April 1995

Santiago de Chile, 05.04.1995

Willkommen in Chile

Ich wußte genau, daß ich eine ziemlich eigenartige und jämmerliche Figur abgab, so wie ich mit diesen dunklen Ringen unter den Augen vor dem Ankunftsterminal auf einer Bank vor dem Flughafengebäude saß. Als ich endlich alle Taxifahrer an diesem Flughafen darauf hingewiesen hatte, daß ich nicht nach Santiago Centro fahren will, hatte ich endlich meine Ruhe. Mir war einfach viel zu heiß für eine solche Tour.

Es war tatsächlich Sommer in Chile und ich kam hier mit diesen toller Winterkleidung am Körper an. Ich fühlte mich unwohl, vor allem weil alle Chileninnen, die ich bis zu diesem Zeitpunkt ausgemacht hatte, hübsch herausgeputzt waren, so daß ich mir ganz unweiblich vorkam in den klobigen Wanderstiefeln, mit meinen übernächtigten Augen und den wild durcheinandergewehten Haaren. Ein tiefes Gefühl, völlig fehl am Platz zu sein, manifestierte sich in mir.

Langsam wurde ich auch noch paranoid - ich stellte mir vor, daß sich alle Taxifahrer, an deren Stand ich saß, über mich lustig machten - leider konnte ich überhaupt nichts von dem verstehen, was sie sagten. Ein Intensivkurs Spanisch wäre vielleicht doch eine gute Idee gewesen, jetzt war es aber zu spät. Die ganze letzte Woche hatte es bei uns in Deutschland noch -5 Grad gehabt und nun saß ich in einer Gluthitze von 30 Grad. Ich wünschte mir sehnlichst, daß es einen Park in der Nähe geben würde oder zumindest ein Sonnendach. Ich wollte doch nur ein wenig schlafen, seit über 30 Stunden war ich nun schon auf den Beinen und ein Ende war noch lange nicht in Sicht: Schweinfurt - Frankfurt am Main - London - Sao Paulo - Santiago de Chile und dann noch das Warten auf den bevorstehenden Flug nach Puerto Montt im Süden Chiles.

Der Flug hatte sich nicht nur in die Länge gezogen, sondern ich hatte auch das zweifelhafte Glück, neben einem dicken, laut schnarchenden und schwer schwitzenden blassen Deutschen zu sitzen. Ich saß am Fenster und der Mensch mit der Figur Marke "Meat Loaf" saß am Gang, so daß wenigstens ein Platz zwischen uns frei war. Aber der Weg zur Toilette blieb mir - vor allem als der Herr laut vor sich hinschnarchte - hoffnungslos versperrt und selbst im wachen Zustand scheute ich davor zurück, auf die Toilette zu gehen, weil ich befürchtete, dieser Dreißigjährige würde die Anstrengung, sich aus seinem Sitz zu quälen nicht aushalten und schwer keuchend einen Herzinfarkt bekommen würde. Sein Bauch war so dick, daß er fast am Sitz des Vordermanns anstieß und als die Stewardessen das Essen austeilten, war es ihm nicht möglich das Tischchen vor sich herunterklappen, sondern er verwendete statt dessen das Tischchen von dem freien Platz zwischen uns. Eine halbe Stunde vor der Landung wurde es dann wirklich ekelig: er frönte der "Körperpflege". Mit seinen dicken, weißen Fingern öffnete er eine Flasche mit billigem Aftershave und schmierte es sich üppig in die fettigen, lichten, blonden Haare, die ohne ersichtlichen Schnitt um seinen dicken Kopf herum wuchsen und kämmte sich die Haare so zur Seite, daß es seiner Meinung nach "mehr" aussehen sollte. Dabei verströmte das Aftershave einen beißenden, widerlich süßlichen Duft und ich - keinen Meter von ihm entfernt - wäre am liebsten aus dem Flugzeug gesprungen.

Am liebsten wäre ich neben diesem chilenischen Chaoten-Ehepaar gesessen, das ich schon in Heathrow kennengelernt hatte - und mich dabei fast kaputtgelacht hätte. Die beiden unterhielten sich teils auf deutsch und teils auf spanisch und weil sie so wild mit den Händen sprachen fiel dem Ehemann ein Glas aus seiner Brille. Als er danach suchte, hätte er es fast zusammengetreten und lachte auch noch herzlich darüber. Schließlich beschloß die Frau, als sie in ihren Schminkspiegel sah, sie wolle lieber ein Mann werden, weil dann ihr Kajalstift nicht mehr verwischen würde, da sie sich nicht mehr schminken müßte, aber ihr Ehemann wehrte sich heftig gestikulierend dagegen schwul zu werden. Die beiden dachten zuerst, ich würde auch aus Chile kommen und eine Landsmännin sein, weil ich über ihre Witze lachte und sprachen mich auf spanisch an - nur hatten sie vergessen, daß sie den größten Teil ihrer Unterhaltung auf deutsch betrieben.

Als wir endlich glücklich in Santiago de Chile gelandet waren, suchte ich bei der Gepäckausgabe nach meinem Fahrrad, daß ich daheim sorgfältig in einem Karton eingepackt hatte. Ich fand es achtlos irgendwo mitten in der großen Halle liegen, der Karton war ziemlich zerfleddert, eine Ecke aufgerissen, anscheinend war er durchsucht worden. Der Gesamteindruck war dermaßen jämmerlich, das ich mich fast schämte, damit herumzulaufen. Ich hievte den Karton auf den Gepäckwagen, den ich mir vorher erkämpft hatte und mußte noch durch den Zoll - alles verlief problemlos. Da ich am Terminal 1 (International) angekommen war und am abend nach Puerto Montt weiterfliegen mußte, wollte ich mein Gepäck sofort zum Terminal 2 bringen und einchecken. Aber das war leichter gedacht als getan. Zunächst einmal mußte ich das Terminal 2 finden. Und in der unerwarteten Hitze den Gepäckwagen mit dem schrecklich schwankenden Fahrrad über die fast 30 cm hohen Bordsteine zu wuchten war kein Vergnügen. Teilweise mußte ich den unhandlichen Karton mit dem Fahrrad sogar tragen, weil zwei unmöglich geparkte Autos mir den Weg versperrten. Zu meiner Genugtuung wurden sie aber wenig später von der Polizei abgeschleppt. Aber schließlich klappte alles und ich kaufte mir dann an einem der Stände in dem mickrigen innerchilenischen Flughafen ein giftgrünes Getränk, von dem ich keine Ahnung hatte, was es war, aber es war herrlich kalt und schmeckte nach - Melonen?

Nachdem ich einige Zeit vor dem Internationalen Flughafen auf einer Bank gesessen und mir sehnlichst eine grüne Wiese zum Ausstrecken gewünscht hatte, entdeckte ich doch in der Ferne einen vor Hitze flimmernden Park, der mich mit seinem Schatten anlockte. Ich schwebte diesem Paradies entgegen, suchte mir ein schönes Plätzchen unter einem großen Baum auf der saftig grünen Wiese und hatte mich auch schon mit den fünf verflohten Hunden angefreundet, die hier hausten, als plötzlich ein Schwarm Mücken über mich herfiel und mich sofort versuchten auszusaugen, kaum das ich richtig saß. Ich habe noch nie eine Mückenart gesehen, die dermaßen wild darauf gewesen wäre, mich zu stechen und ich mußte regelrecht die Flucht ergreifen - bedauerlicherweise, obwohl ich es anfangs auf einen Kampf ankommen lassen wollte - seitdem prangerte auf meinem einzigen weißen T-Shirt eine ekelhafte Blutspur einer von mir erschlagenen Mücke. Also ging ich wieder zurück zur Flughafenhalle und versuchte es mir auf den harten Plastikstühlen so bequem wie nur möglich zu machen.

Wenn ich es nicht genau gewußt hätte, daß ich in Chile gelandet bin, hätte ich schwören können, ich wäre in Kalifornien - die Hügel, die gleichen Bäume, die gleichen Büsche, der blaue Himmel, die Straßen, die ganze Architektur so amerikanisch. Und die Taxis sehen aus wie die Polizeiautos aus einem Kojak-Krimi. Was ist das eigentlich hier für ein Flughafen? dachte ich mir. Es gab anscheinend keinen funktionierenden Lautsprecher, über dem die Flüge ausgerufen wurden, nein, das Ausrufen wurde wie folgt abgewickelt: Zunächst wurde unter großem Gekichere aus den Angestellten der Schalterhalle derjenige ausgewählt, der dann mit einer Flüstertüte bewaffnet die Ansagen auf die unmittelbar vor ihm aufgebauten Menschengruppen schreien sollte. Der Erwählte, ein junger Mann, schlich sich von hinten an eine Gruppe Wartender heran und fingt plötzlich und unerwartet an, seine Ansagen zu schreien, so daß die Gruppe zu Tode erschrocken auseinanderfuhr. Begleitet wurde das Geschehen von dem Gelächter der restlichen Angestellten.

Die Zeit schlich dahin und endlich, nach 8 Stunden des Wartens auf diesem recht uninteressanten Flughafen war es endlich soweit: Ich konnte in die kleine Maschine von Lan Chile steigen und endlich ging es los mit meiner letzten Etappe: den Flug nach Puerto Montt. Langsam ging die Sonne unter, die Wolken, die keine 5 Meter unter uns waren, färbten sich in ein atemberaubendes Rot, man konnte an wolkenfreien Stellen Flüsse erkennen, Hügel, Wälder. Nicht ohne eine gewisse Furcht vor der Herausforderung dachte ich daran, daß ich diese ganze Strecke mit dem Fahrrad fahren würde. Aber es beruhigte mich, die Gegend vorher wenigstens schon einmal gesehen zu haben. Die Nacht brach herein, ab und zu erkannte ich in der Dunkelheit einzelne Städte. Nach ungefähr einer Stunde waren wir am Ziel, unter uns funkelten die Lichter von Puerto Montt und das kleine Flugzeug begann mit seinem halsbrecherischen Landeanflug, der es mich bereuen ließ, kurz vorher zu Abend gegessen zu haben.

Nach dem Aussteigen war ich zunächst nicht im klaren darüber, wohin ich jetzt gehen mußte. Ich suchte das Flughafengebäude, fand aber nur eine Art Holzbarrake und weil alle anderen Fluggäste dorthin liefen, lief ich hinterher. Aufgeregt schaute ich durch die erleuchteten Fenster, ob ich Michael irgendwo entdecken konnte. Wir wollten uns am Flughafen in Puerto Montt treffen; er war schon 8 Wochen vorher nach Usuahia in Feuerland geflogen, die südlichste Stadt Südamerikas und hatte mit seiner Fahrradtour begonnen. Letzte Woche hatte er kurz angerufen und unseren Termin und Treffpunkt bestätigt - hoffentlich hatte alles geklappt und ich stehe nicht allein am Flughafen, dann muß Plan B anlaufen: Hotel suchen, daheim anrufen und auf Nachricht von Michael warten.

