte. Schliesslich wollte er ihm nicht sagen, wo er hier war, aus irgendeinem Grund, den er ihm auch nicht sagen wollte. Er wollte ihm überhaupt nichts sagen. Also warum sollte er ihm vertrauen?
Einen kurzen Moment lang zögerte er, bevor er langsam die Klinke hinunter drückte. Ein kurzes Klicken ertönte, dann war die Tür offen. Er verharrte in seiner Position und lauschte. Zwei Stimmen drangen zu ihm durch. Sie schrien einander an und plötzlich fiel ein Schuss. Dann erklang Musik und eine Frauenstimme erzählte irgend etwas. Ein Fernseher! Alex musste lächeln. Ein Soldat sollte auf ihn aufpassen und sah statt dessen fern. Das war ja wunderbar.
Er öffnete die Türe ein weiteres kleines Stückchen und sah durch den Spalt. Die Wache sass mit dem Rücken zu ihm und konzentrierte sich voll und ganz auf das Bild. Alex machte die Tür weiter auf und hoffte, dass sie nicht auf einmal anfing zu quietschen. Sie quietschte nicht. Er schlüpfte hinaus und schlich hinter der Wache durch eine zweite Tür.
Er blieb kurz stehen und orientierte sich. Jetzt stand er in einem langem Flur, von dem viele Türen abgrenzten. Die Richtungen, aus denen er wählen konnten, waren rechts und links. Es wunderte ihn, dass keine anderen Wachen hier waren, wenn es doch so viele Geheimnisse gab, aber er war nicht unglücklich darüber, ganz und gar nicht.
Er entschied sich für rechts und rannte leise immer nahe an den Wänden. Das Licht hier in den Gängen war ebenfalls nur so hell wie es in seinem ‚Zimmer‘ war. Es sah so aus, als wäre man in voller Gefechtsbereitschaft und warte nur noch darauf, dass der Feind endlich zuschlug. Er zwängte sich in eine Nische, als plötzlich ein Mann im Anzug um die Ecke kam. Wäre dieser nicht so in seine Akten vertieft gewesen, die er trotz dem schlechten Licht zu lesen versuchte, hätte er Alex entdeckt. Er ging aber, ohne etwas bemerkt zu haben, weiter. Vermutlich hätte er nicht einmal einen Elefanten bemerkt.
Alex sah vorsichtig den Gang hinauf und hinunter. Es war niemand zu sehen. Er rannte weiter zu einer Kreuzung von zwei Gängen und suchte nach Wegweisern, aber scheinbar schienen alle, die hier arbeiteten, den Weg zu kennen. So entschied er sich auf gut Glück für eine Richtung und rannte weiter.
Warum waren hier keine Wachen, keine Menschen, die arbeiteten? Niemand war ihm bis jetzt entgegengekommen ausser diesem einen Mann, und er hörte auch nirgends Stimmen oder sonstige Geräusche gehört. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war, daher konnte er nicht mehr sagen, ob es jetzt Nacht war oder nicht. Logischerweise nahm er an, dass es so war, denn am Tag wäre hier sonst sicher mehr Betrieb gewesen.
Langsam schlich er weiter, trotzdem alle Sinne vollkommen gespannt. Viele der Türen, die an die unendlich langen Gänge grenzten, waren mit Namenstäfelchen angeschrieben, manchmal noch mit einem Dienstrang darunter. Alex hatte langsam das Gefühl, in einem Armeelager gelandet zu sein. Vielleicht war Paton ein Armeekommandant, der aus der Armee geworfen worden war und der jetzt diese Station für sich beschlagnahmt hatte und sie nicht der Regierung zurückgeben wollte.
Der Gang endete vor einer Türe, die grösser war als all die anderen. Und es stand der interessanteste Name darauf, den er bis jetzt gelesen hatte: ‚CIA - Hauptquartier‘.
In diesem Moment erklang die Alarmsirene. Die Wache hatte endlich gemerkt, dass er entkommen war. Es wunderte Alex, dass die Sirene nicht schon viel früher aktiviert wurde.
Trotzdem nahm er die Schritte, die nun plötzlich überall umher tappten, nur noch von weitem wahr. Was ihn viel mehr interessierte, war, was das CIA mit Judy Dexter zu tun hatte.
Er öffnete die Tür mit einem Ruck. Das helle Licht in diesem Raum blendete ihn für einen Moment.
„Nehmt ihn sofort fest, Männer!“ erklang nach einem kurzen, erschrockenen Zögern der Befehl von Paton.
Alex war voll ins Herz der Station eingedrungen. Viele kleine Lämpchen blinkten an den Stationen des riesigen Raumes. Er hatte keine Ahnung, für was das alles genau diente, aber es war ziemlich beeindruckend. Paton stand in der Mitte dieses Reiches und starrte ihn wütend, teilweise aber auch erstaunt an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass er hierher kommen würde.
Starke Arme griffen nach Alex.
„Sie sind vom CIA, Commander Paton?“ fragte Alex, ungerührt von den Handschellen, die ihm angelegt wurden.
Patons Gesichtsausdruck war verschlossen, doch glaubte Alex, einen kleinen Hauch von Bewunderung zuerkennen. „Ich bin der stellvertretender Präsident des CIA, Mr. Garcia.“
Alex hob fasziniert die Brauen. Nicht schlecht, der Vize des CIA hatte etwas mit einer illegalen Organisation zu tun. Das würde tolle Schlagzeilen geben, wenn es bekannt wurde.
