11. Wer ist Judy?
Am liebsten hätte er die
Augen wieder geschlossen und wäre wieder eingeschlafen. Doch das Kopfweh
ging nicht weg und je mehr er sich bemühte, wieder einzuschlafen,
desto stärker wurde es, desto mehr klopfte ein Hammer gegen seine
Schläfen, also gab er es auf.
Er sah sich vorsichtig um.
Er hatte keine Ahnung, wo er war. Das kleine Zimmer mit den grauen Wänden,
in dem er sich befand, war nur mit wenigen Möbeln ausgestattet, wie
mit einem Bett und einem Tisch mit zwei Stühlen, dazu noch eine kleine
Kommode, die schon ziemlich alt und kaputt war. Die stumpfe Glühlampe,
die von der Decke baumelte, flackerte leicht.
Er richtete sich langsam auf,
ignorierte dabei das Stechen in seinem Kopf und ging zur Tür. Sie
war aus Metall, ohne ein Fenster. Er rüttelte am Griff, aber sie war
verschlossen. Er seufzte leise, aber eigentlich hätte er es sich denken
können. Normalerweise war ein Gefängnis immer abschlossen.
Schritte hallten von draussen
zu ihm durch und er trat von der Tür zurück. Gleich darauf wurde
sie aufgestossen und mehrere Männer mit massgeschneiderten Anzügen
traten ein. Sie waren alle von ziemlich breiter Statur und Alex musste
nicht fragen um zu wissen, dass unter ihren Armen eine Waffe hing, die
jederzeit gezogen werden konnte.
Hinter ihnen kam ein Mann
herein, der schon ein wenig älter war und den Alex noch nie gesehen
hatte.
„Mein Name ist Commander Paton.
Miss Dexter hat mich beauftragt, Sie sicher nach Hause zu bringen“, stellte
sich dieser Mann vor.
Er konnte seine Überraschung
nicht verbergen. „Entschuldigen Sie bitte, habe ich Sie richtig verstanden,
Commander Paton? Judy Dexter hat Sie beauftragt, um mich nach Hause zu
bringen?“
Scott Paton nickte. „Das ist
richtig“, antwortete er.
Alex spürte noch immer
den Schmerz in den Schläfen und war jetzt nicht mehr sicher, ob er
nur von dem Schlag kam, den der Mann ihm verpasst hatte. Er setzte sich
auf einen der Stühle. „Könnten Sie mir das vielleicht einmal
erklären?“ fragte er.
Paton schüttelte den
Kopf. „Tut mir leid, das darf ich nicht.“
Alex hob wieder die Brauen.
Er durfte es nicht erklären? Jetzt kapierte er überhaupt nichts
mehr. „Warum nicht?“
Paton blieb still. Eine Antwort
auf diese Frage wäre vermutlich auch eine auf die, die er vorher gestellt
hatte.
„Von welcher Organisation
sind Sie, Commander? Militär? CIA? FBI? Polizei?“ fragte er.
Paton fing plötzlich
an zu grinsen. „Dexter hat mich vor Ihren Fragen gewarnt, Mr. Garcia, und
ich höre normalerweise auf ihre Ratschläge.“
Alex nickte. „Sie kennen Miss
Dexter also schon längere Zeit?“
Paton grinste noch einmal
und schickte die Wachen mit einer Handbewegung hinaus.
„Warum haben Sie Wachen überhaupt
mit hinein gebracht, wenn ich, wie Sie behaupten, frei sein soll?“
Paton sah in Richtung Tür
und sagte: „Ich habe nicht gesagt, dass Sie frei sind.“
Alex nickte. Das Mundwerk
von Paton war auch nicht schlecht. „Da haben Sie recht. Aber Sie haben
gesagt, Sie bringen mich nach Hause. Wollen Sie mich dort etwa einsperren?
In meinem eigenen Haus?“
Paton schüttelte den
Kopf. „Nein, Mr. Garcia, das will ich nicht. Sie sind auch nicht unser
Gefangener, aber wir können es auch nicht riskieren, dass Sie hier
frei herumlaufen. Sie sind als Spion ziemlich gut bekannt.“
Alex hatte keine Ahnung, wovon
dieser Mann eigentlich sprach. Er sollte frei sein, aber gleichzeitig war
er eingesperrt. Er war kein Gefangener, aber trotzdem durfte er sich nicht
frei bewegen. Offenbar war er an einem Ort, den er nicht sehen durfte,
und der irgendwie in Verbindung mit Judy Dexter stand.
„Okay, ich akzeptiere, dass
Sie mir nicht alles sagen können. Aber Judy Dexter ist bei der LOTFA.
Und deren Chef will mich umbringen lassen. Warum befreit sie mich dann?
Sie gerät dabei ebenfalls in die Schusslinie.“
Paton nickte. „Das ist wahr.
Aber ich kann Ihnen keine Antwort auf Ihre Fragen geben. In etwa einer
halben Stunde sind wir für Ihren Transport bereit. Ich hoffen, Sie
empfinden es hier nicht allzu sehr als Beleidigung gegen das, was Sie von
der LOTFA gewohnt sind, aber wir sind hier ziemlich schlecht eingerichtet.
Wir sind uns nicht gewohnt, Gäste zu haben. Doch man wird Ihnen gleich
etwas zu essen bringen. Sie sehen aus, als hätten Sie Hunger.“
Alex neigte dankend den Kopf.
Allein der Gedanke, dass er nun nicht mehr unter Feinden war, führte
dazu, dass er sich hier fast wie zu Hause fühlte.
Paton ging wieder zur Tür.
„Warten Sie noch einen Augenblick!“
rief Alex plötzlich und sprang auf. „Was ist mit Jessica?“
Paton sah ihn fragend an.
„Jessica?“ Scheinbar wusste er nicht, wer Jessica war.
„Meine Tochter. Sie ist noch
immer bei der LOTFA.“
Paton zuckte mit den Schultern.
„Judy hat sie bei der Übergabe mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht
will sie ... Nein, tut mir leid, ich weiss nicht, was mit ihr ist.“
Alex musterte ihn einen Augenblick
aufmerksam, bevor er nickte. „Wenn Judy sie nicht auch hierher bringen
kann, werde ich sie holen gehen. Dann war ihre Rettungsaktion umsonst gewesen.
Ich hole sie auf jeden Fall da raus. Sagen Sie ihr das, wenn Sie sie sehen.“
Paton hob erstaunt die Brauen.
„Für einen, dem sie gerade das Leben gerettet hat, sind Sie verdammt
undankbar.“
Er zuckte entschuldigend mit
den Schultern. „Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich denke
nicht, dass Cooper einfach so die Karten hinschmeissen wird, wenn er noch
ein Ass im Ärmel hat.“
Paton nickte. „Okay, ich werde
es ihr sagen ... falls ich sie sehe.“
Er neigte erneut dankend den
Kopf und Paton ging hinaus.