Und tatsächlich sah ich ihn - hinter den Glasscheiben in der Flughafenbar, mit einem Bier in der Hand und mit den Bardamen flirtend. Er war sonnengebräunt und sah herrlich entspannt und glücklich aus. So übel kann seine bisherige Tour also doch nicht gewesen sein. Ich lief auf die hell erleuchtete Tür dieser Holzbarrake zu und da stand er und freute sich, mich wiederzusehen. Während ich auf mein Gepäck wartete, drängte Michael zur Eile, weil er einen Kleinbus organisiert hatte, der uns mit nach Puerto Montt nehmen wollte. Wir hievten das Fahrrad oben auf den vollbesetzten Kleinbus und ab ging die Fahrt hinten, auf den letzten Plätzen, einem Abenteuer entgegen.

In den Straßen wimmelte es von Menschen, als wir am Busterminal in Puerto Montt ankamen. Michael schulterte den Karton mit dem Fahrrad und rannte los in Richtung Hotel, so daß ich große Mühe hatte, ihm mit den schweren und unhandlichen Fahrradtaschen zu folgen. Ich hatte Angst, ihn aus den Augen zu verlieren und mich hier zu verlaufen. Er war auch schon längst im Hotelzimmer und hatte es sich gemütlich gemacht, als ich schwer keuchend die Treppen hinaufkam. Wo war meine Kondition geblieben? Zum Abendbrot bot Michael mir das Gericht an, von dem er sich unterwegs hauptsächlich ernährt hatte: eine Blechpfanne voll Babybrei- und Milchpulver mit Zucker vermischt und nur ein wenig Wasser dazu, daß das ganze nicht zu flüssig wird, sondern ein wenig knusprig bleibt, darüber Manjar, eine Art Karamelcreme. Ein wenig angewidert aß ich es, ich wollte ja nicht als Weichling dastehen und war überrascht, das es gar nicht mal so schlecht schmeckte. Wir sahen uns noch ein paar Fotos von seiner bisherigen Tour an, die er im Laufe des Nachmittags entwickeln ließ und langsam fielen mir die Augen zu, denn ich hatte schon eine sehr lange Zeit nicht mehr geschlafen...

Puerto Montt, 06.04.1995

Der Regen beherrschte den Tag. Ich schlief sehr lange und wir bekamen gerade noch ein Frühstück im Hotel. Es gab getoastetes Weißbrot mit Butter und Marmelade, dazu Nescafé. Das Ritual um die Zubereitung des Kaffees beeindruckte mich: der Kellner kam herbei geeilt, hielt in den Händen jeweils eine Kanne voll heißem Wasser und warmer Milch und wartet mit strengem Blick, bis man eine angemessene Menge Nescafé in seine Tasse geschaufelt hatte. Dann fragte er, ob man den Café lieber con leche, oder mit Wasser will. Nach dem Frühstück nahm ich erst mal eine Dusche. Aus dem Fenster unseres Zimmers konnte man direkt auf einen Markt blicken, auf dem alles angeboten wurde, was man sich vorstellen kann, Fisch, Muscheln, Gemüse, Gummistiefel, alles wild durcheinander gewürfelt. Außerdem konnte man das Meer sehen und den dunkel wolkenverhangenen Himmel. Für heute hatte ich noch eine Schonfrist - ich durfte mich erst einmal von den Strapazen der Anreise ausruhen, bevor wir losradelten, außerdem brauchte ich noch eine Kartusche für meinen Gasbrenner, also gingen wir in die Stadt.

Hütte in Puerto Montt

Die Häuser waren größtenteils aus Holz gebaut, in der Luft hing der Geruch von verbranntem Holz, mit dem die Menschen hier ihre Häuser heizten. Anfangs war das Wetter noch in Ordnung gewesen, dann fing es aber an, heftig zu regnen. "Regenzeit" dachte ich mir, davon hatte ich viel gelesen. Der Süden Chiles, die Region mit dem meisten Niederschlag pro Quadratmeter im ganzen Land. Wie sollte das nur werden, immer im Regen? Ich bin noch nie im Regen Fahrrad gefahren, hatte aber alles notwendige dabei: Regenjacken, Regenhose, Gore-Tex-Stiefel, wasserdichte und zusätzlich imprägnierte Fahrradtaschen und viele wasserdichte Tüten, um meine Kleidung trocken zu halten. Aber so wie es hier schüttete, konnte Regen keinen Spaß machen, es kamen richtige Sturzbäche vom Himmel. Und es war kühl, hier war nichts mehr zu spüren von der Hitze Santiagos, eher war es wie bei uns im Spätsommer. Wir liefen durch die Straßen auf der Suche nach einem Campinggeschäft und ich mußte mich erst einmal daran gewöhnen, daß es keine Fußgängerampeln gab, sondern daß man sich nach den Ampeln für den Autoverkehr richten mußte, wenn man nicht überfahren werden wollte, denn die Autofahrer waren hier rücksichtslos.

Wir fanden einen kleinen Campingladen, der hatte auch eine Landkarte von der Umgebung Puerto Montts, die ich interessiert studierte. Wann mag nun mein großer erster Tag gekommen sein, der Tag der Wahrheit, ob all mein Training ausreichend war? Ein bißchen Angst hatte ich schon. Ich traute mich überhaupt nicht zu fragen und beäugte argwöhnisch den Regen draußen vor der Tür. Wir wechselten einen meiner Travellerschecks ein, damit unsere Reisekasse gerechter aufgefüllt war und gingen in ein kleines Restaurant zum Mittagessen, das aussah, als ob eine alte Oma bei der Einrichtung entscheidend beteiligt gewesen war. Den Nachmittag verbrachten wir im Hotelzimmer, während es draußen wie verrückt schüttete und abends holten wir uns ein Hähnchen und fettige Pommes aus einer Imbißbude. Leider schmeckte das alles ein wenig fischig, aber wenn man Hunger hat, ist das alles nicht so schlimm.

Puerto Montt, 07.04.1995

Heute kamen wir überhaupt nicht aus den Federn, das Frühstück verpaßten wir gnadenlos. Also war heute nicht der große Tag der Abreise, aber weil Michael genauso wie ich bis zum späten Vormittag döste, war das auch nicht weiter wild. Da uns die Leute an der Rezeption seit dem vorangegangen Vormittag nicht mehr gesehen hatten, klingelte das Telefon in abwechselten Abständen, einmal nahm ich ab und es legte am anderen Ende gleich wieder auf. Anscheinend wollten sie herausfinden, ob wir noch im Hotel wohnten oder schon abgereist waren.

Erst spät am Nachmittag verließen wir das Hotel, gingen ein wenig am Hafen spazieren, standen am Kai inmitten in einer Menge kichernder Teenager mit Schuluniformen, die sich dort trafen. Dort gab es auch einen riesigen Berg aus Holzspänen, kleingehackter chilenischer Regenwald, der darauf wartete, nach Europa oder Japan verschifft zu werden und ich fand das alles sehr schade. In einem kleinen Buchladen kaufen wir einen Chilenischen Reiseführer, der sich als sehr nützlich herausstellte, den TURISTEL, auf spanischer Sprache, in dem jedoch alle möglichen Strecken, Straßen und Orte beschrieben waren. Chile ist in 12 verschiedene Regionen eingeteilt, im Norden mit der Nr. 1 beginnend und im Süden mit der Nr. 12 endend. Und auch der TURISTEL war nach diesen Regionen aufgeteilt, wobei mehrere Regionen zusammengefaßt waren.

Es stand fest: Morgen war mein erster Tag auf dem Fahrrad, also mußte am Abend noch alles vorbereitet werden: Das Fahrrad aus dem Karton befreien und zusammenbauen, Fahrradtaschen richtig packen und Vorräte im Supermarkt einkaufen. Abends belohnten wir uns mit einer Pizza, der besten auf den nächsten 1000 Kilometern, wie es sich herausstellen sollte.

Puerto Varras, 08.04.1995

Als ich am Morgen aufwachte, war ich richtig aufgeregt. Mit den größten Befürchtungen zog ich vorsichtig die Vorhänge zurück und: ich blickte in eine dicke Regenwand!! Na gut, so sollte es wohl sein, mein erster Tag auf dem Fahrrad im Regen. Am liebsten hätte ich hier im warmen kuscheligen Hotelzimmer auf besseres Wetter gewartet, aber das Hotel war zu teuer für eine weitere Nacht und Michael langweilte sich schon. Naja, und zugegeben, die Sportlichste war ich nie und die Herausforderung deshalb um so größer, obwohl ich daheim kräftig trainiert hatte. Nach dem Frühstück packten wir die restlichen Utensilien in die Taschen, Michael brachte die Fahrräder auf die Straßen und befestigte das Gepäck daran, während ich vor Aufregung an die 10 mal auf die Toilette rannte, man wußte ja nicht, wo man die nächste fand.

Mißtrauisch beäugte ich mein vollbepacktes Fahrrad, am Vorderrad hatte Michael seinen Ersatzreifen eingeflochten, das sah etwas eigenartig aus. Ich kam mir unbeweglich vor mit dem Regenzeug am Körper, der Schirmmütze auf den Kopf und der Kapuze. Die Wanderstiefel waren schwer, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie noch nie zum Fahrradfahren getragen und außerdem bin ich noch nie mit Gepäck gefahren. So war es auch nichts ungewöhnliches, daß ich nach den ersten Metern wieder vom Fahrrad sprang, weil es so schrecklich wackelte und unkontrollierbar schien; außerdem mußte ich die Lenker- und Sattelhöhe korrigieren. Aber danach ging es los und ich fuhr tapfer im strömenden Regen zwischen den vielen Autos Michael hinterher, der eine Tankstelle anvisierte, wo er meine Reifen mit Luft füllen wollte.

Zugegeben, ich war es nicht gewohnt, im Straßenverkehr zu fahren; sonst hatte ich Fahrradwege bevorzugt. Die Autos sausten mit geringem Abstand an mir vorbei, wir waren bereits auf der Panamericana, als wir Puerto Montt verließen, dem berühmten südamerikanischen Highway. Ich quälte mich mit dem wackligen Fahrrad bergauf, hatte Angst vor den Autos und die Wanderstiefel zogen wie Blei an meinen Beinen. Es war mir zwar peinlich, aber nach einigen Meter saß ich vom Fahrrad ab und schob bergauf. Oben angekommen wurde es besser, die Strecke war jetzt flach und ging nur leicht bergauf. Die Vegetation war ungewöhnlich, am Straßenrand wucherten Bambus und andere fremdartige Gewächse.

Um meine Laune ein wenig zu erhellen, machte ich mir einen Spaß daraus durch Pfützen zu fahren, so daß das Wasser in einem weiten Bogen wegspritzte. Michael fuhr hinter mir, als es zum ersten bösen Zwischenfall kam: ich fuhr mal wieder mit Schwung durch eine Pfütze, die sich jedoch als gemeines tiefes Schlagloch herausstellte, mit Kies gefüllt. Ich konnte nicht bremsen und versuchte krampfhaft, auf dem Sattel zu bleiben, während die Autos dich an mir vorbeirasten - nur nicht herunterfallen, dachte ich mir, während mein Fahrrad hin- und hergeschüttelt wurde. Michael rief mir etwas zu, daß ich nicht verstand und als ich endlich zum stehen kam, fragte er mich entsetzt, warum ich denn nicht ausgewichen bin. Man lerne doch schon als kleines Kind, daß man nie kopfüber in unbekannte Gewässer springen solle. Zugegeben, ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vorstellungen über die Tiefe südamerikanischer Schlaglöcher.