„Und was hat Judy Dexter mit Ihnen zu tun?“
Paton warf ihm einem scharfen Blick, der alles und gleichzeitig nichts hiess, entschied sich dann aber dafür, die Wahrheit zu sagen. „Judy arbeitet seit fünf Jahren als Undercover-Agentin für die LOTFA. Wir versuchen mit ihrer Hilfe alle Verbindungsmänner Coopers aufzuspüren und zu verhaften.“
Fassungslos starrte Alex Paton an. Er hätte wirklich nicht gedacht, dass Judy Dexter vom CIA war. Sie verhielt sich überhaupt nicht wie diejenigen vom CIA, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Die meisten waren im Anzug gekleidet und kannten nur die Theorie. Doch sie kannte auch die Praxis und wusste mit diesem Wissen umzugehen. Das hatte er am eigenen Körper erfahren müssen.
„Sie macht ihre Sache wirklich gut. Ich wäre nie darauf gekommen, dass sie vom CIA ist“, brachte er nach einigen Schrecksekunden heraus.
Paton nahm das Kompliment ruhig entgegen und winkte die Männer beiseite. „Da Sie jetzt schon einmal hier sind, können Sie auch gleich hier bleiben, bis der Chef wiederkommt. Aber rühren Sie nichts an.“
Alex machte ein unschuldiges Gesicht. „Wie könnte ich das mit den Handschellen?“ meinte er und spielte damit auf eine ganz bestimmte Tatsachen an.
Paton verdrehte die Augen und befahl einem der Männer, ihm die Handschellen wieder abzunehmen. Alex lächelte befriedigt und sah sich um. Die Technik des CIA war immer auf dem neusten Stand. Es würde interessant sein zu sehen, was nun der neuste Stand genau war. Auch wenn er an ziemlich viele neue Sachen herankam; an diese Techniken, die der CIA einsetzte, kam er so gut wie nie 'ran, ausser in Situationen wie dieser, die eigentlich noch weniger vorkam als nie.
Er setzte sich auf den Stuhl, den Paton ihm zeigte, und wartete. Die Männer und Frauen, die hier beschäftigt waren, kümmerten sich nicht weiter um ihn. Einige der jüngeren, die noch ganz neu beim CIA sein mussten, warfen ihm ab und zu einen heimlichen Blick zu, der zu einem gewissen Grad Neugier war, aber auch um sich zu versichern, dass er wirklich nicht noch einmal abhaute.
Er ignorierte diese Blicke. Sie waren ihm egal. Vor fünf Minuten war das noch anders gewesen, aber jetzt hatte er keine Angst mehr, sofern man das vorher hatte Angst nennen können. Der CIA stand unter dem direkten Befehl des Präsidenten der Vereinigten Staaten und er war ein Bürger dieser Staaten. Sie durften ihm nichts tun. Und scheinbar wollten sie das auch gar nicht. Denn wenn Judy wirklich CIA-Agentin war, dann hatte sie ihn befreit, damit er nicht sterben musste. Er verdankte ihr sein Leben.
Die Tür hinter ihm ging auf und ein Mann kam herein. Er trug einen Anzug wie alle anderen, aber er strahlte Autorität aus, die man fast sehen konnte. Alle nickten ihm höflich zu und er nickte lächelnd zurück. Er ging geradewegs auf Paton zu, der ihm die Hand schüttelte.
„Scott, ich hoffe, Sie hatten keine Schwierigkeiten, solange ich weg war.“
Paton schüttelte den Kopf. „Nein, Sir, abgesehen von einem Gast, der ein wenig zu aufdringlich war.“
Der Mann hob die Brauen. „Ein Gast, von dem ich nichts weiss, Scott?“
Paton neigte den Blick. Er war von der Aura der Autorität vollkommen eingenommen. „Judy hat ihn vor etwa drei Stunden gebracht, Sir. Sie hätten ihn sonst umgebracht. Ich wusste nicht, wo ich Sie erreichen konnte, also habe ich ihn eingesperrt.“
Der Mann, der anscheinend der Präsident des CIA war, nickte. Alex beobachtete das Geschehen neugierig. Vor einer Minute war ihm Paton noch wie ein Mann vorgekommen, den man nicht einschüchtern konnte, aber nun musste er feststellen, dass er vor seinem Chef das Knie beugen würde.
„Was für Probleme hatten Sie denn mit ihm?“
Paton antwortete: „Er entkam aus seinem Quartier. Die Tür wurde durch ein Versehen nicht mehr abgeschlossen.“
Die eigentlich freundlichen Augen des Mannes wurden nun wachsam. „Wo ist er jetzt?“ fragte er aufgeschreckt.
Paton nickte in Alex‘ Richtung. „Er ist bis hierher gekommen, Sir. Er weiss, wer wir sind und ... wer Judy ist.“
Der Mann sah Alex aus seinen scharfen Augen an. Alex fühlte sich bedroht ebenfalls einen grösseren Respekt für den Mann zu empfinden, als es eigentlich nötig war. Er stand auf und nahm höflich die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde.
„Mein Name ist Captain Brian Green. Wer sind Sie?“ stellte sich der Mann vor.