Alex dachte einen Moment daran
zu untersuchen, wie er hier heraus kommen konnte, aber er liess den Gedanken
schnell wieder verschwinden. Paton machte einen guten Eindruck bei ihm.
Er hatte nicht das Gefühl, dass er ihn anlog. Ausserdem würde
er wahrscheinlich sowieso nicht weit kommen. Vor der Tür mussten Wachen
stehen, die dafür sorgten, dass er nicht spionierte.
Eine dieser Wachen kam herein
und brachte ein Tablett mit einer Mahlzeit mit. „Hier, Sir, Ihr Essen.“
Alex dankte dem Mann, während er ihn aufmerksam musterte. Er ging
gleich darauf wieder hinaus.
Die Tür verschloss er
nicht. Er rechnete nicht damit, dass Alex einen Fluchtversuch wagen würde,
obwohl man ja eigentlich gar nicht von Flucht sprechen konnte. Schliesslich
war er nicht in Gefahr und er war kein Gefangener.
Alex kaute langsam an seinem
Essen, während er sich genauer im Zimmer umsah. Es hatte keine Fenster.
Der einzige Ein - und Ausgang war die Tür. Von den Wänden bröckelte
der Anstrich und zeigte einige Kratzspuren auf. Er musste grinsen, als
er daran dachte, dass ein Gefangener vielleicht versucht hatte, durch die
Wand zu fliehen.
Er sah zur Tür zurück.
Was war, wenn Judy ihm nicht helfen, sondern nur selbst ein bisschen verdienen
wollte? Wenn sie selbst Cooper erpressen wollte? Sie konnte Paton angestellt
haben, um die Verhandlungen um Alex zu leiten, aber in Wirklichkeit sackte
sie alles ein, nur wusste Cooper nichts davon. Er würde dann immer
noch das Gefühl haben, als wäre Judy seine treue Untertanin,
und ihre Position in seiner Gruppe wäre nicht gefährdet. Sie
würde dann zwei Jobs in einem machen.
Sein Blick glitt zur Türfalle.
Langsam erhob er sich und näherte sich der Tür. Er strich über
die Klinke. Wie viele Wachen standen da draussen? Könnte er entkommen?
Er versuchte, sein gebrochenes Handgelenk zu bewegen, aber das war schier
unmöglich. Mit einer Hand müsste er also gegen vielleicht fünf
oder noch mehr Männer bestehen können. Doch das war auch für
ihn unmöglich.
Er umfasste die Klinke. Ein
Teil in ihm sträubte sich gegen das, was er vorhatte zu tun, aber
ein anderer Teil sagte ihm, dass er Paton nicht trauen konnte. Schliesslich
wollte er ihm nicht sagen, wo er hier war, aus irgendeinem Grund, den er
ihm auch nicht sagen wollte. Er wollte ihm überhaupt nichts sagen.
Also warum sollte er ihm vertrauen?
Einen kurzen Moment lang zögerte
er, bevor er langsam die Klinke hinunter drückte. Ein kurzes Klicken
ertönte, dann war die Tür offen. Er verharrte in seiner Position
und lauschte. Zwei Stimmen drangen zu ihm durch. Sie schrien einander an
und plötzlich fiel ein Schuss. Dann erklang Musik und eine Frauenstimme
erzählte irgend etwas. Ein Fernseher! Alex musste lächeln. Ein
Soldat sollte auf ihn aufpassen und sah statt dessen fern. Das war ja wunderbar.
Er öffnete die Türe
ein weiteres kleines Stückchen und sah durch den Spalt. Die Wache
sass mit dem Rücken zu ihm und konzentrierte sich voll und ganz auf
das Bild. Alex machte die Tür weiter auf und hoffte, dass sie nicht
auf einmal anfing zu quietschen. Sie quietschte nicht. Er schlüpfte
hinaus und schlich hinter der Wache durch eine zweite Tür.
Er blieb kurz stehen und orientierte
sich. Jetzt stand er in einem langem Flur, von dem viele Türen abgrenzten.
Die Richtungen, aus denen er wählen konnten, waren rechts und links.
Es wunderte ihn, dass keine anderen Wachen hier waren, wenn es doch so
viele Geheimnisse gab, aber er war nicht unglücklich darüber,
ganz und gar nicht.
Er entschied sich für
rechts und rannte leise immer nahe an den Wänden. Das Licht hier in
den Gängen war ebenfalls nur so hell wie es in seinem ‚Zimmer‘ war.
Es sah so aus, als wäre man in voller Gefechtsbereitschaft und warte
nur noch darauf, dass der Feind endlich zuschlug. Er zwängte sich
in eine Nische, als plötzlich ein Mann im Anzug um die Ecke kam. Wäre
dieser nicht so in seine Akten vertieft gewesen, die er trotz dem schlechten
Licht zu lesen versuchte, hätte er Alex entdeckt. Er ging aber, ohne
etwas bemerkt zu haben, weiter. Vermutlich hätte er nicht einmal einen
Elefanten bemerkt.
Alex sah vorsichtig den Gang
hinauf und hinunter. Es war niemand zu sehen. Er rannte weiter zu einer
Kreuzung von zwei Gängen und suchte nach Wegweisern, aber scheinbar
schienen alle, die hier arbeiteten, den Weg zu kennen. So entschied er
sich auf gut Glück für eine Richtung und rannte weiter.
Warum waren hier keine Wachen,
keine Menschen, die arbeiteten? Niemand war ihm bis jetzt entgegengekommen
ausser diesem einen Mann, und er hörte auch nirgends Stimmen oder
sonstige Geräusche gehört. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos
gewesen war, daher konnte er nicht mehr sagen, ob es jetzt Nacht war oder
nicht. Logischerweise nahm er an, dass es so war, denn am Tag wäre
hier sonst sicher mehr Betrieb gewesen.
Langsam schlich er weiter,
trotzdem alle Sinne vollkommen gespannt. Viele der Türen, die an die
unendlich langen Gänge grenzten, waren mit Namenstäfelchen angeschrieben,
manchmal noch mit einem Dienstrang darunter. Alex hatte langsam das Gefühl,
in einem Armeelager gelandet zu sein. Vielleicht war Paton ein Armeekommandant,
der aus der Armee geworfen worden war und der jetzt diese Station für
sich beschlagnahmt hatte und sie nicht der Regierung zurückgeben wollte.