Im Bambuswäldchen

Ein paar Kilometer später bekam ich auch die Quittung für dieses unüberlegte Abenteuer: mein erster Platten. Wir fuhren in eine Seitenstraße und flickten den Reifen. Ich stopfte einige Kekse in mich hinein, denn langsam bekam ich wieder Hunger und seit dem Frühstück waren ja auch schon einige Stunden vergangen. Ich begann auch zu frieren, weil meine Regensachen völlig durchnäßt waren und an der Haut kleben - ich hatte nur ein T-Shirt und die kurze Fahrradhose darunter und es sah nicht danach aus, als ob es heute noch zu regnen aufhören wollte. Im nächsten Ort machten wir Rast in einem kleinen Restaurant. Zitternd und dankbar setzte ich mich neben den warmen Bullerofen, wir bestellten ein Bier und als Mittagessen Lachs. Weil die Fische hier im Süden Chiles in Massen gefangen werden, gibt es sie in Restaurants immer frisch und zu einem Spottpreis. Es schmeckte alles so herrlich und es fiel mir schwer, weiterzufahren. Bevor ich wieder auf das Fahrrad stieg, zog ich unter dem immer noch nassen Regenzeug einen Pullover und eine Stretch-Hose an; jetzt fühlte ich mich wieder gut und so konnte ich meine Fahrt fortsetzen entlang der von Bambus zugewucherten Straßen.

Abends suchten wir unsere eine abgelegene Stelle in einem Bambuswäldchen, um das Zelt aufzubauen. Es war schön, die nassen Sachen endlich vom Körper zu bekommen und ich breitete sie so gut es ging über meine Fahrradtaschen aus, damit sie bis zum Morgen etwas trocknen. In der Nacht fror ich fürchterlich, so daß ich mich zusätzlich im Schlafsack mit trockener Kleidung zudeckte. Michael dagegen merkte überhaupt nichts von der Nässe und der Kälte und schlummerte friedlich in seinem Schlafsack.

Am Lago Llanqehue, 09.04.1995

Der Morgen war schrecklich: Draußen war es kühl und nebelig, die Regensachen waren noch feucht und kalt. Ohne Frühstück mußte ich mich in die Kleider quälen, so ein widerliches Gefühl auf der Haut kann man kaum beschreiben, als ob man die Haut eines toten Frosches überziehen müßte. Ich war jetzt völlig durchgefroren und ich konnte nicht behaupten, daß es mir sehr viel Spaß machte mich wieder auf das Fahrrad zu setzen und bis zum Abend in die Pedalen zu treten. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn es auf meiner ganzen Reise regnen würde und jeder Morgen so beginnen würde wie dieser und kam zu dem Schluß, daß ich es nicht lange aushalten könnte.

Frühstück am Lago Llanquehu

Müde schwang ich mich auf das Fahrrad und nachdem sich langsam der Nebel verzogen hatte, kam langsam die Sonne heraus. Nach ein paar Kilometern machten wir Rast an Lago Llanqehue, weil Michaels Fahrradachse eigenartig klapperte und er diesem Geräusch auf den Grund gehen wollte. Außerdem brauchte ich jetzt endlich mein Frühstück und vor allem meinen Kaffee, weil ich sonst ganz ungenießbar werden würde. Während Michael sein Fahrrad reparierte und ich darauf wartete, daß das aus dem See geschöpfte Kaffeewasser endlich kochte, spazierte ich am Kiesstrand entlang, um mich in den wenigen sonnenbeschienenen Stellen aufzuwärmen.

Nach dem Frühstück ging es weiter auf der noch asphaltierten Straße. Die Sonne schien zwischen den Schäfchenwolken vom Himmel, meine Sachen wurden endlich wieder trocken. Auf einmal sah ich kurz etwas zwischen den Bäumen hindurch spitzen und glaubte meinen Augen kaum : Ein riesiger schneebedeckter Berg erhob sich da. Das mußte der Vulkan Osorno sein! Die subtropische Vegetation war so dicht, daß man ihn erst einige Zeit später wieder sah, obwohl der Vulkan die mächtige Höhe von 2660 m hat.

Fahrt am Vulkan Osorno

Wir fuhren vorbei an Wasserfällen, die auf die Straße stürzten, neben uns rauschte der Lago Llanqehue und ab und zu schwirrte einer der vielen Kolibris direkt vor meiner Nase und dabei machte das kleine Vögelchen einen enormen Lärm. An einer Weggabelung machten wir Rast. Ich setzte mich am See in die Sonne, während Michael im nahen Dorf ein paar Koteletts, Zwiebeln, Brot und Bier für das Abendessen kaufte. Bei der Weggabelung bogen wir von der Asphaltstraße auf eine Schotterpiste in den Nationalpark ab, eine neue Erfahrung für mich. Nach einigen Metern Schottern warf es mich in einer Kurve vom Fahrrad, als plötzlich mein Vorderrad im schwarzen Vulkansand wegrutschte. Mit zittrigen und aufgeschlagenen Knien fuhr ich weiter.

Viele Chilenen unternahmen Ausflüge in den Nationalpark und hatten es sich zwischen den Büschen neben ihren Autos zum Picknick gemütlich gemacht. Auch wir machten eine Rast und pflückten im Schatten des Osornos Beeren, die säuerlich schmeckten und die Michael "Hurtas" nannte. Wir wußten, daß diese Beeren genießbar waren, weil sie auf dem Markt von Puerto Montt zum Verkauf angeboten wurden.

Gegen Abend versuchten wir am See einen Platz zum Zelten zu finden, da aber die Zugänge zum See vollständig eingezäunt waren, kamen wir nicht hinunter zum Strand. Die Landschaft war überwältigend, die Sonne ging unter und schließlich fanden wir ein uneingezäuntes Waldstück, das sehr abschüssig war. Uns blieb aber nichts anderes übrig, als dort das Zelt aufzubauen, denn es wurde schon dunkel. Ein eisiger Wind frischte vom See her auf und ich setzte mich dick eingepackt ganz nah an Michaels Benzinbrenner, auf dem die Koteletts mit den Zwiebeln und dem Bier brutzelten. Während wir aßen, funkelten die Sterne vom klaren Himmel, trotzdem zog ich mich bald in das Zelt zurück, um mich in meinen Schlafsack mit meiner Wärmflasche einzuwickeln, weil es mich entsetzlich fror.

Lago Llanqehue, 10.04.1995

Während der Nacht hatten wir die Schlafsäcke getauscht, weil Michaels Schlafsack wärmer gefüttert war und ihm Kälte sowieso wenig ausmacht. Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne und ich stand auf und erkundete das Wäldchen. Es gab viele Brombeerbüsche, an denen große, reife Beeren hingen und ich pflückte mir einige davon. Wir reparierten noch den Reisverschluß am Zelt, weil der schon etwas ausgerissen war. Jeder hatte eine Nadel mit Zwirn und flickte den ihm zugeteilten Teil, was amüsant war, weil wir uns gegenseitig im Weg waren.

Vulkan Osorno

Als wir endlich los wollten, kam der Besitzer des Wäldchen vorbei und fragte uns stolz, ob wir gut in seinem Wäldchen geschlafen hätten. Er erzählte uns, daß es in der Nacht auf dem Osorno geschneit hätte; deshalb war es wohl auch so entsetzlich kalt gewesen. Ich radelte schon mal los und kämpfte mit der Schotterpiste. Kuhlen, Schotter, Sandhaufen, dann mal wieder eine tiefe Pfütze und große Steine - ich hoffte, das ich mich schnell daran gewöhnte. Es fiel mir noch schwer, den Lenker festzuhalten, es schien mir fast, als ob ich mein Fahrrad nicht mehr unter Kontrolle habe. Manchmal drehte der Vorderreifen durch, wenn ich versuchte auf Sand loszufahren; dann mußte ich aufpassen, daß ich nicht vom Fahrrad fiel. Michael fand es lustig, wenn er mich fluchend hinter sich hörte.

Angeln am Lago Llanquehue

Nach einigen Kilometern fuhren wir an das Ufer des Lago Llanqehue. Wir breiteten die Isomatten am Strand aus und Michael suchte sich im Wald eine Schnecke und versuchte diese, auf einen Angelhaken aufzuspießen. Er hatte beobachtet, wie Chilenen eine Angelvorrichtung mithilfe einer Plastikflasche und einer Angelschnur aufbauten und erfolgreich damit Fische fingen. Er bastelte lange an dieser Vorrichtung herum und als sie endlich im Wasser war, wurde sie wenig später von den Wellen des Sees weggespült. Ich legte mich in die Sonne, vor mir brachen laut die Wellen des riesigen Sees, hinter mir, durch einen Eukalyptushain abgeschirmt, erhob sich wie über allen Dingen dieser Welt erhaben der Vulkan Osorno. Es war alles irgendwie spektakulär und schon fast unwirklich schön. Obwohl die Sonne schien, empfand ich das Klima als rauh und kalt. Wir unternahmen barfuß einen langen Spaziergang am Strand entlang und beschlossen, heute nicht mehr sehr viel weiter zu fahren, sondern irgendwo im Eukalyptushain unser Zelt aufzuschlagen.

Nachts machten wir mit einem toten Baum unter dem südlichen Sternenhimmel ein großes Lagerfeuer, das mich wärmte und warteten auf eine der vielen Sternschnuppen, um uns etwas zu wünschen.

El Paraíso, 11.04.1995

Heute stach die Sonne regelrecht vom Himmel. Es fror mich auch nicht mehr, sondern ich schwitzte auf dem Fahrrad, so daß ich meine kurzen Radlerhosen anzog. Auf der Strecke lag ein winzig kleines Dörfchen, in dem es einen Tante-Emma-Laden gab. Dort kauften wir einige frische Sachen ein und fragten den Besitzer, ob es auch einen Laden gab, in dem Brot verkauft wurde. Der Besitzer verneinte es. Als wir wieder aus dem Laden kamen, waren wir nicht mehr die einzigen Touristen in dem Ort. Eine 4-köpfige israelische Reisegruppe war mit einem Jeep unterwegs und machte gerade Pause. Auch sie waren auf der Suche nach einer Bäckerei und tatsächlich fanden wir eine, die sich fast neben dem Tante-Emma-Laden befand.

Ich machte mich schon mal weiter auf den Weg, während Michael das Brot kaufte, denn das geht in Chile nicht so schnell, wie man glaubt, vor allem nicht auf dem Land. Ich wollte unbedingt einen großen Vorsprung herausholen, also trat ich mächtig in die Pedalen, obwohl die Sonne vom Himmel brannte. In einer Kurve flog schließlich mein Schlafsack vom Fahrrad und rollte in das offene Tor eines Anwesens hinein, so daß ich anhalten mußte, um den Schlafsack wieder einzusammeln. Die Schotterpiste war feucht, so daß ich ziemlich schnell voran kam und bald schon stand ich völlig allein auf weiter Flur inmitten von großen Feldern. Ich konnte den Osorno sehen und am Horizont tauchten die schneebedeckten Anden auf. An einer Weggabelung blieb ich stehen und wartete schließlich auf Michael, weil ich nicht wußte, welchen Weg ich nehmen sollte.