Alex antwortete: „Alex Garcia.“
Green hob erstaunt eine Braue. „Alex Garcia?“
Er nickte ungerührt. Dass sein Name auch in den höchsten Stationen des CIA bekannt war, wusste er. Es war unumgänglich, dass sie nicht schon von ihm gehört hatten.
„Wissen Sie eigentlich, von wie vielen Leuten Sie schon angezeigt wurden?“
Alex sah ihn an, als wolle er sagen ‚Sie werden es mir sicher gleich sagen‘. „Warum verhaften Sie mich dann nicht?“ fragte er ruhig. Er wusste, dass das schon längst geschehen wäre, wenn sie es gewollt hätten.
Green lächelte nur. „Das wissen Sie so gut wie ich. Die Leute, die Sie angezeigt haben, sind genauso undurchsichtig wie Sie selbst.“
„Gelten die Anzeigen von undurchsichtigen Leuten nicht?“ fragte Alex weiter.
Green ging auf sein Spielchen ein. „Wir wissen, was Sie tun und was die anderen tun. Wir wissen, in welchen Verbindungen Sie zu einander stehen. Aber wir können Sie nicht verhaften, wenn Sie sich gegenseitig austricksen wollen. Sie schaden nur sich selbst, allen anderen nicht. Ein weiteres Problem ist, dass wir keine Beweise haben, die wirklich etwas aussagen.“
Alex hob bedauernd lächelnd die Schultern. „Das tut mir aber leid“, sagte er und wechselte plötzlich das Thema. „Commander Paton meinte, ich werde nach Hause gebracht. Aber was ist mit meiner Tochter?“
Green zuckte mit den Brauen. Das war ein Thema, das er nicht vor seiner ganzen Mannschaft diskutieren wollte, also zeigte er auf eine Tür, die in sein Büro führte. Alex öffnete sie, ging hinein und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, während Green den hinter ihm nahm.
„Offiziell sind Sie und Samantha Bishop noch immer glücklich verheiratet, so -“
Alex starrte ihn. „Was haben Sie gesagt?“
Green starrte erschrocken zurück und fragte sich, ob er etwas Falsches gesagt hatte. „Sie wissen nicht, dass Ihre Frau ...?“
Alex unterbrach ihn. „Doch, das weiss ich; jetzt. Aber ich habe es erst vor Kurzem erfahren. Wie lange wissen Sie es schon?“
Green schluckte. Es überraschte ihn, dass ein Mann nicht wusste, wer seine eigene Frau war. „Seit zum ersten Mal eine Anzeige von einem Mafioso gegen Sie aufgegeben wurde. Wir haben Sie überprüft, und dabei kam das heraus.“
Alex schüttelte den Kopf erschöpft. „Alle wissen, wer Sam ist, nur ihr eigener Mann, der weiss es nicht!“
Green musterte ihn kurz. „Es tut mir leid für Sie, Mr. Garcia, ehrlich, aber um darüber zu trauern ist es jetzt zu spät. Sie können die Zeit nicht zurückdrehen.“
Alex nickte nur, und Green fuhr fort. „Also, Sie sind ja eigentlich immer noch verheiratet, also haben Sie beide das Sorgerecht für Jessica. Sie kann also genauso gut bei Ihrer Frau bleiben wie bei Ihnen. Darum können Sie keine Ansprüche darauf erheben, dass Jessica zu Ihnen kommen muss. Sie kann genauso gut bei Ihrer Frau bleiben. Der Staat weiss nicht, dass Nora Garcia und Sam Bishop ein und dieselbe Person ist.“
Alex‘ Gesicht verhärtete sich. „Es ist mir vollkommen egal, was ich darf und was nicht, Sir. Jessica ist die Tochter von Nora und mir, nicht von Sam und mir. Sam hat keine Rechte als Mutter.“
Green legte den Kopf leicht schräg. „Das wird ein Gericht anders sehen. Wenn Sie Jessica da raus holen wollen, gilt das als Entführung, auch wenn es Ihre Tochter ist.“
Alex brachte seine Wut unter Kontrolle. Green konnte auch nichts dafür, dass die Gesetze so waren, wie sie waren. Ausserdem musste er einen klaren Kopf behalten. „Okay, es wird eine illegale Aktion“, gab er zu, „aber glauben Sie, Sam würde mich anzeigen? Sie hat selber ganz viel Dreck am Stecken, und wenn sie wirklich das Sorgerecht haben will, dann werde ich dafür sorgen, dass man ihr Leben vollkommen aufdeckt, bis zum kleinsten Staubstück.“
Green lächelte leicht. „Ihr Leben ist nicht besser, Alex“, versuchte er es auf die väterliche Tour, „Sie erledigen ihren Job genauso, wie Sam den ihren macht, nämlich illegal. Sie machen das, wofür Sie am meisten Geld bekommen und wozu Sie gerade Lust haben.“
Alex sprang auf und schnaubte. „Hören Sie, es ist mir egal, ob es illegal ist oder nicht. Es wäre, wie Sie sagen, nicht das erste Mal, dass ich etwas Illegales machen würde. Wenn Sie mich also nach Hause bringen wollen, dann tun Sie es, aber lassen Sie mich danach in Ruhe. Sie können mich ja verhaften, wenn ich dabei erwischt werde, wie ich meine eigene Tochter entführe!“
Green blieb ganz ruhig in seinem Sessel sitzen und lehnte sich zurück. „Judy ist eine unserer besten Agentinnen. Wenn sie sagt, dass wir Sie nach Hause bringen sollen, dann hat das einen Grund. Und wenn sie Ihre Tochter nicht auch mitbringt, dann hat das auch einen Grund.“
Alex sah ihn scharf an. „Das ist mir so verdammt egal“, flüsterte er und drehte sich zur Tür um.