Der Gang endete vor einer
Türe, die grösser war als all die anderen. Und es stand der interessanteste
Name darauf, den er bis jetzt gelesen hatte: ‚CIA - Hauptquartier‘.
In diesem Moment erklang die
Alarmsirene. Die Wache hatte endlich gemerkt, dass er entkommen war. Es
wunderte Alex, dass die Sirene nicht schon viel früher aktiviert wurde.
Trotzdem nahm er die Schritte,
die nun plötzlich überall umher tappten, nur noch von weitem
wahr. Was ihn viel mehr interessierte, war, was das CIA mit Judy Dexter
zu tun hatte.
Er öffnete die Tür
mit einem Ruck. Das helle Licht in diesem Raum blendete ihn für einen
Moment.
„Nehmt ihn sofort fest, Männer!“
erklang nach einem kurzen, erschrockenen Zögern der Befehl von Paton.
Alex war voll ins Herz der
Station eingedrungen. Viele kleine Lämpchen blinkten an den Stationen
des riesigen Raumes. Er hatte keine Ahnung, für was das alles genau
diente, aber es war ziemlich beeindruckend. Paton stand in der Mitte dieses
Reiches und starrte ihn wütend, teilweise aber auch erstaunt an. Er
hatte wohl nicht damit gerechnet, dass er hierher kommen würde.
Starke Arme griffen nach Alex.
„Sie sind vom CIA, Commander
Paton?“ fragte Alex, ungerührt von den Handschellen, die ihm angelegt
wurden.
Patons Gesichtsausdruck war
verschlossen, doch glaubte Alex, einen kleinen Hauch von Bewunderung zuerkennen.
„Ich bin der stellvertretender Präsident des CIA, Mr. Garcia.“
Alex hob fasziniert die Brauen.
Nicht schlecht, der Vize des CIA hatte etwas mit einer illegalen Organisation
zu tun. Das würde tolle Schlagzeilen geben, wenn es bekannt wurde.
„Und was hat Judy Dexter mit
Ihnen zu tun?“
Paton warf ihm einem scharfen
Blick, der alles und gleichzeitig nichts hiess, entschied sich dann aber
dafür, die Wahrheit zu sagen. „Judy arbeitet seit fünf Jahren
als Undercover-Agentin für die LOTFA. Wir versuchen mit ihrer Hilfe
alle Verbindungsmänner Coopers aufzuspüren und zu verhaften.“
Fassungslos starrte Alex Paton
an. Er hätte wirklich nicht gedacht, dass Judy Dexter vom CIA war.
Sie verhielt sich überhaupt nicht wie diejenigen vom CIA, die er bis
jetzt kennengelernt hatte. Die meisten waren im Anzug gekleidet und kannten
nur die Theorie. Doch sie kannte auch die Praxis und wusste mit diesem
Wissen umzugehen. Das hatte er am eigenen Körper erfahren müssen.
„Sie macht ihre Sache wirklich
gut. Ich wäre nie darauf gekommen, dass sie vom CIA ist“, brachte
er nach einigen Schrecksekunden heraus.
Paton nahm das Kompliment
ruhig entgegen und winkte die Männer beiseite. „Da Sie jetzt schon
einmal hier sind, können Sie auch gleich hier bleiben, bis der Chef
wiederkommt. Aber rühren Sie nichts an.“
Alex machte ein unschuldiges
Gesicht. „Wie könnte ich das mit den Handschellen?“ meinte er und
spielte damit auf eine ganz bestimmte Tatsachen an.
Paton verdrehte die Augen
und befahl einem der Männer, ihm die Handschellen wieder abzunehmen.
Alex lächelte befriedigt und sah sich um. Die Technik des CIA war
immer auf dem neusten Stand. Es würde interessant sein zu sehen, was
nun der neuste Stand genau war. Auch wenn er an ziemlich viele neue Sachen
herankam; an diese Techniken, die der CIA einsetzte, kam er so gut wie
nie 'ran, ausser in Situationen wie dieser, die eigentlich noch weniger
vorkam als nie.
Er setzte sich auf den Stuhl,
den Paton ihm zeigte, und wartete. Die Männer und Frauen, die hier
beschäftigt waren, kümmerten sich nicht weiter um ihn. Einige
der jüngeren, die noch ganz neu beim CIA sein mussten, warfen ihm
ab und zu einen heimlichen Blick zu, der zu einem gewissen Grad Neugier
war, aber auch um sich zu versichern, dass er wirklich nicht noch einmal
abhaute.
Er ignorierte diese Blicke.
Sie waren ihm egal. Vor fünf Minuten war das noch anders gewesen,
aber jetzt hatte er keine Angst mehr, sofern man das vorher hatte Angst
nennen können. Der CIA stand unter dem direkten Befehl des Präsidenten
der Vereinigten Staaten und er war ein Bürger dieser Staaten. Sie
durften ihm nichts tun. Und scheinbar wollten sie das auch gar nicht. Denn
wenn Judy wirklich CIA-Agentin war, dann hatte sie ihn befreit, damit er
nicht sterben musste. Er verdankte ihr sein Leben.
Die Tür hinter ihm ging
auf und ein Mann kam herein. Er trug einen Anzug wie alle anderen, aber
er strahlte Autorität aus, die man fast sehen konnte. Alle nickten
ihm höflich zu und er nickte lächelnd zurück. Er ging geradewegs
auf Paton zu, der ihm die Hand schüttelte.
„Scott, ich hoffe, Sie hatten
keine Schwierigkeiten, solange ich weg war.“
Paton schüttelte den
Kopf. „Nein, Sir, abgesehen von einem Gast, der ein wenig zu aufdringlich
war.“
Der Mann hob die Brauen. „Ein
Gast, von dem ich nichts weiss, Scott?“
Paton neigte den Blick. Er
war von der Aura der Autorität vollkommen eingenommen. „Judy hat ihn
vor etwa drei Stunden gebracht, Sir. Sie hätten ihn sonst umgebracht.
Ich wusste nicht, wo ich Sie erreichen konnte, also habe ich ihn eingesperrt.“
Der Mann, der anscheinend
der Präsident des CIA war, nickte. Alex beobachtete das Geschehen
neugierig. Vor einer Minute war ihm Paton noch wie ein Mann vorgekommen,
den man nicht einschüchtern konnte, aber nun musste er feststellen,
dass er vor seinem Chef das Knie beugen würde.
„Was für Probleme hatten
Sie denn mit ihm?“
Paton antwortete: „Er entkam
aus seinem Quartier. Die Tür wurde durch ein Versehen nicht mehr abgeschlossen.“
Die eigentlich freundlichen
Augen des Mannes wurden nun wachsam. „Wo ist er jetzt?“ fragte er aufgeschreckt.
Paton nickte in Alex‘ Richtung.