Ein großer, teurer Wagen fuhr an mir vorbei, hielt an und fuhr wieder zurück, um neben mir stehenzubleiben. Die Beifahrerin sprach mich auf spanisch an und ich sagte ihr auf deutsch und auf englisch, daß ich sie nicht verstehen könnte, weil ich kein Spanisch spreche. Ich dachte, sie fragen mich nach dem Weg. "Nicht verstehen?" wiederholte die Frau begeistert und erzählte mir auf Deutsch, das sie aus Deutschland ausgewandert wäre und fragte mich, ob ich Hilfe bräuchte. Ich sagte ihr, daß wir zu zweit unterwegs sind und ich hier nur warte. Außerdem fragte ich, welcher Weg nach Entre Lagos führte, aber da waren sich die beiden auch nicht so sicher.

Endlich kam Michael angeradelt und wir bogen rechts in eine noch kleinere und noch miesere Schotterstraße ab. Ich kämpfte mich über die großen Kieselsteine und als wir an einem Bauernhof vorbei kamen, wollten uns die dort hausenden Hunde anfallen. Es kamen an die fünf Köter laut kläffend angerannt und wollten uns in die Waden beißen. Michael zog das Abwehrspray aus der Lenkertasche und verteidigte unsere Reifen und Waden, während ich mit meinem Fahrrad im Schotter ausrutschte. Jetzt hatte ich auch noch einen Platten, den wir unter dem Gekläffe der Hunde flicken mußten. Ich schob dann mein Fahrrad aus der Sichtweite der Hunde um weiter auf dem Schotter Entre Lagos entgegenzuwackeln.

Heute keine Fotos bitte!!!

Insgeheim wünschte ich mir eine Dusche und ein weiches Bett. Meine Haare waren staubig und ich war völlig verschwitzt. Aber auf dieser Straße kam ich nicht richtig voran, sondern mußte immer wieder vom Fahrrad steigen und schieben. Auf der Karte war ein kleiner Ort namens El Paraíso eingezeichnet, in dem es ein Hotel geben sollte. Dort wollte ich unbedingt hin. Mittlerweile hatte ich auch noch einen Sonnenbrand auf der Nase, weil ich vergessen hatte, mich einzucremen.

Die Sonne stand schon tief, als wir El Paraíso erreichten, aber von einem Hotel war keine Spur, nur Angler, die von einer Brücke aus in einem Fluß Fische fingen. Obwohl es jetzt schon dunkel wurde fuhren wir weiter und nach ein paar Kilometern erreichten wir auch das eingezeichnete Hotel, daß sich als unbezahlbarer Touristenpalast entpuppte. Also blieb mir nichts anderes übrig, als mein Fahrrad immer weiter in die Nacht hinein zu schieben, bis wir endlich auf einer Koppel, die offen stand, unser Zelt aufschlugen und zum Abendbrot noch einige Kekse knabberten.

Entre Lagos, 12.04.1995

Als ich am Nachmittag endlich frisch geduscht war und der Staub und Dreck endlich im Abguß verschwunden waren, fühlte ich mich wie neu geboren. Doch bis dahin war es ein langer Weg gewesen. Am Morgen hatten wir auf der Weide neben der Koppel gefrühstückt. Wir saßen dabei in den natürlichen überresten eines mächtigen Baumes, der so geformt war, daß man einen Sitzplatz hatte und einen Platz für das Geschirr. Plötzlich tauchte ein berittener Gaucho mit einer Kuh und einem kleinen Kälbchen auf, die beide brav neben ihm her trabten. Er ignorierte uns aber geschickt, obwohl er uns gesehen haben mußte und schloß einfach das Tor zur Weide ab. Wir mußten uns dann umständlich durch den Stacheldraht wieder nach draußen kämpfen; zum Glück standen unsere Fahrräder draußen auf der Straße.

Ich schob das Fahrrad 7 Kilometer über tiefen Schotter nach Entre Lagos. Michael schob solidarisch neben mir her. Meine Laune wurde immer besser, je näher die Stadt kam. Die Straße war von hügeligen Kuhweiden eingesäumt, es sah so aus wie im Allgäu. Endlich erreichten wir Entre Lagos und nach einigem Suchen fanden wir eine Unterkunft mit Namen "La Panorama" bei einer netten alten Frau. Der Name war gut gewählt, weil man direkt auf den See blicken konnte, dahinter lagen die Berge. Wir bekamen eines der beiden kleinen Hüttchen, in der es ein Stockbett und noch zwei weitere Betten gab; außerdem gab es eine eigene Dusche und ein eigenes WC. Für uns beide kostete das nur 10.- DM. Bevor man duschen konnte, mußte man die alte Dame bitten, das Gas anzustellen, damit man warmes Wasser hatte und man sollte ihr sagen, wenn man zuende geduscht hatte, damit sie das Gas wieder abstellen konnte.

Bei der alten Dame wohnten auch zwei Hunde, ein großer frecher Mischling und ein junger magerer Welpe, der sich noch nicht auf den Beinen halten konnte. Obwohl Michael ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Hunden hat, war der Mischling sofort begeistert von ihm. Michael warf Steine in den See, die der Hund wieder herausholte und zurückbrachte. Er hoffte wohl insgeheim, das sich der Hund in dem eisigen Wasser eine Lungenentzündung holen würde...

Waschtag

Nach dem Duschen wuschen wir unsere Wäsche in einem ausgedienten Schmieröl-Behälter, den uns die Besitzerin zur Verfügung stellte. Es machte richtig Spaß, so in der warmen Sonne herumzuplanschen, während uns die Hunde dabei beobachteten. Michael und die alte Dame hingen laut schwätzend die Wäsche an einer Wäscheleine im Garten auf.

Nach einem kleinen Mittagsschläfchen gingen wir in das Dorf. An einem Restaurant hing ein Plakat, darauf wurde ein "Completo" angeboten. Neugierig gingen wir in das Restaurant, bestellten dann aber doch das Mittagsmenü, eine Hühnersuppe, weil uns das Completo wie ein belegtes Brötchen beschrieben wurde. Ich spielte noch ein bißchen mit den Hunden und abends gingen wir in dem Dorf aus, so gut es eben ging. Der Hund war schrecklich enttäuscht, als wir uns schlafen legten und scharrte noch eine zeitlang an der Tür.

Osorno, 13.04.1995

Beim ersten Blick aus dem Fenster erkannte ich, daß uns das schlechte Wetter eingeholt hatte. Draußen erwartete uns dichter, unfreundlicher Nebel. Die alte Dame brachte uns ein großes Frühstück mit Brötchen, Wurst, Marmelade, Kaffee und Tee ans Bett und entschuldigte sich, daß es keine Milch gab, aber der Milchmann sei noch nicht da gewesen. Ich war richtig entzückt über soviel Gastfreundschaft.

Leider war unsere Wäsche noch - oder schon wieder - feucht, als wir sie von der Leine nahmen, aber wir wollten weiter und packten sie in die Fahrradtaschen. Weil ich von der Schotterpiste die Nase voll hatte, beschlossen wir - bzw. setzte ich durch -von Entre Lagos aus auf eine geteerte Nebenstraße in Richtung der Stadt Osorno zu fahren. Der Hund lief uns noch einige Zeit hinterher und schaute traurig, als wir das Dorf verließen. Die Reifen meines Mountain-Bikes schnurrten regelrecht, als sie wieder über Asphalt fahren durften. Leider begleiteten uns jetzt auch wieder viele Autos, die im geringen Abstand an uns vorbei fuhren; hier gab es wohl nicht die Regelung, mindestens 1,5 m Abstand von einem Fahrrad zu halten. Man mußte froh sein, wenn man nicht vom Außenspiegel gestreift wurde. Nachdem wir die Stadt Osorno erreicht hatten, bogen wir wieder auf die Panamericana ab und es gab immer mehr Autos und jetzt auch LKWs, die an uns vorbeisausten. Mit Angst im Magen strampelte ich auf dem Seitenstreifen der Panamericana die Berge hoch, die es laut einem deutschen Reiseführer überhaupt nicht geben sollte.

Es war schwer, einen Platz zum Zelten zu finden, da fast alles eingezäunt war und die Stellen, die nicht eingezäunt waren, als Müllhalde verwendet wurden. Fragte man jemanden, ob man auf seiner Wiese zelten durfte, wurde man weitergeschickt, weil der Gefragte war nur ein Angestellter des "Señors" und der würde es nicht erlauben, das jemand auf seiner Wiese zeltete, auch wenn die Wiese nur eine Kuhweide war. Nachdem wir einige Male abgewiesen wurden, täuschte ich einen Schwächeanfall vor, wobei ich nach all den Steigungen gar nicht mal so viel schauspielerisches Geschick brauchte, weil ich wirklich entkräftet war, so das der Pächter schließlich doch ein Einsehen hatte und uns erlaubte, daß Zelt auf einer Kuhweide nahe der Straße aufzubauen. Wir kochten unser Abendessen vor dem Zelt und genossen die warme und schon fast schwüle Nacht auf dieser schönen Wiese mit dem kleinen gurgelnden Bächlein.

Paillaco, 14.04.1995

Am nächsten Morgen sammelten wir alle noch so kleinen Fetzen Abfall zusammen, damit sich unser Gastgeber nicht über uns beschweren konnte. Es erwartete mich eine Horrorfahrt auf der Panamericana, 55 Kilometer Todesangst. Zwar fehlten die Holzkreuze der Toten, die die Straße von Entre Lagos nach Osorno säumten, aber ich glaube auf dieser "Traumstraße" lassen sehr viele Menschen und Tiere ihr Leben. Ich sah tote Hunde mit abgefetzten Beinen, tote Katzen, Vögel, Eulen, jede Art von Tier war entlang der Panamericana zu sehen. Ich bekam Panik, wenn ich mit ansehen mußte, wenn einer der vielen Lkw's übertrieben nah an Michael vorbeirauschten. Die Hügel auf der Panamericana waren immer noch steil, aber im Vergleich zum Vortag ging es schon besser. Ein Hügel hat mich an San Francisco erinnert: Bis zum Scheitelpunkt hatte er drei Stufen und die bin ich tapfer hochgeradelt, ohne zu schieben. Zur Strafe hatte ich am Abend Knieschmerzen. Eine einheimische Radlergruppe rauschte mit ihren leichten Rennrädern an uns vorbei und grüßte nicht einmal zurück.