„Alex!“ rief Green. Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. „Ich kann und darf als CIA-Direktor nicht zulassen, dass Sie eine Straftat begehen. Wenn ich von einem solchen Fall weiss, muss ich Sie in Schutzhaft nehmen; in Schutz vor sich selbst.“
Alex drehte sich nun doch noch um und hob die Brauen. „Sie wollen mich in Schutzhaft nehmen?“
Green nickte. Alex sah, dass Green es eigentlich nur gut meinte, aber es war hier schliesslich nicht irgendein Mensch, von dem sie hier sprachen; es war seine Tochter! Und sie war in Gefahr.
„Dann versuchen Sie’s!“
Er öffnete die Tür und rannte, bevor Green richtig reagieren konnte, schon durch die grosse Eingangstür des grossen Raumes hinaus.
„Nehmt ihn fest! Schliesst die Eingangstüren! Niemand geht mehr ohne meine Erlaubnis hinaus!“ konnte er gerade noch Greens donnernde Stimme hinter sich hören, als die Tür wieder ins Schloss fiel.
Mehrere Männer setzten ihm nach, aber er hängte sie mit einem Sprint ab. Er hatte keine Ahnung, wovon er die Kraft dafür nahm, aber er schaffte es. Die Alarmglocken fingen erneut an zu heulen. Er sputete weiter und hoffte, die richtige Richtung zu nehmen. Wenn sie ihn gefangen nahmen, würden sie ihn einsperren und ihn für die Dinge bestrafen, von denen sie vorher hatten absehen wollen.
Er stiess alle, die sich ihm in den Weg stellen wollten, einfach zur Seite und rannte weiter, einfach gerade aus.
Endlich kam er in eine Art Halle, eine Garage, in der mehrere Wagen standen, die zur Abfahrt bereit waren. Also hatte er den richtigen Weg erwischt. Doch es war keine gute Idee mit einem Auto zu fliehen. Er käme nicht durch das Tor, das Green verriegeln liess.
Er rannte zu einer kleineren Tür, die für Fussgänger nach draussen führte. Dort stolperte er in einen grossen Park, von dem man immer nur gerade die Stücke sah, die von den Scheinwerfern, die sich hin und her bewegten, beleuchtet wurden.
Etwa hundert Meter vor ihm war eine grosse Mauer, auf der nun überaus wachsame Wachen patrouillierten. Sie alle trugen Maschinengewehre. Er sah sich um. Wenn er über diese Wiese rannte, wurde er früher oder später einmal von einem der Scheinwerfer beleuchtet werden. Aber er hatte keine andere Wahl. Es schien sonst keinen anderen Weg hinaus zu geben.
Er konzentrierte sich auf die Lichter und begann zu rennen. Ohne die Lichtstrahlen konnten die Wachen ihn nicht sehen. Aber sobald er von einem getroffen wurde, entdecken ihn so gut wie auf der Stelle, vor allem jetzt, wo alle in Alarmbereitschaft waren.
Er sprang zur Seite, als ein Strahl knapp an ihm vorbeifuhr.
Schwer atmend blieb er liegen und wartete auf ein ‚Da unten ist er!‘. Doch sie hatten ihn nicht gesehen. Er sprang wieder auf, rannte weiter und prallte gegen die Mauer. Er drückte sich an sie und lauschte. Die Schritte über ihm gingen hin und her. Er schob sich nach rechts, aber das änderte nichts an den Schritten. Jetzt waren es einfach die einer anderen Wache. Er tastete der Wand entlang nach einem Halt und zog sich daran hoch. Die Wachposten schienen nicht zu glauben, dass er direkt in ihre Mitte kommen würde. Ein Vorteil für ihn!
Vorsichtig hob er einen Arm und zog an dem Bein, das direkt über ihm war. Die Wache stiess einen erstaunten Schrei aus, als sie von der Mauer fiel. Die anderen packten sofort ihre Waffen fester, aber Alex sprang schon auf der anderen Seite zu Boden und rannte fort.
„Schwärmt sofort aus, Männer! Er darf nicht entkommen!“ schrie eine laute Stimme.
Er hörte, wie sich mehrere Wachen zu Boden fallen liessen und ihn verfolgten. Sie schossen mit ihren Gewehren, doch sie wollten ihn nicht treffen; zu seinem Glück. Ausserdem sahen sie ihn nicht, also konnten sie ihn auch nicht verfolgen. Er rannte in den Wald und versteckte sich in einer Grube, die von Bäumen und Sträuchern gut abgedeckt waren. Die Männer hasteten laut einander zurufend, dass er hier nicht war, vorbei. Er hielt seinen Atem an und bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle, bis alle vorbei waren.
Erst als die Schritte verklangen, kletterte er wieder aus der Grube hinaus und rannte zum Haupteingang, den er vorher gesehen hatte.