„Er ist bis hierher gekommen, Sir. Er weiss, wer wir sind und ... wer Judy
ist.“
Der Mann sah Alex aus seinen
scharfen Augen an. Alex fühlte sich bedroht ebenfalls einen grösseren
Respekt für den Mann zu empfinden, als es eigentlich nötig war.
Er stand auf und nahm höflich die Hand, die ihm entgegengestreckt
wurde.
„Mein Name ist Captain Brian
Green. Wer sind Sie?“ stellte sich der Mann vor.
Alex antwortete: „Alex Garcia.“
Green hob erstaunt eine Braue.
„Alex Garcia?“
Er nickte ungerührt.
Dass sein Name auch in den höchsten Stationen des CIA bekannt war,
wusste er. Es war unumgänglich, dass sie nicht schon von ihm gehört
hatten.
„Wissen Sie eigentlich, von
wie vielen Leuten Sie schon angezeigt wurden?“
Alex sah ihn an, als wolle
er sagen ‚Sie werden es mir sicher gleich sagen‘. „Warum verhaften Sie
mich dann nicht?“ fragte er ruhig. Er wusste, dass das schon längst
geschehen wäre, wenn sie es gewollt hätten.
Green lächelte nur. „Das
wissen Sie so gut wie ich. Die Leute, die Sie angezeigt haben, sind genauso
undurchsichtig wie Sie selbst.“
„Gelten die Anzeigen von undurchsichtigen
Leuten nicht?“ fragte Alex weiter.
Green ging auf sein Spielchen
ein. „Wir wissen, was Sie tun und was die anderen tun. Wir wissen, in welchen
Verbindungen Sie zu einander stehen. Aber wir können Sie nicht verhaften,
wenn Sie sich gegenseitig austricksen wollen. Sie schaden nur sich selbst,
allen anderen nicht. Ein weiteres Problem ist, dass wir keine Beweise haben,
die wirklich etwas aussagen.“
Alex hob bedauernd lächelnd
die Schultern. „Das tut mir aber leid“, sagte er und wechselte plötzlich
das Thema. „Commander Paton meinte, ich werde nach Hause gebracht. Aber
was ist mit meiner Tochter?“
Green zuckte mit den Brauen.
Das war ein Thema, das er nicht vor seiner ganzen Mannschaft diskutieren
wollte, also zeigte er auf eine Tür, die in sein Büro führte.
Alex öffnete sie, ging hinein und setzte sich auf den Stuhl vor dem
Schreibtisch, während Green den hinter ihm nahm.
„Offiziell sind Sie und Samantha
Bishop noch immer glücklich verheiratet, so -“
Alex starrte ihn. „Was haben
Sie gesagt?“
Green starrte erschrocken
zurück und fragte sich, ob er etwas Falsches gesagt hatte. „Sie wissen
nicht, dass Ihre Frau ...?“
Alex unterbrach ihn. „Doch,
das weiss ich; jetzt. Aber ich habe es erst vor Kurzem erfahren. Wie lange
wissen Sie es schon?“
Green schluckte. Es überraschte
ihn, dass ein Mann nicht wusste, wer seine eigene Frau war. „Seit zum ersten
Mal eine Anzeige von einem Mafioso gegen Sie aufgegeben wurde. Wir haben
Sie überprüft, und dabei kam das heraus.“
Alex schüttelte den Kopf
erschöpft. „Alle wissen, wer Sam ist, nur ihr eigener Mann, der weiss
es nicht!“
Green musterte ihn kurz. „Es
tut mir leid für Sie, Mr. Garcia, ehrlich, aber um darüber zu
trauern ist es jetzt zu spät. Sie können die Zeit nicht zurückdrehen.“
Alex nickte nur, und Green
fuhr fort. „Also, Sie sind ja eigentlich immer noch verheiratet, also haben
Sie beide das Sorgerecht für Jessica. Sie kann also genauso gut bei
Ihrer Frau bleiben wie bei Ihnen. Darum können Sie keine Ansprüche
darauf erheben, dass Jessica zu Ihnen kommen muss. Sie kann genauso gut
bei Ihrer Frau bleiben. Der Staat weiss nicht, dass Nora Garcia und Sam
Bishop ein und dieselbe Person ist.“
Alex‘ Gesicht verhärtete
sich. „Es ist mir vollkommen egal, was ich darf und was nicht, Sir. Jessica
ist die Tochter von Nora und mir, nicht von Sam und mir. Sam hat keine
Rechte als Mutter.“
Green legte den Kopf leicht
schräg. „Das wird ein Gericht anders sehen. Wenn Sie Jessica da raus
holen wollen, gilt das als Entführung, auch wenn es Ihre Tochter ist.“
Alex brachte seine Wut unter
Kontrolle. Green konnte auch nichts dafür, dass die Gesetze so waren,
wie sie waren. Ausserdem musste er einen klaren Kopf behalten. „Okay, es
wird eine illegale Aktion“, gab er zu, „aber glauben Sie, Sam würde
mich anzeigen? Sie hat selber ganz viel Dreck am Stecken, und wenn sie
wirklich das Sorgerecht haben will, dann werde ich dafür sorgen, dass
man ihr Leben vollkommen aufdeckt, bis zum kleinsten Staubstück.“
Green lächelte leicht.
„Ihr Leben ist nicht besser, Alex“, versuchte er es auf die väterliche
Tour, „Sie erledigen ihren Job genauso, wie Sam den ihren macht, nämlich
illegal. Sie machen das, wofür Sie am meisten Geld bekommen und wozu
Sie gerade Lust haben.“
Alex sprang auf und schnaubte.
„Hören Sie, es ist mir egal, ob es illegal ist oder nicht. Es wäre,
wie Sie sagen, nicht das erste Mal, dass ich etwas Illegales machen würde.
Wenn Sie mich also nach Hause bringen wollen, dann tun Sie es, aber lassen
Sie mich danach in Ruhe. Sie können mich ja verhaften, wenn ich dabei
erwischt werde, wie ich meine eigene Tochter entführe!“
Green blieb ganz ruhig in
seinem Sessel sitzen und lehnte sich zurück. „Judy ist eine unserer
besten Agentinnen. Wenn sie sagt, dass wir Sie nach Hause bringen sollen,
dann hat das einen Grund. Und wenn sie Ihre Tochter nicht auch mitbringt,
dann hat das auch einen Grund.“
Alex sah ihn scharf an. „Das
ist mir so verdammt egal“, flüsterte er und drehte sich zur Tür
um.