Ich war froh, bei diesem lästigen Nieselregen endlich in Paillaco anzukommen, der Seitenstreifen der Panamericana war nämlich plötzlich nicht mehr befahrbar gewesen und auch die Straße war in einem erbärmlichen Zustand, es klafften tiefe Risse in ihr, über die man nicht fahren konnte. Paillaco selbst ist ein sehr ärmliches Dorf, daß man trotz der Ausschilderung kaum findet. Es macht den Eindruck einer Wildwest-Hüttenstadt. Heute war Karfreitag und in den Gassen war nur wenig los. Nach längerem Suchen fanden wir eine Unterkunft bei einer sehr ärmlichen Familie in einem Haus (La casa amarilla), daß fast zusammenbrach, wenn jemand die Tür zuschlug. Um in unser Zimmer unter dem Dachboden zu gelangen, das normalerweise von Saisonarbeitern belegt war, mußte man im dunklen geduckt über eine steile, schmale Holzstiege klettern. Die Wände haben Löcher und man hört jedes noch so leise Husten von unten. Auch der Besuch des Badezimmers war das reinste Abenteuer: es besteht weitestgehend aus Pappe, in der Kloschüssel schwimmt irgend etwas undefinierbares, daß sich nicht wegspülen läßt und die Tür klafft soweit auf, daß man bequem vom Klo aus in die Wohnstube schauen und auch locker am Gespräch teilnehmen kann. Die Dusche ist an und für sich lebensgefährlich: Ein Apparat aus Plastik hängt an wirren Kabeln von der Decke herab. Um die Dusche anzustellen, muß man einen Hebel an diesem Apparat betätigen. Dann, wenn man schon ganz naß von dem eiskalten Wasser ist, muß man noch geschickt an dem Apparat herumdrehen, damit das Wasser wenigstens lauwarm wird. Natürlich muß man aufpassen, daß man nicht mit den nassen Fingern an eines der losen und stromführenden Kabel kommt, denn mit den Füßen steht man ja im Wasser, daß sich weigert durch den verstopfen Abfluß zu fließen.

Aber die Leute sind trotzdem sehr fröhlich. Der Sohn der Familie spielte den ganzen Nachmittag und auch Abend über bis in die späte Nacht hinein mit seinem Nintendo, während der Rest der Familie in der Wohnstube saß und darauf wartete, endlich Fernsehen schauen zu dürfen. Sie unterhielten sich interessiert mit uns und gaben uns Ratschläge, wo wir am besten ein Restaurant finden würden. Es war schon dunkel, als wir uns auf den Weg machten und zunächst kauften wir eine Cola, Chips und ein paar Weintrauben in einem kleinen Laden ein. Die Geschäfte wollten nämlich schließen, weil sich das Dorf zu einem Karfreitagsumzug sammelt. Wir verfolgten diesen Zug, der vom Pfarrer und einem leisen Gitarrenspieler angeführt wurde und eher einer Demonstration ähnelte in der Hoffnung, daß die Geschäfte und Restaurants nach dem Umzug wieder öffneten. Aber das war leider nicht der Fall. Hungrig kehrten wir zu unserer Unterkunft zurück und die Familie kochte für uns ein wenig Fisch und Kartoffeln.

Paillaco, Valdivia, 15.04.1995

Die Nacht in dem "Gelben Haus" war abenteuerlich. Aus Furcht vor den Flöhen der Saisonarbeiter schliefen wir lieber in unseren Schlafsäcken im Bett. Im Laufe der Nacht hörte man ein undefinierbares Knabbern aus der schrägen Holzdecke und nach einiger überlegung kamen wir zu dem Schluß, das es sich entweder um Mäuse oder um Ratten handeln mußte, die sich einen Weg durch das Haus bahnten. Aber nach einiger Zeit beruhigte ich mich und schlief tief und fest.

Singende Radler

Am nächsten Morgen hatte ich immer noch Schmerzen im Knie und handelte einen Ruhetag aus. Um 10 Uhr sind wir dann für 1,80 DM in den Bus nach Valdivia gestiegen, die Stadt mit Flair, wie sie der TURISTEL beschreibt. Michael wollte unbedingt eine Marzipanfabrik besuchen, die aber tragischerweise vor kurzem abgebrannt war, wie es sich vor Ort herausstellte. Am Hafen beobachteten wir eine Gruppe von ungefähr 20 Radfahrer mit weißen Legionärskappen auf dem Kopf und Musikinstrumenten, die sich vor einem Gebäude aufstellten und einige Lieder zum besten gaben. Sinn und Zweck dieser Veranstaltung haben wir jedoch nie herausgefunden.

Da am Ostersamstag nur wenige Geschäfte geöffnet hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als einen Fisch- und Krimskramsladen zu besuchen. Die Stadt war wirklich sehr schön und besaß einen nostalgisch wirkenden Park. In der Stadtmitte fanden wir eine Handelsniederlassung des FAG Kugelfischer, einer Firma, die in Schweinfurt ansässig ist. Wir drückten unsere Nasen an der Fensterscheibe platt und erkannten, daß auf jeder Packung ganz klein "Schweinfurt" stand. Weil Michael seine Diplomarbeit bei dieser Firma geschrieben hatte, stand er für wenigstens eine halbe Stunde vor dem geschlossenen Laden und konnte sich fast nicht losreißen von seinen Kugellagern.

Der letzte Bus zurück nach Paillaco ging um 20 Uhr, also setzten wir uns in ein Café mit dem Namen "Paula". Auf chilenisch heißt Kuchen "Kuchen" und den aß ich dort auch. Außerdem dröhnte "Metallica" aus den Boxen, obwohl in dem Café zum größtenteil nur ältere Damen saßen. Uns war es recht und wir moschten ein wenig zur Musik, während wir ein paar Postkarten in die Heimat schrieben. In der Dunkelheit raste dann der Bus zurück nach Paillaco und nachts hörte ich wieder Nager über meinem Kopf knabbern, aber man gewöhnt sich ja eigentlich an alles.

Fundo Champulli, 16.04.1995

Weil wir in Richtung Panguipulli wollten und noch 29 Kilometer Panamericana zu fahren wären, entschloß ich mich, weil mir mein Leben doch sehr lieb war, lieber das Stück mit dem Bus zu fahren und mich in Los Lagos mit Michael zu treffen. Michael möchte jeden Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegen, ansonsten wäre es ja unsportlich, wie er es ausdrückte. Er brachte mich aber noch zum Bus, legte mein Fahrrad auseinander und verstaute es im Gepäckraum, bevor er losradelte Dem Schaffner sagte ich dann, daß ich zum"Terminal de Busses" in Los Lagos wollte und bezahlte den Fahrpreis, verstand aber überhaupt nicht, was er zu mir sagte und hoffte inständig, daß ich auch wirklich am Treffpunkt rauskomme. In Los Lagos angekommen verstand ich dann auch, daß der Schaffner mir nur sagen wollte, daß es dort keinen Busbahnhof gibt, denn es handelte sich um ein sehr kleines Dorf, das lediglich eine Haltestelle besitzt.

Michael beim Beerenpflücken

Nachdem ich in Los Lagos ausgestiegen war, mußte ich zunächst unter den unangenehm musternden Blicken der Dorfbewohner mein Fahrrad zusammenbauen. Ich war froh, als Michael ein paar Minuten später angeradelt kam. Obwohl es mir an diesem Tag nicht so gut ging und mir es etwas schwindlig war, machten wir uns auf nach Panguipulli. Vor der ersten Steigung auf der ansonsten recht flachen Strecke schlug ich mich noch mal in die Büsche und entdecke dort viele Sträucher mit den kleinen, wohlschmeckenden Hurtas und wir beschlossen, erst mal einige von den Beeren zu sammeln. Aber wir waren nicht alleine. überall entdeckten wir chilenische Familien, die auch Beeren sammelten, außerdem kamen viele Chilenen mit Jeeps angefahren und wollen auch sammeln, so daß es bald ein richtiger Volksauflauf zwischen den Büschen herrschte. Wir vermuteten, daß es wohl irgendeine chilenischer Ritus sein mußte, am Ostersonntag Hurtas pflücken zu gehen. Außerdem war es wohl weit und breit das einzige nicht eingezäunte Stückchen Land.

Später, als wir den breiten Fluß "Calle Calle" überquerten, wurden wir Zeugen eines doch sehr erschütternden Ereignisses, einem Osterausflug auf chilenische Art: Ein altes Taxi kam angefahren. Aus ihm stieg der Taxifahrer mitsamt seiner Familie aus und warfen leere Kisten und Müllsäcke in die wundervolle Naturlandschaft. Die Frau ärgerte sich darüber, daß einer ihrer Müllbeutel den herrlichen Anblick der Natur stört und wirft ihn noch tiefer in den Wald hinein. Danach blickten alle versonnen in die Landschaft hinein und genossen die frische Luft, bevor sie wieder in den Wagen stiegen und wegtuckerten.

Wir fuhren weiter, aber nach der Brücke wurden die Hügel immer steiler, ich wurde immer müder und wir begannen, einen geeigneten Schlafplatz zu suchen. Alles war eingezäunt, es gab keine freie Wiese, man kam überhaupt nicht von der Straße runter und irgendwann gab ich schon fast die Hoffnung auf, einen Platz zum zelten zu finden, als wir eine sehr ärmlich aussehende Frau fragten, ob wir in ihrem Garten zelten dürften, der mehr wie eine Müllhalde aussah. Die erzählte uns jedoch wieder die altgekannte Geschichte, daß sie nicht die Befugnis hätte, uns dies zu erlauben, ihr gehöre der Garten nicht, wir sollten zwei Häuser weiter um Erlaubnis fragen. Wir fragten dort einen Mann, der zu uns erzählte, die Señora wäre da und wir sollen warten, sie käme gleich. Also warteten wir auf die Besitzerin und als diese kam, fragten wir ganz artig, ob wir unten auf der Kuhweide zelten dürften, was uns aber energisch untersagt wurde: Die Señora lud uns stattdessen ein, in ihrem Gästezimmer zu übernachten. Außerdem sollten wir uns mit dem Duschen beeilen, damit wir rechtzeitig zum Abendbrot fertig wären. Ich wußte überhaupt nicht, wie mir geschah. Das Haus war wirklich traumhaft eingerichtet: alles mit glänzendem Holz verkleidet, Parkettboden und die Einrichtung zeugte von sehr gutem Geschmack. Ein Hausangestellter trug meine Sachen in das Gästezimmer, in dem es zwei edle Holzbetten gab. Aus dem Fenster konnte man in den gepflegten Garten blicken und ich versuchte, mich einigermaßen gut zu kleiden und angelte die verknitterten schwarzen Bermudahosen aus der Fahrradtasche und zog meine schwarzen Strumpfhosen dazu an. Im Kreise der Familie aßen wir an einem großen Tisch zu abend, neben uns saß jemand, der sogar ein wenig deutsch sprach. Die Familie war eigentlich französischer Abstammung und die Señora schon seit langer Zeit Witwe, nachdem ihr Mann mit einem Flugzeug abgestürzt war.

Als wir später in den weichen Betten lagen lachten wir darüber, daß wir fast so blöd gewesen waren und inmitten von Dornen keine 500 Meter von hier zelten wollten. Man sollte sich häufiger bis ganz oben durchfragen.