Im Wachhaus sass jemand in seinem Sessel und starrte in den Fernseher. Scheinbar waren hier alle süchtig nach Fernsehern. Er öffnete die Tür des Autos, das dort stand und dem Wachmann gehören musste, und wollte den Motor anlassen, aber er hatte keinen Schlüssel. Aber er brauchte ihn, denn wenn er es mit einem Schnellstart versuchte, würde er die Wache bestimmt alarmieren, bevor er den Motor anhatte.
Leise stieg er wieder aus und ging zum Wachhaus. Langsam öffnete er die Tür und trat hinter den Mann, der ihn nicht bemerkte. Heftig schlug er ihm in den Nacken, worauf dieser sofort und ohne einen Ton ohnmächtig zusammenbrach. Er durchsuchte ihn nach den Schlüsseln und fand sie. Schnell rannte er zum Auto zurück und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
 
 

12. Gesellschaft

Das Flugzeug flog so ruhig in der Luft, dass man fast denken konnte, es stehe noch immer auf dem Boden. Es war Nacht, doch wenn es in Miami ankam, würde es Morgen sein. Die meisten Passagiere waren müde, denn sie hatten seit Stunden darauf gewartet, dass das Flugzeug endlich abflog. Es hatte irgendein Problem gegeben, das die Maschinisten nicht beheben konnten. Als sie endlich auf die Idee gekommen waren, eine andere Maschine startklar zu machen, waren schon fünf Stunden vergangen.
Nun sassen alle schlapp in ihren Sesseln und warteten nur noch darauf, dass endlich das Licht gelöscht wurde, um sich noch ein bisschen Schlaf zu gönnen.
Alex sass in der sechsten Reihe des Business-Class - Abteils und sah aus dem Fenster, obwohl man nichts sah als ein paar blinkende Lichter. Diese Verspätung hatte seinen Plan ruiniert, doch er würde sich einen neuen einfallen lassen. Wenn es sein musste, setzte er auch voll auf Risiko.
Neben ihm sass eine Frau, die während dem Starten fast über seine Hosen erbrochen hatte. Aus ihrer komplizierten Frisur hingen blonde Strähnen heraus. Sie sah ein wenig zerzaust aus. Die Frau noch war noch ziemlich jung, etwa fünfundzwanzig, schätzte Alex, vielleicht ein bisschen älter. Sie trug weite, blaue Jeans und ein schwarzes, enges Oberteil. Ihre Jacke lag über ihren Knien, bis sie auf die Idee kam, dass sie sie ja in das Gepäckfach legen konnte.
Alex musterte sie solange, bis sie den Kopf wandte. Darauf sah er wieder aus dem Fenster und tat so, als hätte er die ganze Zeit nichts anderes gemacht.
„Haben Sie Feuer?“ fragte sie plötzlich. Ihre Stimme klang hell und freundlich, so, als ob sie gerne reden würde.
„Das ist ein Nichtraucherflug“, wies Alex sie höflich darauf hin.
Sie lachte gekünstelt verlegen. „Oh, tut mir leid“, meinte sie und stellte sich nach einer Sekunde vor: „Ich bin Nina Alaimo.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Er lächelte leicht. „Mark Westwood“, und nahm ihre Hand in seine.
„Fliegen Sie zum ersten Mal nach Miami?“ fragte sie sofort weiter.
„Ja“, antwortete er. In seinem Kopf stellte er schon eine Geschichte zusammen, die er Nina erzählen konnte, ohne die Wahrheit zu sagen.
„Was machen Sie dort? Wurden Sie von einer Firma geschickt? Oder machen Sie Ferien dort?“
Er schüttelte den Kopf und meinte: „Ich besuche ... einen alten Freund von mir.“
Sie nickte. „Ich gehe von meiner Firma aus. Sie meinten, ich sei genau die Richtige für diesen Job. Sie müssen wissen, ich bin Reporterin, na ja, ich möchte Reporterin werden. Die Agentur hat mich geschickt, damit ich einen Mann interviewe, der Geheimagent oder so etwas ist. Ich weiss es auch nicht so genau. Ich habe keine Ahnung, wie er aussieht, ich weiss nur, dass ich ihn irgendwo in Miami Beach finden kann, auf den Sunset - Inseln. Sie sagten, ich werde schon herausfinden, wo er genau ist. Solche Sachen sollen sich schnell 'rumsprechen, meinten sie.“
Alex verbot sich, die Stirn zu runzeln. Warum wollte sie ausgerechnet zu den Sunset - Inseln? Genau dorthin, wo auch er hinwollte?
„Da haben Sie recht. Gerüchte von Geheimagenten und Gangstern sind das übliche Gesprächsthema in Restaurants und Bars unter den Einheimischen“, erzählte er.
„Wirklich? Das wusste ich nicht. Aber reden die Leute dort auch mit mir? Ich meine, die kennen mich doch nicht. Kann ich einfach an die Bar sitzen und die erzählen mir dann solche Sachen?“
Alex nickte. „Die meisten sind froh, wenn sie jemanden zum Reden haben.“
Nina lächelte dankbar. „Von wo wissen Sie das alles? Sie sagten doch, dass Sie noch nie in Miami waren.“
„Ich habe Freunde, die schon da waren“, antwortete er und das war wohl das einzige Wahre, was er erzählte.