„Alex!“ rief Green. Er blieb
stehen, drehte sich aber nicht um. „Ich kann und darf als CIA-Direktor
nicht zulassen, dass Sie eine Straftat begehen. Wenn ich von einem solchen
Fall weiss, muss ich Sie in Schutzhaft nehmen; in Schutz vor sich selbst.“
Alex drehte sich nun doch
noch um und hob die Brauen. „Sie wollen mich in Schutzhaft nehmen?“
Green nickte. Alex sah, dass
Green es eigentlich nur gut meinte, aber es war hier schliesslich nicht
irgendein Mensch, von dem sie hier sprachen; es war seine Tochter! Und
sie war in Gefahr.
„Dann versuchen Sie’s!“
Er öffnete die Tür
und rannte, bevor Green richtig reagieren konnte, schon durch die grosse
Eingangstür des grossen Raumes hinaus.
„Nehmt ihn fest! Schliesst
die Eingangstüren! Niemand geht mehr ohne meine Erlaubnis hinaus!“
konnte er gerade noch Greens donnernde Stimme hinter sich hören, als
die Tür wieder ins Schloss fiel.
Mehrere Männer setzten
ihm nach, aber er hängte sie mit einem Sprint ab. Er hatte keine Ahnung,
wovon er die Kraft dafür nahm, aber er schaffte es. Die Alarmglocken
fingen erneut an zu heulen. Er sputete weiter und hoffte, die richtige
Richtung zu nehmen. Wenn sie ihn gefangen nahmen, würden sie ihn einsperren
und ihn für die Dinge bestrafen, von denen sie vorher hatten absehen
wollen.
Er stiess alle, die sich ihm
in den Weg stellen wollten, einfach zur Seite und rannte weiter, einfach
gerade aus.
Endlich kam er in eine Art
Halle, eine Garage, in der mehrere Wagen standen, die zur Abfahrt bereit
waren. Also hatte er den richtigen Weg erwischt. Doch es war keine gute
Idee mit einem Auto zu fliehen. Er käme nicht durch das Tor, das Green
verriegeln liess.
Er rannte zu einer kleineren
Tür, die für Fussgänger nach draussen führte. Dort
stolperte er in einen grossen Park, von dem man immer nur gerade die Stücke
sah, die von den Scheinwerfern, die sich hin und her bewegten, beleuchtet
wurden.
Etwa hundert Meter vor ihm
war eine grosse Mauer, auf der nun überaus wachsame Wachen patrouillierten.
Sie alle trugen Maschinengewehre. Er sah sich um. Wenn er über diese
Wiese rannte, wurde er früher oder später einmal von einem der
Scheinwerfer beleuchtet werden. Aber er hatte keine andere Wahl. Es schien
sonst keinen anderen Weg hinaus zu geben.
Er konzentrierte sich auf
die Lichter und begann zu rennen. Ohne die Lichtstrahlen konnten die Wachen
ihn nicht sehen. Aber sobald er von einem getroffen wurde, entdecken ihn
so gut wie auf der Stelle, vor allem jetzt, wo alle in Alarmbereitschaft
waren.
Er sprang zur Seite, als ein
Strahl knapp an ihm vorbeifuhr.
Schwer atmend blieb er liegen
und wartete auf ein ‚Da unten ist er!‘. Doch sie hatten ihn nicht gesehen.
Er sprang wieder auf, rannte weiter und prallte gegen die Mauer. Er drückte
sich an sie und lauschte. Die Schritte über ihm gingen hin und her.
Er schob sich nach rechts, aber das änderte nichts an den Schritten.
Jetzt waren es einfach die einer anderen Wache. Er tastete der Wand entlang
nach einem Halt und zog sich daran hoch. Die Wachposten schienen nicht
zu glauben, dass er direkt in ihre Mitte kommen würde. Ein Vorteil
für ihn!
Vorsichtig hob er einen Arm
und zog an dem Bein, das direkt über ihm war. Die Wache stiess einen
erstaunten Schrei aus, als sie von der Mauer fiel. Die anderen packten
sofort ihre Waffen fester, aber Alex sprang schon auf der anderen Seite
zu Boden und rannte fort.
„Schwärmt sofort aus,
Männer! Er darf nicht entkommen!“ schrie eine laute Stimme.
Er hörte, wie sich mehrere
Wachen zu Boden fallen liessen und ihn verfolgten. Sie schossen mit ihren
Gewehren, doch sie wollten ihn nicht treffen; zu seinem Glück. Ausserdem
sahen sie ihn nicht, also konnten sie ihn auch nicht verfolgen. Er rannte
in den Wald und versteckte sich in einer Grube, die von Bäumen und
Sträuchern gut abgedeckt waren. Die Männer hasteten laut einander
zurufend, dass er hier nicht war, vorbei. Er hielt seinen Atem an und bewegte
sich keinen Millimeter von der Stelle, bis alle vorbei waren.
Erst als die Schritte verklangen,
kletterte er wieder aus der Grube hinaus und rannte zum Haupteingang, den
er vorher gesehen hatte.
Im Wachhaus sass jemand in
seinem Sessel und starrte in den Fernseher. Scheinbar waren hier alle süchtig
nach Fernsehern. Er öffnete die Tür des Autos, das dort stand
und dem Wachmann gehören musste, und wollte den Motor anlassen, aber
er hatte keinen Schlüssel. Aber er brauchte ihn, denn wenn er es mit
einem Schnellstart versuchte, würde er die Wache bestimmt alarmieren,
bevor er den Motor anhatte.
Leise stieg er wieder aus
und ging zum Wachhaus. Langsam öffnete er die Tür und trat hinter
den Mann, der ihn nicht bemerkte. Heftig schlug er ihm in den Nacken, worauf
dieser sofort und ohne einen Ton ohnmächtig zusammenbrach. Er durchsuchte
ihn nach den Schlüsseln und fand sie. Schnell rannte er zum Auto zurück
und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
12. Gesellschaft
Das Flugzeug flog so ruhig
in der Luft, dass man fast denken konnte, es stehe noch immer auf dem Boden.
Es war Nacht, doch wenn es in Miami ankam, würde es Morgen sein. Die
meisten Passagiere waren müde, denn sie hatten seit Stunden darauf
gewartet, dass das Flugzeug endlich abflog. Es hatte irgendein Problem
gegeben, das die Maschinisten nicht beheben konnten. Als sie endlich auf
die Idee gekommen waren, eine andere Maschine startklar zu machen, waren
schon fünf Stunden vergangen.
Nun sassen alle schlapp in
ihren Sesseln und warteten nur noch darauf, dass endlich das Licht gelöscht
wurde, um sich noch ein bisschen Schlaf zu gönnen.