Panguipulli, 17.04.1995

Dieser Tag war einer der lustigsten Tage auf meiner Reise. Nach der gut durchschlafenen Nacht in dem wundervollen Haus der Familie Champulli, packten wir früh am Morgen und wollten nach Panguipulli aufbrechen und planten, unterwegs zu frühstücken. Aber die Señora fing uns ab und lud uns wie selbstverständlich zu einem Frühstück mit allem drum und dran ein und hielt noch ein kleines Schwätzchen mit uns. Zum Abschied schenkte sie uns noch einen Beutel mit "Limonenäpfel" aus ihrem Garten und wünschte uns viel Glück auf unserer weiteren Reise.

Es regnete an diesem Tag sehr stark, so daß ich mich fest in das Regenzeug wickelte, bevor ich mich aufs Fahrrad schwang. Mir lief der Regen das Gesicht herunter, so als ob ich unter der Dusche stand. Trotzdem konnte der Regen meiner guten Laune nichts anhaben und die 27 Kilometer bis Panguipulli waren im Nu geschafft, zum Schluß war ich aber völlig durchnäßt und fror ganz jämmerlich. Ein Erlebnis der besonderen Art war hatten wir während einer Rast, als wir geschützt vom Regen in einem Bretterverschlag standen und Honigbrote schmierten. Ein alter, ziemlich übel angezogener Mann sprach uns an, aber Michael verstand kein Wort von dem, was er sagte. Er deutete immer wieder auf seinen Mund und wir dachten, er hätte Hunger. Also boten wir ihm ein Honigbrot an. Er schüttelte den Kopf und deutete immer noch auf seinen Mund. Beim näheren Betrachten stellten wir fest, das er total kaputte Zähne hatte und irgendwie sein halber Kiefer komisch herumhing - wir wußten aber nicht, wie wir ihm helfen sollten, vor allem, weil wir ihn überhaupt nicht verstanden.

In Panquipulli angekommen fanden wir auch schnell eine saubere und billige Unterkunft, in der ich mich unter der heißen Dusche aufwärmen konnte. Die Zeit in diesem Ort wird mir unvergeßlich bleiben, es fing schon damit an, als wir im Supermarkt eine große Flasche Bier kaufen wollten. Die Kassiererin wies uns darauf hin, daß wir das Bier nicht kaufen könnten, wenn wir nicht eine leere Flasche Bier dafür bringen. Aber wie sollte man an eine leere Flasche kommen, wenn man keine kaufen könnte, um diese dann auszutrinken? Wir kamen dann zu der Schlußfolgerung, daß man entweder eine Flasche Bier von den Eltern zum 18. Geburtstag geschenkt bekommt oder man muß sich seine erste Flasche ganz einfach klauen. Wir nahmen dann statt dessen Bier in kleinen Wegwerf-Flaschen. Und wir schleppten noch eine Menge anderer Leckereien aus dem Supermarkt hinaus, denn nach einem so verregneten Tag, da hatte ich es mir verdient.

Je länger wir im Zimmer saßen, desto eigenartiger erschien uns diese Herberge. Betätigte jemand die Toilettenspülung, dann erbebte das ganze Haus, so als ob es zusammenbrechen wollte. Irgendwo in einem Raum neben uns piepste unaufhörlich ein lauter Wecker, der schon gepiepst hatte, als wir in das Zimmer gezogen sind. Und immer wenn jemand die Treppen hochgelaufen kam, vibrierte der Spiegel so stark, als ob er gleich hinunterfallen würde. Nach einer weiteren halben Stunde ging Michael auf die Suche nach dem Geisterwecker, denn es gab eigentlich keinen Raum mehr neben uns. Wir kamen darauf, daß der Wecker im Nachbarhaus stehen muß und fast schon zur Verzweiflung entnervt rannte Michael ständig zum Nachbarhaus und klopfte an Tür und Fenster, doch niemand zeigte sich, niemand öffnete, obwohl das Licht brannte. Doch der Wecker mußte ausgeschalten werden, denn bei dem nervtötenden Geräusch war an Schlafen nicht zu denken.

Schließlich ging ich auch einmal zum Nachbarhaus und wollte dem Drama ein Ende bereiten - und das ohne Spanischkenntnisse. Zuvor lernte ich aber schnell noch einige Vokabeln wie Uhr und Lärm und erreichte durch aggressives Rütteln am Fenster, daß sich zumindest jemand zeigte. Eine heruntergekommene Frau in mittleren Jahren kam zur Tür, die eine rote Baumwollstrickstrumpfhose trug, die ihr viel zu lang war und ca. 20 cm davon hinter sich herschleifte. Diese schien mir zu sagen, ich sollte nicht mehr an dem Fenster rütteln, weil es sonst kaputtginge. Sie erzählte mir weiter etwas auf Spanisch und ich erzählte ihr was von"reloj" und"dormir" usw. aber sie schüttelte nur den Kopf. Ich holte Michael zu Hilfe und es stellte sich heraus, daß sie sich nicht traute, in das Zimmer des"Chico", also des Sohns oder Enkels, zu gehen, der angeblich arbeitete und erst spät wieder nach Hause kam. Nachdem wir nicht nachgaben, hatte die verwirrte Frau sich wohl doch ein Herz gefaßt und ist in das Zimmer des Chicos gegangen und hatte seinen Wecker abgestellt, denn es war plötzlich ganz still.

Mit dem Schlafen haben wir dann doch noch bis nach Mitternacht gewartet, weil wir mit dem Einweg-Bier auf meinen Geburtstag anstoßen wollten. Bei Kerzenlicht bin ich dann aber doch wenig später eingeschlafen.

Panguipulli, 18.04.1995

An meinem Geburtstag sind wir erst gegen Nachmittag aufgestanden und dann einen kleinen Spaziergang zum See unternommen und haben Doppelregenbögen bewundert, die sich vor den bedrohlich aufragenden Bergen abzeichneten, die in noch bedrohlicheren Regenwolken gehüllt waren. Wir planten, am nächsten Tag durch den Nationalpark Villarica zu radeln, bis nach Pucón. Für die anspruchsvolle Strecke haben wir 3 bis 4 Tage veranschlagt (100 km Schotter- und Erdpiste) und mußten entsprechend viel Proviant einkaufen.

Unsere Ausrüstung hatte bereits gelitten und wir waren auf der Suche nach einer neuen Taschenlampe. Wir gingen in ein Geschäft, in dessen Auslage kleine Taschenlampen ausgestellt waren und fragten den Verkäufer danach. Der griff in das Regal hinter sich, vorbei an den kleinen Stabtaschenlampen und zeigte uns seine größte Lampe, obwohl wir extra nach den kleinen gefragt hatten. Auf die Frage, ob er nicht kleinere hätte, sagte er mit einem entsetzten Unterton"Nein!". Da war nichts mehr auszurichten, dachten wir uns und gingen weiter in ein anderes Geschäft, in dem wir besser bedient wurden. Die Suche nach einer neuen Luftmatratze für mich blieb vergeblich, wir mußten dann halt noch mal versuchen das Loch zu finden und es zu stopfen. Die Wäsche, die wir Tage zuvor in Entre Lagos gewaschen hatten, ist bis heute nicht richtig trocken geworden und moderte schon vor sich hin. Nur mit überwindung konnte ich die Sachen anziehen und bestand darauf, daß wir die Wäsche in eine Wäscherei brachten, bevor ich noch weitere fünf Tage den Modergeruch ertragen mußte.

Am Abend gingen wir noch mal in die Stadt. Als wir an der Wechselstube vorbei liefen, kam die Angestellte herausgeschossen und zerrte mich hinein. Sie bräuchte noch eine Kopie des Reisepasses von mir. Ich war verblüfft, weil sie meinen Reisepaß bereits am Vortag kopiert hatte, als ich einen meiner Travellerschecks einlöste. Als Beweis wollte sie mir den Scheck zeigen und - schwupps, da grinste mich ja auch schon mein eigenes Konterfei von der Kopie meines Reisepasses an. Der Geldwechslerin war das sehr peinlich und mußte zugeben, daß sie mich wohl mit einer englischen Touristin verwechselt hätte, die sich auch hier im Ort aufhält.

Als unsere Mägen knurrten, gingen wir in ein Restaurant, auf dessen Schild geschrieben stand :"Restaurant y Schopperia ". Kurz nachdem wir uns hingesetzt hatten, bestellten wir gleich ein großes Bier, das auch prompt kam. Auf die Frage jedoch, ob wir die Speisekarte sehen könnten, bekamen wir zur Antwort, daß es hier nichts zu essen gäbe. Das Wort"Restaurant" auf dem Schild hätte nichts zu bedeuten.

Also gingen wir in das nächste Restaurant. Wir saßen kaum und warteten darauf, endlich unsere Bestellung aufzugeben, da wurde uns gesagt, das wir umbestellen müßten, weil die Hamburger ausgegangen wären. Wir wurden erneut mit den englischen Touristen verwechselt, die auch in dem Restaurant saßen und überhaupt keine ähnlichkeit mit uns hatten, weder von der Haarfarbe her, noch von der Statur, aber was soll's. Nachdem wir das Mißverständnis aufgeklärt hatten, bestellten wir"Lomo" und guckten gespannt auf den Fernseher, der traditionell in jeder noch so kleinen Bar und Restaurant hängt und eigentlich immer sehr nervtötend ist. Es lief jedoch ein Film mit Madonna, den ich kurze Zeit zuvor in Deutschland gesehen hatte. Aber immer, wenn ich zu Michael sagte, daß es jetzt interessant werden würde, war die Szene einfach herausgeschnitten. Es blieb nichts weiter übrig, als eine langweilige Gerichtsverhandlung und ein schüchterner Kuß.

Lago Calafquen, 19.04.1995

Lago Calafquen mit Blick auf den Vulkan Villarica

Nachdem Michael unsere Wäsche von der Wäscherei geholt hatte, sind wir in Richtung Pucón aufgebrochen. Nach gerade mal 9 km Schotterpiste machten wir eine kleine Pause am Straßenrand. Gerade hatte mir Michael erzählt, daß es gut sein könnte, daß wir in dieser Gegend irgendwann auch mal auf andere Fahrradtouristen treffen würden und daß es in dieser Gegend - im Gegensatz zu Mitteleuropa - immer noch zum guten Ton gehört, ein Pläuschchen zu halten, da erkannte ich keine fünf Minuten später einen Radfahrer, der sich vollbepackt mit dem Fahrrad auf der Schotterpiste abmühte. Michael kannte ihn, es handelte sich um Ottmar aus der Schweiz, den Michael vor ein paar Wochen und über tausend Kilometer weiter südlich zum Essen eingeladen hatte. Sie unterhielten sich über den starken Wind und ihre Erlebnisse in Patagonien. Ottmar hatte nach ein paar Tagen Gegenwind in Patagonien aufgegeben und war nach Chile zurückgekehrt, und jetzt bezeichnete er Michael als "elenden Masochisten". Die Zeit war schnell verplaudert und wir kamen nur noch 11 km weiter, fanden aber auf Anhieb ein perfektes Stückchen Erde zum Zelten, direkt am Lago Calafquen mit Blick auf den Vulkan Villarica. Das Zelt paßte genau auf die kleine Grünfläche, die es dort am See gab. Der majestätische Vulkan rauchte und als es dunkel wurde, leuchtete der Rauch orange, weil er vom Magma aus dem inneren des Vulkans angeleuchtet wurde. Natürlich hatte ich zunächst ein wenig Angst, daß der Vulkan so rauchte, aber hier in der Einsamkeit, in der Dunkelheit und mit Fahrrädern hätte man sowieso nicht so schnell fliehen können. Da redet man sich ein, daß alles ganz normal ist. So saßen wir im offenen Zelt und beobachteten das Schauspiel vor dem Hintergrund des funkelten südlichen Sternenhimmels und in der Ferne hörte man einen Wasserfall plätschern.