„Aha, aber Sie wissen nicht zufälligerweise, wo sich der Mann aufhält? Sie sehen aus wie jemand, der über viel Informationen verfügt“, redete sie weiter.
„Vielleicht schon, vielleicht auch nicht. Was ist es für ein Mann?“ Es war ihm klar, dass er es nicht wusste, denn er wusste eigentlich nichts über Agenten, die in Miami ermittelten, aber konnte ja so tun, als wisse er es. Das lenkte sie davon ab, ihn nach seinem Leben auszufragen.
„Sein Name ist Alex Garcia. Er soll irgendwie ein Agent sein, der sich anheuern lässt oder so etwas. Irgendwie sucht er Rache bei einem Mann, der ihm seine Familie weggenommen hat oder so etwas. Ich habe noch keine genauen Informationen, müssen Sie wissen.“
Alex versuchte angestrengt, sich nichts anmerken zu lassen. Es war wirklich erstaunlich, wie einem das Schicksal manchmal mitspielte. Sie suchte jemanden, von dem sie nicht mehr gehört hatte als ein paar falsche Gerüchte, und sass dann neben ihm, allerdings ohne es zu wissen. Irgendwie tat sie ihm leid, denn sie würde wahrscheinlich nie herausfinden, dass er es gewesen war, aber er würde ihr nicht aus Mitleid sagen, dass er Alex Garcia war.
„Tut mir leid. Den Namen habe ich noch nie gehört“, behauptete er.
Sie seufzte. „Schade. Aber ich werde ihn bestimmt finden. Er soll nur noch auf Rache aus sein und alles andere vergessen haben. Vermutlich weiss er gar nicht, wie berühmt er unter uns Reportern ist, die alle eine Story wollen.“
Damit hatte sie allerdings recht. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Name der Presse bekannt war. Jemand von seinen früheren Arbeitgebern musste einmal für ein paar Tausend Dollar den Mund aufgemacht haben.
„Was denken Sie? Können Sie glauben, dass jemand so auf Rache versessen ist und dabei alles um sich herum vergisst?“
Das war eine dumme Frage, aber für einen Reporter eine durchaus gebräuchliche. Sie wollte alles wissen, auch die noch so kleinen Einzelheiten.
„Natürlich. Liebe wandelt sich schnell in Hass“, antwortete er so gefühllos wie es ging.
„Also ich bin mir nicht so sicher. Ich meine, ich sehe auch fern und sehe all die Filme, die davon handeln, aber das so etwas in Wirklichkeit passiert, scheint mir unmöglich. Warum sollte er seine Frau umbringen wollen, wenn sie ihn nicht mehr will? Dazu noch seine Tochter. Rache ist ja wirklich ein blöder Grund, völlig dumm. Es bringt ihm doch überhaupt nichts.“
Sie glaubte wirklich an das, was sie sagte. Doch es war nicht so. Rache war ein sehr guter Grund, um jemanden umzubringen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die meisten Morde geschahen aus Rache. Aber Nina war noch jung. Sie konnte noch lernen, was Liebe und Rache miteinander gemeinsam hatten, wenn ihre grosse Liebe sie verliess.
Das Licht löschte aus und sofort wurde es leiser im Flugzeug. Alex legte das Kissen unter seinen Kopf und lehnte sich gegen die Wand. Er wollte ein bisschen schlafen, um noch ein wenig Kraft zu sammeln, bis sie ankamen. Dass er völlig übermüdet ankam, konnte er nicht riskieren.
Nina wollte noch nicht schlafen, aber als sie sah, wie müde er war, redete sie nicht weiter. Sie schien aus gutem Haus zu kommen, was erstaunlich war für einen Reporter. Die wenigsten hatten so etwas wie eine gute Erziehung erhalten, und wenn doch, dann vergassen sie sie sofort, um den Idealen eines Reporters entsprechen zu können. Doch sie war auch müde, und so war sie eigentlich nur froh, dass Alex schlafen wollte. So konnte sie es ebenfalls tun. Kaum hatte sie sich ein wenig in ihrem breiten, bequemen Sessel gekuschelt, schlief sie auch schon ein.
Alex lächelte leicht. Sie war eine Schönheit, aber sie erinnerte ihn an Sam. In ihrem Alter hatte sie ebenfalls so ausgesehen, unschuldig und trotzdem risikofreudig, immer darauf bedacht, das Leben in vollen Zügen zu geniessen. Damals hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Er konnte sich noch gut an ihr erstes Rendezvous erinnern. Sie waren beide total befangen gewesen und hatten nicht gewusst, worüber sie reden sollten. Dann entdeckten sie ihre gemeinsame Vorliebe für das Theater und konnten darüber diskutieren. Das nächste Treffen war dann in der Vorführung eines Theaterstücks gewesen.
Sie hatten viel Spass miteinander gehabt, sowohl damals wie die Jahre, die danach folgten, doch jetzt, nur ein paar wenige Tage, nachdem jemand etwas Falsches gesagt hatte, war alles im Eimer und total zerbrochen. Sie würden nie mehr zusammen glücklich sein.