Alex sass in der sechsten
Reihe des Business-Class - Abteils und sah aus dem Fenster, obwohl man
nichts sah als ein paar blinkende Lichter. Diese Verspätung hatte
seinen Plan ruiniert, doch er würde sich einen neuen einfallen lassen.
Wenn es sein musste, setzte er auch voll auf Risiko.
Neben ihm sass eine Frau,
die während dem Starten fast über seine Hosen erbrochen hatte.
Aus ihrer komplizierten Frisur hingen blonde Strähnen heraus. Sie
sah ein wenig zerzaust aus. Die Frau noch war noch ziemlich jung, etwa
fünfundzwanzig, schätzte Alex, vielleicht ein bisschen älter.
Sie trug weite, blaue Jeans und ein schwarzes, enges Oberteil. Ihre Jacke
lag über ihren Knien, bis sie auf die Idee kam, dass sie sie ja in
das Gepäckfach legen konnte.
Alex musterte sie solange,
bis sie den Kopf wandte. Darauf sah er wieder aus dem Fenster und tat so,
als hätte er die ganze Zeit nichts anderes gemacht.
„Haben Sie Feuer?“ fragte
sie plötzlich. Ihre Stimme klang hell und freundlich, so, als ob sie
gerne reden würde.
„Das ist ein Nichtraucherflug“,
wies Alex sie höflich darauf hin.
Sie lachte gekünstelt
verlegen. „Oh, tut mir leid“, meinte sie und stellte sich nach einer Sekunde
vor: „Ich bin Nina Alaimo.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Er lächelte leicht. „Mark
Westwood“, und nahm ihre Hand in seine.
„Fliegen Sie zum ersten Mal
nach Miami?“ fragte sie sofort weiter.
„Ja“, antwortete er. In seinem
Kopf stellte er schon eine Geschichte zusammen, die er Nina erzählen
konnte, ohne die Wahrheit zu sagen.
„Was machen Sie dort? Wurden
Sie von einer Firma geschickt? Oder machen Sie Ferien dort?“
Er schüttelte den Kopf
und meinte: „Ich besuche ... einen alten Freund von mir.“
Sie nickte. „Ich gehe von
meiner Firma aus. Sie meinten, ich sei genau die Richtige für diesen
Job. Sie müssen wissen, ich bin Reporterin, na ja, ich möchte
Reporterin werden. Die Agentur hat mich geschickt, damit ich einen Mann
interviewe, der Geheimagent oder so etwas ist. Ich weiss es auch nicht
so genau. Ich habe keine Ahnung, wie er aussieht, ich weiss nur, dass ich
ihn irgendwo in Miami Beach finden kann, auf den Sunset - Inseln. Sie sagten,
ich werde schon herausfinden, wo er genau ist. Solche Sachen sollen sich
schnell 'rumsprechen, meinten sie.“
Alex verbot sich, die Stirn
zu runzeln. Warum wollte sie ausgerechnet zu den Sunset - Inseln? Genau
dorthin, wo auch er hinwollte?
„Da haben Sie recht. Gerüchte
von Geheimagenten und Gangstern sind das übliche Gesprächsthema
in Restaurants und Bars unter den Einheimischen“, erzählte er.
„Wirklich? Das wusste ich
nicht. Aber reden die Leute dort auch mit mir? Ich meine, die kennen mich
doch nicht. Kann ich einfach an die Bar sitzen und die erzählen mir
dann solche Sachen?“
Alex nickte. „Die meisten
sind froh, wenn sie jemanden zum Reden haben.“
Nina lächelte dankbar.
„Von wo wissen Sie das alles? Sie sagten doch, dass Sie noch nie in Miami
waren.“
„Ich habe Freunde, die schon
da waren“, antwortete er und das war wohl das einzige Wahre, was er erzählte.
„Aha, aber Sie wissen nicht
zufälligerweise, wo sich der Mann aufhält? Sie sehen aus wie
jemand, der über viel Informationen verfügt“, redete sie weiter.
„Vielleicht schon, vielleicht
auch nicht. Was ist es für ein Mann?“ Es war ihm klar, dass er es
nicht wusste, denn er wusste eigentlich nichts über Agenten, die in
Miami ermittelten, aber konnte ja so tun, als wisse er es. Das lenkte sie
davon ab, ihn nach seinem Leben auszufragen.
„Sein Name ist Alex Garcia.
Er soll irgendwie ein Agent sein, der sich anheuern lässt oder so
etwas. Irgendwie sucht er Rache bei einem Mann, der ihm seine Familie weggenommen
hat oder so etwas. Ich habe noch keine genauen Informationen, müssen
Sie wissen.“
Alex versuchte angestrengt,
sich nichts anmerken zu lassen. Es war wirklich erstaunlich, wie einem
das Schicksal manchmal mitspielte. Sie suchte jemanden, von dem sie nicht
mehr gehört hatte als ein paar falsche Gerüchte, und sass dann
neben ihm, allerdings ohne es zu wissen. Irgendwie tat sie ihm leid, denn
sie würde wahrscheinlich nie herausfinden, dass er es gewesen war,
aber er würde ihr nicht aus Mitleid sagen, dass er Alex Garcia war.
„Tut mir leid. Den Namen habe
ich noch nie gehört“, behauptete er.
Sie seufzte. „Schade. Aber
ich werde ihn bestimmt finden. Er soll nur noch auf Rache aus sein und
alles andere vergessen haben. Vermutlich weiss er gar nicht, wie berühmt
er unter uns Reportern ist, die alle eine Story wollen.“
Damit hatte sie allerdings
recht. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sein Name der Presse bekannt
war. Jemand von seinen früheren Arbeitgebern musste einmal für
ein paar Tausend Dollar den Mund aufgemacht haben.
„Was denken Sie? Können
Sie glauben, dass jemand so auf Rache versessen ist und dabei alles um
sich herum vergisst?“
Das war eine dumme Frage,
aber für einen Reporter eine durchaus gebräuchliche. Sie wollte
alles wissen, auch die noch so kleinen Einzelheiten.
„Natürlich. Liebe wandelt
sich schnell in Hass“, antwortete er so gefühllos wie es ging.
„Also ich bin mir nicht so
sicher. Ich meine, ich sehe auch fern und sehe all die Filme, die davon
handeln, aber das so etwas in Wirklichkeit passiert, scheint mir unmöglich.
Warum sollte er seine Frau umbringen wollen, wenn sie ihn nicht mehr will?
Dazu noch seine Tochter. Rache ist ja wirklich ein blöder Grund, völlig
dumm. Es bringt ihm doch überhaupt nichts.“
Sie glaubte wirklich an das,
was sie sagte. Doch es war nicht so. Rache war ein sehr guter Grund, um
jemanden umzubringen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die meisten Morde geschahen
aus Rache. Aber Nina war noch jung. Sie konnte noch lernen, was Liebe und
Rache miteinander gemeinsam hatten, wenn ihre grosse Liebe sie verliess.