Nachts wurde es sehr kalt und ich fror schrecklich, aber Michael war so reizend und wärmte mir zweimal im Laufe der Nacht meine Wärmflasche auf, weil ich mich ganz fest in den Schlafsack eingeschnürt hatte und nicht herauswollte. Unangenehm wurde es dann, als meine Luftmatratze ihre Luft verloren hatte und langsam dem eiskalten Boden entgegensank.

Lago Hinter Coñaripe, 20.04.1995

Der Tag begrüßte uns mit Sonnenschein und als ich aus dem Zelt kroch, entdeckte ich eine dicke Eisschicht auf dem Zeltdach. Nachdem das Eis weggeschmolzen war, packten wir das Zelt ein, legten uns zum Aufwärmen in die Sonne und beobachteten den Vulkan, der ruhig vor sich hinrauchte und ab und zu leise donnerte. Michael versuchte unterdessen, meine platte Luftmatratze zu flicken.

Vergebliche Reparaturversuche der Lutmatratze

Die Strecke vom Lago Calafquen bis Coñaripe war geschottert und dementsprechend langsam ging es voran. Gleich zu Beginn rutschte mein Fahrrad unter mir weg, aber ich lies rechtzeitig den Lenker los und sprang ab, so daß diesmal meine Knie verschont blieben. Nach einer eiskalten Nacht war es tagsüber sehr heiß und so wechselte ich ständig die Kleidung. Zunächst führte die Strecke durch eine Almlandschaft wie im Allgäu, die Straße wand sich steil bergauf und wurde immer wilder. Wir mußten Pfützen umschiffen, die so groß wie kleine Teiche waren, aber irgendwann ging es dann doch wieder bergab bis nach Coñaripe, aber auf einer solch schlechten und sandigen Geröllpiste, daß ich häufiger - auch bergab - schieben mußte. Die Landschaft wechselte in eine Art Regenwald, Wasserfälle stürzten zwischen den dichten grünen Sträuchern auf die Straße und neben uns lag ruhig der Lago Calafquen. Als endlich in der Ferne Calafquen auftauchte, ging es so rasant bergab, daß ich kaum mehr bremsen konnte und mir wurde Angst und Bange bei dem Gedanken auf den bevorstehenden Pass.

Pfützen umschiffen

In Calafquen machten wir eine kurze Rast, bevor es auf einer unglaublichen Piste aus Erde, Schlamm, Geröll und Felsbrocken fast senkrecht nach oben ging. Nach einigen Metern hatten zwei Holzfäller Mitleid mit mir und nahmen mich hinten auf der Ladefläche ihres Lkws mit, während Michael im Wettkampf-Eifer die 5 Kilometer bis zu einer flachen Stelle fast schneller schaffte als der LKW. Es war nämlich verabredet, daß mich die beiden Holzfäller an einer Stelle herunterließen, an der man gut Zelten konnte. Die Fahrt auf der Ladefläche war alptraumartig, weil die Straße mit Felsbrocken durchsetzt war und ich mich und mein Fahrrad festhalten mußte, damit wir nicht herunterstürzten. Außerdem stieg die Straße so steil an, daß ich fast immer herunterrutschte und ich war froh, als der Fahrer endlich seinen Motor abwürgte und mir sagte: "Plano".

Traumhafter Zeltplatz

Die Wiese war tatsächlich traumhaft schön: Hoch oben auf dem Berg, selbst von noch höheren Bergen umringt, standen überall verbrannte, von der Sonne weißgebleichte Baumstümpfe und Lavabrocken, tief im Tal konnte man zwei Seen erkennen, die eigentlich nur ein See waren, der durch einen schmalen überlauf verbunden war. Auf der anderen Seite spitzte der Vulkan Villarica hervor und pustete unablässig seine orangeleuchtenden Rauchwölkchen aus seinem schneebedeckten Gipfel. Der Sonnenuntergang war ein Schauspiel besonderer Art: zuerst leuchtete die eine Hälfte des Sees im Andenglühen, dann färbte er sich dunkelblau und die andere Hälfte begann orange zu leuchten. Die ersten Sterne erschienen am türkisfarbenen Himmel und im Schein des Lagerfeuers beobachteten wir die unzähligen Sternschnuppen in dieser klaren, warmen Nacht. Dann frischte plötzlich ein starker, aber lauer Wind auf, der uns Funken vom Lagerfeuer um die Ohren blies. Es war eine wunderbare Nacht.

Rio Llanqehue, 21.04.1995

Als wir am Morgen aus dem Zelt gekrochen kamen, beobachtete uns eine gaffende und blökende Schafherde dabei. Einige Minuten später gaffte uns eine kichernde Gruppe Kinder in ihren albernen Uniformen auf dem Weg zur Schule auf die gleiche Weise an. Nach dem Frühstück machten wir uns daran, mal wieder den Zustand des Zeltes zu verbessern und nähten ausgerissene Stellen rund um die Reißverschlüsse, was uns ziemlich viel Zeit kostete.

Reißender Wildbach im Nationalpark

In einem dichten Waldstück konnten wir der Versuchung nicht widerstehen, versteckten unsere Fahrräder am Wegesrand und machten einen Ausflug quer durch den sehr ursprünglich wirkenden Regenwald. Das alles hatte zur Folge, daß wir an diesem Tag auch nur 10 km weit kamen und unser Zelt an einem sehr kalten Gebirgsbach aufbauten. Die Landschaft drum herum sah richtig unwirklich aus: verbrannte ausgebleichte Baumstümpfe lagen herum, vereinzelt wucherte hoher Bambus dazwischen, die Bäume waren noch sehr klein und die Büsche sahen aus wie von Menschenhand angepflanzt und gestutzt, das Gras dazwischen war sehr kurz. Es erschien mir, als ob die Natur viele kleine Gärtchen angelegt hätte, die von den Baumstümpfen abgegrenzt wurden und in denen schwarz-weiße Kühe weideten.

Die Nacht wurde sehr kalt und wir schürten ein Lagerfeuer, daß mich aber nicht richtig wärmen wollte, weil der Wind kalt durch die Kleidung pfiff. Michael warf einige große Steine ins Feuer und legte sie später ins Zelt, so daß wir eine Art Heizung hatten. Meine Luftmatratze gab endgültig den Geist auf und ich zog mir eine leichte Blasenentzündung zu.

Nationalpark Villarica, 22.04.1995

Immer noch trug ich mich mit der Hoffnung, wenigstens gegen Ende dieses Tages nach Pucón zu kommen, denn ich kam mir in der Einsamkeit langsam sehr, sehr verlassen vor. Unsere Vorräte nahmen sichtlich ab, so daß zwar die Gepäcktaschen leichter, jedoch das Essen sehr eintönig wurde. Außerdem machte mir die nächtliche Kälte hier in den Anden zu schaffen und ich wollte endlich mal wieder eine Nacht in einem warmen Bett schlafen und nicht frieren. Die Landschaft war gerade wegen dieser Einsamkeit überwältigend und hier kam auch kein Auto mehr durch, so schlecht war der Zustand der Straßen. Der Pfad bis zum Pass wurde immer steiler und ich schaffte es kaum noch, das Fahrrad zu schieben, weil ich es fast hochheben mußte; teilweise ging der matschige Pfad fast senkrecht nach oben. Am Nachmittag mußte mir Michael sogar beim Schieben helfen, weil ich nicht mehr konnte. Er war so aufopfernd, schob bzw. fuhr mein Fahrrad ein Stück und holte dann sein Fahrrad hinterher.

Michael hilft beim Schieben

Erschöpfung machte sich bei mir breit, wir hatten nicht mehr viel zu essen, ich fühlte mich krank und hatte genug damit zu tun, mich selbst bis zum Pass zu bringen. Als wir in dieser Einsamkeit eine Rast machten, begegnete uns eine weitere menschliche Seele: ein amerikanischer Fahrradtourist mit Namen Jeff keuchte den Berg hoch. Es war eine gute Abwechslung, sich mit jemanden zu unterhalten. Wir stellten fest, das Jeff fast die gleiche Strecke von Puerto Montt aus gefahren ist, und fast immer an den gleichen Plätzen gezeltet hatte wie wir. Als er von einer heißen Quelle erzählte, die nur 500 Meter von unserem kalten Zeltplatz heute morgen entfernt war, warf ich Michael einen ziemlich bösen Blick zu. Hätte er doch wissen können, dachte ich mir im ersten Augenblick. Ich wäre viel lieber die ganze Nacht im warmen Wasser statt im eisigen Zelt gelegen.

Je länger wir uns unterhielten, desto ungeduldiger wurde ich, weil ich an diesem Tag noch nach Pucón kommen wollte. Nachdem wir das Schwätzchen beendet hatten, fuhren wir zunächst zu Dritt weiter, verirrten uns dann aber im Dickicht und mußten fast 2 km wieder zurück zum Ausgangspunkt zurück und das bei unglaublichsten Straßenverhältnissen. Aber, als wir endlich auf dem richtigen Weg waren, wurden die Straßenverhältnisse noch schlechter. Anscheinend verkehrten hier nur noch Ochsenkarren und selbst die mußten aufgeben, weil das Geschirr eines Ochsenkarren achtlos mitten auf dem Weg lag. Der Pfad war umwuchert vom dichtem Wald und Araucias, die mit ihren reifen Früchten die Wege pflasterten. Langsam wurde mir klar, das wir es noch nicht mal zu den Thermen de Palquin schaffen würden, 40 Kilometer vor Pucón und freundete mich widerstrebend mit dem Gedanken an, auf der Wiese eines ehemaligen Refugios, also einer Schutzhütte auf 1100m Höhe im tiefsten Wald zelten zu müssen. Der Amerikaner war schon da und wir bauten unser Zelt in einiger Entfernung auf.