Heftig schob er den Gedanken von sich. Es hatte keinen Sinn, wenn er sich an vergangene Zeiten erinnerte und unglücklich war. Sie waren endgültig vorbei und kamen niemals wieder. Er sollte sich lieber auf die Zukunft konzentrieren. Er musste sich überlegen, wie er Jessica befreien konnte, ohne den Schutz der Dunkelheit.
 
 

 13. Vertrauen

Das Flugzeug landete auf dem International Airport of Miami in Florida. Nur wenige der Passagiere waren wach genug, um sofort aufzustehen und ihre Taschen aus den Ablagen zu holen, so dass Alex genug Platz hatte und verschwinden konnte. Seine kleine Tasche, die er wahrscheinlich sowieso nicht brauchte, hatte er mitgenommen, um als Tourist durchgehen zu können. Ein Mann ohne eine Tasche war einfach zu auffällig.
Nina schlief noch immer tief und fest. Während des Fluges war ihr Kopf auf seine Schulter gerutscht und er hatte sie nicht weggeschoben. Es war ein Gefühl, als könne er für jemanden sorgen, der ihm vertraut. Natürlich, das war pure Einbildung, dass Nina nach einem kurzen Wortwechsel ihm schon vollkommen vertraute, aber es beruhigte ihn irgendwie trotzdem. Er kam sich vor wie ein Vater, der seine Tochter im Schlaf beschützte. Eigentlich wollte er ja für Jessica ein richtiger Vater sein, aber die Gefühle eines Vaters zu zeigen, das musste er erst noch lernen.
Beim Aussteigen wünschten ihm die Stewardessen einen schönen Aufenthalt und lächelten ihm freundlich, aber müde zu. Sie waren erschöpft von der Reise, denn auch sie waren seit dem Abend auf und hatten darauf warten müssen, dass der Flieger endlich abflog, aber trotzdem schien ihr Lächeln immer noch echt zu sein. Man konnte jedoch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob das nicht einfach nur antrainiert war.
Alex lächelte freundlich zurück und stieg langsam die Treppe hinunter. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Er wandte sich ab und stieg in den Bus, der ihn und die anderen Passagiere zur Gepäckkontrolle brachte. Es war eng und stickig, aber im Moment war das nicht wichtig. Es gab anderes, was mehr Beachtung verdiente als der enge Bus.
Ohne Probleme kam er durch die Kontrolle und ging schnell durch die riesigen Hallen zum Ausgang des Flughafens. Aus einem der Abfallkörbe fischte er ein kleines Paket und steckte es in seine Tasche. Ein Freund von ihm hatte ihm die Waffe besorgt, damit er keine Sondererlaubnis für den Flug brauchte, die er wahrscheinlich nicht bekommen hätte.
Beim Hauptausgang stieg er in ein Taxi und gab dem Fahrer sein Ziel an. Dieser fuhr gemächlich los. Er hatte es nicht eilig - eigentlich hatte er es nie eilig - doch wenn sein Fahrgast wollte, dass er schneller fuhr, musste er sich halt melden.
Alex fragte sich, was er eigentlich bei Cooper wollte. Wie konnte oder wollte er Jessica befreien? Er konnte einfach versuchen einzubrechen und seine Tochter in diesem riesigen Gebäuden zu suchen, aber die Chance, dass so ein schwachsinniger Plan klappte, war etwa eins zu einer Million. Cooper rechnete sehr wahrscheinlich sowieso damit, dass er zurückkommen würde, um Jessica zu holen, und er würde bestimmt nicht zulassen, dass Alex einfach sein Druckmittel mitnahm. Er wusste, was er gegen Alex unternehmen konnte, und würde es auch tun.
Der Fahrer hielt wieder an. Alex bezahlte ihn und stellte sich in den Schatten des Hauses, das neben Coopers Hautquartier lag und als Wohnort für die LOTFA diente. An der Tür standen, wie vor so vielen Häusern auf den Sunset - Inseln von Miami., Wachen. Sie sahen ziemlich harmlos aus in ihren schwarzen, massgeschneiderten Anzügen, aber unter diesen Aufzügen verbargen sich stählerne Muskeln und noch stählerne Pistolen. Einfach durch die Vordertüre spazieren konnte er also nicht. Das hatte er auch gar nicht gewollt.
Er umrundete das Gebäude in einem weiten Kreis. Es war nur dreistöckig, kleiner als die meisten anderen Häuser hier, aber das liess immer noch genügend Spielraum offen für das Zimmer, in dem sich Jessica befinden konnte.
Ein Fenster fiel in sein Blickfeld, das man gut von unten erreichen konnte. Er sah sich genau um. Es waren keine Wachen zu sehen. Schnell steckte er seinen Revolver hinten in seine Hose hinein, liess seine Tasche hinter einem Busch zurück und zog einen Abfalleimer unter das Fenster. Vorsichtig kletterte er darauf und suchte Halt am Fensterbrett, an dem er sich hochzog.
Er musste das Fenster hoch schieben und stürzte dann mehr in das Zimmer, als dass er kletterte. Zum Glück war es ein ungebrauchtes Zimmer, sonst wäre er möglicherweise schon jetzt gefasst worden. Er rappelte sich auf und schlich zur Tür. Er presste sein Ohr dagegen und lauschte. Alles schien ruhig zu sein. Leise öffnete er sie und spähte in den Flur hinaus. Niemand war da. Möglicherweise hatte er Glück gehabt und er war in einen ruhigeren Teil des Gebäudes eingedrungen. Das würde ihm ermöglichen unbemerkt weiterzukommen. Mit geübten Fingern schraubte er den Schalldämpfer an die Waffe. Wenn er jemanden erschiessen musste, wollte er nicht, dass gleich das ganze Haus davon wusste.