Das Licht löschte aus
und sofort wurde es leiser im Flugzeug. Alex legte das Kissen unter seinen
Kopf und lehnte sich gegen die Wand. Er wollte ein bisschen schlafen, um
noch ein wenig Kraft zu sammeln, bis sie ankamen. Dass er völlig übermüdet
ankam, konnte er nicht riskieren.
Nina wollte noch nicht schlafen,
aber als sie sah, wie müde er war, redete sie nicht weiter. Sie schien
aus gutem Haus zu kommen, was erstaunlich war für einen Reporter.
Die wenigsten hatten so etwas wie eine gute Erziehung erhalten, und wenn
doch, dann vergassen sie sie sofort, um den Idealen eines Reporters entsprechen
zu können. Doch sie war auch müde, und so war sie eigentlich
nur froh, dass Alex schlafen wollte. So konnte sie es ebenfalls tun. Kaum
hatte sie sich ein wenig in ihrem breiten, bequemen Sessel gekuschelt,
schlief sie auch schon ein.
Alex lächelte leicht.
Sie war eine Schönheit, aber sie erinnerte ihn an Sam. In ihrem Alter
hatte sie ebenfalls so ausgesehen, unschuldig und trotzdem risikofreudig,
immer darauf bedacht, das Leben in vollen Zügen zu geniessen. Damals
hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Er konnte sich noch gut an ihr
erstes Rendezvous erinnern. Sie waren beide total befangen gewesen und
hatten nicht gewusst, worüber sie reden sollten. Dann entdeckten sie
ihre gemeinsame Vorliebe für das Theater und konnten darüber
diskutieren. Das nächste Treffen war dann in der Vorführung eines
Theaterstücks gewesen.
Sie hatten viel Spass miteinander
gehabt, sowohl damals wie die Jahre, die danach folgten, doch jetzt, nur
ein paar wenige Tage, nachdem jemand etwas Falsches gesagt hatte, war alles
im Eimer und total zerbrochen. Sie würden nie mehr zusammen glücklich
sein.
Heftig schob er den Gedanken
von sich. Es hatte keinen Sinn, wenn er sich an vergangene Zeiten erinnerte
und unglücklich war. Sie waren endgültig vorbei und kamen niemals
wieder. Er sollte sich lieber auf die Zukunft konzentrieren. Er musste
sich überlegen, wie er Jessica befreien konnte, ohne den Schutz der
Dunkelheit.
13. Vertrauen
Das Flugzeug landete auf dem
International Airport of Miami in Florida. Nur wenige der Passagiere waren
wach genug, um sofort aufzustehen und ihre Taschen aus den Ablagen zu holen,
so dass Alex genug Platz hatte und verschwinden konnte. Seine kleine Tasche,
die er wahrscheinlich sowieso nicht brauchte, hatte er mitgenommen, um
als Tourist durchgehen zu können. Ein Mann ohne eine Tasche war einfach
zu auffällig.
Nina schlief noch immer tief
und fest. Während des Fluges war ihr Kopf auf seine Schulter gerutscht
und er hatte sie nicht weggeschoben. Es war ein Gefühl, als könne
er für jemanden sorgen, der ihm vertraut. Natürlich, das war
pure Einbildung, dass Nina nach einem kurzen Wortwechsel ihm schon vollkommen
vertraute, aber es beruhigte ihn irgendwie trotzdem. Er kam sich vor wie
ein Vater, der seine Tochter im Schlaf beschützte. Eigentlich wollte
er ja für Jessica ein richtiger Vater sein, aber die Gefühle
eines Vaters zu zeigen, das musste er erst noch lernen.
Beim Aussteigen wünschten
ihm die Stewardessen einen schönen Aufenthalt und lächelten ihm
freundlich, aber müde zu. Sie waren erschöpft von der Reise,
denn auch sie waren seit dem Abend auf und hatten darauf warten müssen,
dass der Flieger endlich abflog, aber trotzdem schien ihr Lächeln
immer noch echt zu sein. Man konnte jedoch nicht mit hundertprozentiger
Sicherheit sagen, ob das nicht einfach nur antrainiert war.
Alex lächelte freundlich
zurück und stieg langsam die Treppe hinunter. Die Sonne schien ihm
direkt ins Gesicht. Er wandte sich ab und stieg in den Bus, der ihn und
die anderen Passagiere zur Gepäckkontrolle brachte. Es war eng und
stickig, aber im Moment war das nicht wichtig. Es gab anderes, was mehr
Beachtung verdiente als der enge Bus.
Ohne Probleme kam er durch
die Kontrolle und ging schnell durch die riesigen Hallen zum Ausgang des
Flughafens. Aus einem der Abfallkörbe fischte er ein kleines Paket
und steckte es in seine Tasche. Ein Freund von ihm hatte ihm die Waffe
besorgt, damit er keine Sondererlaubnis für den Flug brauchte, die
er wahrscheinlich nicht bekommen hätte.
Beim Hauptausgang stieg er
in ein Taxi und gab dem Fahrer sein Ziel an. Dieser fuhr gemächlich
los. Er hatte es nicht eilig - eigentlich hatte er es nie eilig - doch
wenn sein Fahrgast wollte, dass er schneller fuhr, musste er sich halt
melden.
Alex fragte sich, was er eigentlich
bei Cooper wollte. Wie konnte oder wollte er Jessica befreien? Er konnte
einfach versuchen einzubrechen und seine Tochter in diesem riesigen Gebäuden
zu suchen, aber die Chance, dass so ein schwachsinniger Plan klappte, war
etwa eins zu einer Million. Cooper rechnete sehr wahrscheinlich sowieso
damit, dass er zurückkommen würde, um Jessica zu holen, und er
würde bestimmt nicht zulassen, dass Alex einfach sein Druckmittel
mitnahm. Er wusste, was er gegen Alex unternehmen konnte, und würde
es auch tun.
Der Fahrer hielt wieder an.
Alex bezahlte ihn und stellte sich in den Schatten des Hauses, das neben
Coopers Hautquartier lag und als Wohnort für die LOTFA diente. An
der Tür standen, wie vor so vielen Häusern auf den Sunset - Inseln
von Miami., Wachen. Sie sahen ziemlich harmlos aus in ihren schwarzen,
massgeschneiderten Anzügen, aber unter diesen Aufzügen verbargen
sich stählerne Muskeln und noch stählerne Pistolen. Einfach durch
die Vordertüre spazieren konnte er also nicht. Das hatte er auch gar
nicht gewollt.
Er umrundete das Gebäude
in einem weiten Kreis. Es war nur dreistöckig, kleiner als die meisten
anderen Häuser hier, aber das liess immer noch genügend Spielraum
offen für das Zimmer, in dem sich Jessica befinden konnte.
Ein Fenster fiel in sein Blickfeld,
das man gut von unten erreichen konnte. Er sah sich genau um. Es waren
keine Wachen zu sehen. Schnell steckte er seinen Revolver hinten in seine
Hose hinein, liess seine Tasche hinter einem Busch zurück und zog
einen Abfalleimer unter das Fenster. Vorsichtig kletterte er darauf und
suchte Halt am Fensterbrett, an dem er sich hochzog.
Er musste das Fenster hoch
schieben und stürzte dann mehr in das Zimmer, als dass er kletterte.
Zum Glück war es ein ungebrauchtes Zimmer, sonst wäre er möglicherweise
schon jetzt gefasst worden. Er rappelte sich auf und schlich zur Tür.
Er presste sein Ohr dagegen und lauschte. Alles schien ruhig zu sein. Leise
öffnete er sie und spähte in den Flur hinaus. Niemand war da.
Möglicherweise hatte er Glück gehabt und er war in einen ruhigeren
Teil des Gebäudes eingedrungen. Das würde ihm ermöglichen
unbemerkt weiterzukommen. Mit geübten Fingern schraubte er den Schalldämpfer
an die Waffe. Wenn er jemanden erschiessen musste, wollte er nicht, dass
gleich das ganze Haus davon wusste.
Er rannte mit schnellen Schritten
den Gang entlang, die Pistole bereit haltend, um im Notfall zu schiessen
zu können.
Plötzlich hörte
er Schritte hinter sich. Sofort drehte er sich und ging leise zur nächsten
Ecke zurück, wo er seinen Verfolger abfangen konnte. Er hob die Pistole
auf Kopfhöhe, um zu schiessen oder, wenn er genug Zeit dazu hatte,
um dem Jemand einen Schlag zu verpassen. Wartend presste er die Lippen
zusammen.
Die Schritte waren leise,
auch jetzt, wo sie ganz nahe sein mussten und tönten nicht so, als
wären sie von einem Mann. Tatsächlich kamen sie von einer Frau:
es war Judy Dexter.
Eine Sekunde lang schien sie
nicht recht zu wissen, ob sie ihren Augen glauben oder es für eine
Einbildung halten sollte. Dann sah sie aber die Waffe, die direkt auf ihren
Kopf gerichtet war und war überzeugt, dass er wirklich hier war. Sie
vergass den Revolver wieder, sah sich schnell um, öffnete eine Tür
und schob ihn fast grob hinein.
„Was machen Sie hier? Verdammt,
Sie sollten doch nach Hause gehen!“ flüsterte sie drohend.
Alex lächelte leicht.
Er wusste, sie war nicht sein Feind, sie wollte ihm helfen, auch wenn sie
es auf eine ganz besondere Art tat, die er manchmal nicht ganz verstand.
„Haben Sie das Buch ‚Nicht ohne meine Tochter‘ gelesen? Nein? Sollten Sie
aber. Es ist wirklich klasse“, antwortete er leicht scherzend.
Judy war es überhaupt
nicht nach Scherzen. „Wenn Cooper Sie hier findet, sind Sie so gut wie
tot, ist Ihnen das eigentlich klar? Ich werde ihn nicht noch einmal überreden
können, Sie gehen zu lassen. Er hat schon bei diesem ersten Mal viel
riskiert.“
Alex nickte. Natürlich
war ihm das alles klar, aber er konnte auch nicht riskieren, dass Cooper
seine Meinung änderte und ihn zurückholen wollte, indem er Jessica
benutzte.
„Wo ist meine Tochter?“ fragte
er.
Sie schüttelte heftig
den Kopf. „Sie können sie nicht holen. Sam ist immer bei ihr und bewacht
sie. Sie ist sich sicher, dass Sie zurückkommen werden, womit sie
tatsächlich auch Recht hatte.“
Alex sah sie streng an. „Ich
entscheide, was ich kann und was nicht, klar? Green sagte mir, Sie sind
seine beste Agentin. Sie gehen mit Ihrem Job hier doch dauernd Risiken
ein. Ist es ein zu grosses Risiko, mir zu sagen, wo Jessica ist? Ich werde
Cooper nicht sagen, dass Sie es waren, wenn er mich erwischen sollte.“
Judy starrte ihn misstrauisch
an. „Green hat Ihnen gesagt, wer ich bin?“ flüsterte sie beinahe ängstlich.
Alex schüttelte den Kopf.
„Nein, niemand hat es gesagt. Ich habe es selbst herausgefunden. Ich musste
nur ein bisschen kombinieren. Ich denke nicht, dass Green es mir gesagt
hätte, da können Sie beruhigt sein.“
Sie musterte ihn immer noch
misstrauisch. „Ich habe Paton gesagt, er soll Sie einsperren, nichts sagen
und immer dafür sorgen, dass eine Wache vor der Zelle sitzt. Wie haben
Sie es trotz all dem herausgefunden?“
Sie hatte für alles gesorgt,
aber nicht daran gedacht, dass die Wache vielleicht nicht aufpassen würde.
Doch das erwähnte er nicht und zuckte nur leicht entschuldigend lächelnd
mit den Schultern. „Ich bin geflohen.“
Judy machte eine Ich-hätte-es-wissen-sollen-Geste.
„Bringen Sie mich jetzt zu
Jessica?“ fragte er, aber sie verneinte.
„Ich werde Sie nicht zu ihr
bringen, ich werde sie holen gehen. Aber Sie bleiben hier und rühren
sich nicht von der Stelle. Vermutlich wird Sam darauf bestehen, mitzukommen,
also machen Sie sich darauf gefasst, dass sie auch hierher kommen wird.
Wenn sie zu viele Probleme macht, müssen Sie sie ausschalten, verstanden?“
Alex nickte. Es war makaber,
aber es würde ihm ein Vergnügen sein, Sam ein bisschen zu quälen,
sei es auch nur körperlich, so wie sie es mit ihm getan hatte.
„Kann ich Ihnen vertrauen?“
fragte er, bevor sie hinausging.
Sie drehte sich noch einmal
um und sah ihn an. Lächelnd meinte sie: „Ich gehöre zum CIA,
ich bin eine von den Guten“, und ging hinaus.
Er hob die Brauen. Hiess das
ja oder nein? Er ertappte sich dabei, dass er ihr vertraute, obwohl sie
ihn gefoltert hatte.
Seufzend setzte er sich und
wartete, denn das war im Moment das Einzige, was er tun konnte.