Er rannte mit schnellen Schritten den Gang entlang, die Pistole bereit haltend, um im Notfall zu schiessen zu können.
Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Sofort drehte er sich und ging leise zur nächsten Ecke zurück, wo er seinen Verfolger abfangen konnte. Er hob die Pistole auf Kopfhöhe, um zu schiessen oder, wenn er genug Zeit dazu hatte, um dem Jemand einen Schlag zu verpassen. Wartend presste er die Lippen zusammen.
Die Schritte waren leise, auch jetzt, wo sie ganz nahe sein mussten und tönten nicht so, als wären sie von einem Mann. Tatsächlich kamen sie von einer Frau: es war Judy Dexter.
Eine Sekunde lang schien sie nicht recht zu wissen, ob sie ihren Augen glauben oder es für eine Einbildung halten sollte. Dann sah sie aber die Waffe, die direkt auf ihren Kopf gerichtet war und war überzeugt, dass er wirklich hier war. Sie vergass den Revolver wieder, sah sich schnell um, öffnete eine Tür und schob ihn fast grob hinein.
„Was machen Sie hier? Verdammt, Sie sollten doch nach Hause gehen!“ flüsterte sie drohend.
Alex lächelte leicht. Er wusste, sie war nicht sein Feind, sie wollte ihm helfen, auch wenn sie es auf eine ganz besondere Art tat, die er manchmal nicht ganz verstand. „Haben Sie das Buch ‚Nicht ohne meine Tochter‘ gelesen? Nein? Sollten Sie aber. Es ist wirklich klasse“, antwortete er leicht scherzend.
Judy war es überhaupt nicht nach Scherzen. „Wenn Cooper Sie hier findet, sind Sie so gut wie tot, ist Ihnen das eigentlich klar? Ich werde ihn nicht noch einmal überreden können, Sie gehen zu lassen. Er hat schon bei diesem ersten Mal viel riskiert.“
Alex nickte. Natürlich war ihm das alles klar, aber er konnte auch nicht riskieren, dass Cooper seine Meinung änderte und ihn zurückholen wollte, indem er Jessica benutzte.
„Wo ist meine Tochter?“ fragte er.
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Sie können sie nicht holen. Sam ist immer bei ihr und bewacht sie. Sie ist sich sicher, dass Sie zurückkommen werden, womit sie tatsächlich auch Recht hatte.“
Alex sah sie streng an. „Ich entscheide, was ich kann und was nicht, klar? Green sagte mir, Sie sind seine beste Agentin. Sie gehen mit Ihrem Job hier doch dauernd Risiken ein. Ist es ein zu grosses Risiko, mir zu sagen, wo Jessica ist? Ich werde Cooper nicht sagen, dass Sie es waren, wenn er mich erwischen sollte.“
Judy starrte ihn misstrauisch an. „Green hat Ihnen gesagt, wer ich bin?“ flüsterte sie beinahe ängstlich.
Alex schüttelte den Kopf. „Nein, niemand hat es gesagt. Ich habe es selbst herausgefunden. Ich musste nur ein bisschen kombinieren. Ich denke nicht, dass Green es mir gesagt hätte, da können Sie beruhigt sein.“
Sie musterte ihn immer noch misstrauisch. „Ich habe Paton gesagt, er soll Sie einsperren, nichts sagen und immer dafür sorgen, dass eine Wache vor der Zelle sitzt. Wie haben Sie es trotz all dem herausgefunden?“
Sie hatte für alles gesorgt, aber nicht daran gedacht, dass die Wache vielleicht nicht aufpassen würde. Doch das erwähnte er nicht und zuckte nur leicht entschuldigend lächelnd mit den Schultern. „Ich bin geflohen.“
Judy machte eine Ich-hätte-es-wissen-sollen-Geste.
„Bringen Sie mich jetzt zu Jessica?“ fragte er, aber sie verneinte.
„Ich werde Sie nicht zu ihr bringen, ich werde sie holen gehen. Aber Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle. Vermutlich wird Sam darauf bestehen, mitzukommen, also machen Sie sich darauf gefasst, dass sie auch hierher kommen wird. Wenn sie zu viele Probleme macht, müssen Sie sie ausschalten, verstanden?“
Alex nickte. Es war makaber, aber es würde ihm ein Vergnügen sein, Sam ein bisschen zu quälen, sei es auch nur körperlich, so wie sie es mit ihm getan hatte.
„Kann ich Ihnen vertrauen?“ fragte er, bevor sie hinausging.
Sie drehte sich noch einmal um und sah ihn an. Lächelnd meinte sie: „Ich gehöre zum CIA, ich bin eine von den Guten“, und ging hinaus.
Er hob die Brauen. Hiess das ja oder nein? Er ertappte sich dabei, dass er ihr vertraute, obwohl sie ihn gefoltert hatte.
Seufzend setzte er sich und wartete, denn das war im Moment das Einzige, was er tun konnte.
 
 

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