Wir machten ein Lagerfeuer, ich holte fleißig Holz aus dem Wald, weil mich die Bewegung aufwärmte und weil ich vor Erschöpfung nicht viel zur Unterhaltung beitragen konnte oder wollte. Wir teilten unser Abendessen mit Jeff, was aber in Wirklichkeit keine besondere Bereicherung war: Er hatte Nudeln pur und wir hatten Reis mit einem aufgelösten Brühwürfel. Wir rösteten die Kerne der Araunces und zeigten Jeff, wie man sie öffnet und ißt. Es wärmte die Hände auf, wenn man die heißen Kerne aus ihrer Schale buhlte. Das hatten wir bei einem Bergbauern abgeschaut, als wir an seiner Hütte vorbeikamen. Als Getränk hatten wir klares, eisiges Gebirgswasser mit Traubengeschmack, den es in Päckchen wie so viele andere Geschmacksrichtungen zu kaufen gab. Michael warf wieder einige der Lavabrocken ins Feuer, damit sie schön heiß würden und mich in der Nacht wärmen könnten. Als wir uns ins Zelt zurückzogen, beobachteten wir, wie Jeff mit einer Schaufel in den Wald ging und bewunderten seine Tugendhaftigkeit. Als er in sein Zelt kroch, konnte man vor der Kerze seine Umrisse sehen, wie er in einer großen Mappe blätterte und schließlich einige Lieder des Lobpreises in die Nacht trällerte. Da waren wir wohl einem wirklich gläubigen Menschen begegnet.

In dieser Nacht war mein Körper ein einziger Schmerz. Meine Hüfte hatte mir schon den ganzen Tag über weh getan, jetzt schmerzte auch noch mein Rücken um nicht die Magenkrämpfe zu vergessen, die ich vom kalten Gebirgswasser bekommen hatte und den hämmernden Kopfschmerzen, die mich quälten. Einen riesigen heißen Lavaklumpen hatte ich mit einem Handtuch umwickelt und unten in meinen Schlafsack gelegt, der mich aber trotzdem nicht wärmen konnte, denn ich fror vor Erschöpfung. Als dann meine Luftmatratze platt und der Lavaklumpen ausgekühlt war, zählte ich fröstelnd die Minuten bis zum Morgen. Nebel zog auf und eine unangenehme Feuchtigkeit kroch in das Zelt, aber auch diese Nacht hatte Gott sei Dank irgendwann ein Ende, dem wohl auch Michael genervt entgegengesehnt hatte.

Pucón, 23.04.1995

Michael machte mir zum Frühstück ein warmes Lagerfeuer, viel mehr gab es nicht, abgesehen von klumpigen Babybrei, diesmal ohne Manjar und der Reis mit der Hühnersuppe am Vorabend war auch nicht besonder s nahrhaft gewesen. Ich spürte immer noch die Erschöpfung in den Knochen, aber alles Jammern half nichts, ich mußte heute die über 40 km schaffen. Nach dem Pass konnte es ja theoretisch nur noch bergab gehen, redete ich mir ein. Am Himmel zogen bedrohliche Regenwolken auf und wir machten uns soschnell wie möglich fertig, um wirklich die Strecke bis nach Pucón zu schaffen. Ich fuhr vor den beiden Männern los, um wenigstens einen kleinen Vorsprung zu haben.

Bergab fluchend: Manche sind nicht zum downhillraching geboren...

Die Straße ging so steil bergab wie sie auf der anderen Seite angestiegen war und ich mußte höllisch aufpassen, nicht über eine Baumwurzel zu fahren oder einem Felsbrocken. Wer weiß, wohin es mich geschleudert hätte und wie tief ich gefallen wäre. Immer bremsbereit konzentrierte ich mich auf den Weg, das langsame bergab fahren mit dem ständigen bremsen ging schrecklich auf die Hände und die Oberarme. Ich fing schließlich sogar an, den Pfad zu beschimpfen und fragte ihn vorwurfsvoll, wer ihn nur so unmöglich gebaut haben könnte, wer ihn nur so unmöglich steil gemacht hätte und wer all die Steine auf ihn geworfen hätte. Mitten in meinem Zwiegespräch mit dem Pfad kam mir ein weiterer Fahrradfahrer entgegen, der mich dann auf englisch fragte, ob ich durch Coñaripe gekommen wäre. Er wollte die genaue Wegbeschreibung mit Kilometerangaben und weil ich mir schon schwer tue, jemanden den Weg zur nächsten Kreuzung zu erklären, verwies ich ihn an Michael und Jeff oben am Refugio, die könnten ihm mehr sagen. Als Michael mich später eingeholte hatte, lachte er mich aus, daß ich mich mit einem Schwaben auf englisch unterhalten hätte. Dabei war ich doch so erfreut darüber gewesen, daß ich diesen Fahrradfahrer viel besser verstehen konnte als Jeff. Peinlich...

Bei einer Rast betrachtete ich mir meine Beine. Sie sahen aus wie abgestorben: schwarzes öl von der Kette, grüne und blaue Flecken, die ich mir an den Pedalen geschlagen hatte und blutige Striemen von dem Gestrüpp. Nach den Thermen de Palquin wurde die Straße endlich besser, dann doch wieder schlechter und schließlich unmöglich zu befahren: Sand! Jeder sollte mal versuchen auf tiefen Sand zu fahren, dann weiß man, von was ich spreche. Und plötzlich, wie ein Wunder: Asphalt! Meine Reifen schnurrten plötzlich über einer bestens asphaltierten Straße mit breiten Seitenstreifen. Jeder kleine Hügel und jede kleine Kurve wurde durch ein Straßenschild vorgewarnt. Endlich ging es mit Tempo ungebremst bergab, der Fahrtwind pfiff mir um die Ohren, meine Kleider flatterten am Körper und ich kam in einen regelrechten Geschwindigkeitsrausch. Ich trat noch zusätzlich in die Pedalen, um noch schneller zu werden.

Unsere rasante Fahrt wurde urplötzlich von einem großen Trauerzug ausgebremst, der sich langsam nach Pucón hineinschob. Wir wollten nicht warten, trotzdem war es mir schon etwas mulmig, vorbei an den tiefschwarzen Trauergästen und dem Leichenwagen zu fahren. Wir fanden eine hübsche Unterkunft mit Küchenmitbenutzung. Nach dem Duschen gingen wir auch gleich einkaufen und Michael brutzelte Steaks, während ich einen großen Salat machte und den großen Tisch im Vorraum feierlich deckte. Nachdem wir uns fünf Tage von Reis, Nudeln und Keksen ernährt hatten, genossen wir unser reichhaltiges Menü und hatten irgendwie ein schrecklich schlechtes Gewissen, als sich ein Amerikaner zu uns gesellte, der ein hartes Brötchen in seine dünne Tomatensuppe einbrockte.

Pucón, 24.04.1995

Mein tiefer Schlaf wurde nur von zwei kläffenden Hunden aus dem Nachbarhaus gestört, ansonsten schlief ich aber wie auf Wolken und ich fühlte mich nach dem Aufwachen wie neugeboren. Die Anstrengung der letzten Tage war vergessen und ich war frisch und munter. Da das Frühstück im Preis inbegriffen war, ließen wir uns natürlich von vorn bis hinten bedienen und ich gönnte mir noch ein Vormittagsschläfchen, bevor wir in die Stadt gingen, um einen neuen TURISTEL für die nächste Region zu finden und eine Isomatte für mich, weil ich meine Luftmatratze kurz nach der Ankunft in Pucón in einen Müllbehälter warf. Aber in Pucón selbst war nichts von dem zu finden, was wir suchten, es gab nur Andenkenläden, Eisdielen, Pommesbuden und Geschäfte, die Touren in die nähere Umgebung anboten. Deshalb beschlossen wir gegen Nachmittag mit dem Bus nach Villarica zu fahren, der größten Stadt an diesem See. Dort hatten wir zunächst Probleme, die Innenstadt zu finden und nach einigem Irren waren wir auf dem richtigen Weg. Mich quälte ein harmloser, kleiner Durchfall, so daß ich eiligst ein Restaurant aufsuchen mußte.

In Villarica fanden wir zwar keine Luftmatrazen, aber immerhin gab es dicke Isomatten. Ich kaufte mir gleich zwei Stück und wir kehrten am Abend nach Pucón zurück. Der Busbahnhof in Villarica war übertrieben groß, es herrschte eine Hektik wie auf dem Frankfurter Flughafen, die Wartenden wurden mit Lautsprecherdurchsagen beschallt und die Busse warteten stundenlang mit laufenden Motoren auf die Fahrgäste. Während wir über unserem Steak mit Knoblauch, Salat und Bier saßen, klärten wir unsere weitere Strecke ab. Nach den anstrengenden Tagen in den Anden widerstrebten mir Michaels Pläne, der mit einem verträumten Blick auf die Landkarte mit einer noch längeren und anstrengeren Strecke liebäugelte. Ich sagte ihm, daß er sie meinetwegen fahren kann, ich würde mich dann drei Tage in Pucón allein vergnügen, aber mitkommen würde ich auf keinen Fall, vor allem da das Klima auch hier im Tal herbstlich kalt geworden ist. Wir einigten uns darauf, daß Michael am morgigen Tag 110 Kilometer nach Temuco fährt, während ich den Bus nehme und mich dort gegen Abend mit ihm in einem Café treffe. Ich hoffte, daß das Wetter weiter im Norden besser wäre als in dieser Gegend.

Temuco, 25.04.1995

Michael war keine Viertelstunde vorher nach Temuco aufgebrochen und ich saß am Frühstückstisch in der Herberge, ließ mich von dem Geisterradio berieseln, das den ganzen Tag im ganzen Haus zu hören war und hatte keine Ahnung, wie ich den Leuten klar machen sollte, daß ich erst um 16 Uhr das Zimmer verlasse, aber keinen weiteren Tag bezahlen will. Ich und Spanisch, das wird was geben!

Der heutige Morgen verlief ganz ulkig. Als wir früh morgens aufstanden, waren wir ganz allein im Haus. Weder die junge Mutter noch ihr Mann waren zu finden und auch das Kind war weder zu hören noch zu sehen. Weil Michael aber bald aufbrechen wollte, machten wir uns nach anfänglichen Zögern selbst das Frühstück. Am Tag vorher hatte sich ja die Vermieterin darum gekümmert. Wir kochten, brutzelten und toasteten und gegen 9 Uhr kam dann die Vermieterin, total verschlafen, stellte uns noch ein wenig ungetoasteten Toast auf den Tisch und ein Päckchen Tee dazu und verschwand schließlich wieder. Vom Mann war keine Spur, seitdem er gestern gegen 23 Uhr angeblich zum Pizza-Essen gegangen war. Zuvor hatte er sich flüsternd eine Zeitlang mit einem anderen Mann unterhalten. Schon am Nachmittag vorher hatten wir seine Frau gesehen, wie sie mit dem Säugling im Arm am Busbahnhof eingestiegen ist und davon fuhr. Alles deutete auf einen handfesten Ehekrach hin.

Wie ich so am Tisch saß, wurde ich nachdenklich. Ich ärgerte mich, daß ich kein Spanisch kann und immer auf Michael angewiesen war. Ihm war es schon lästig, immer alles für mich erledigen zu müssen. Ich dachte darüber nach, daß ich Michael nur aufhalte, weil ich so langsam bin und so viele Pausen brauche und nach einer längeren Tour mindestens zwei Tage Entspannung. Ich fühlte mich immer noch nicht auf dem Damm nach den 5 Tagen durch die Anden. Der Kampf gegen die Kälte, gegen die Berge, gegen die Schotterstraßen, alles war so anstrengend für mich und ich wünschte, ich könnte alles mit einer solchen Leichtigkeit meistern wie Michael. Mit meinem Jammern ging ich ihm auf die Nerven, daß wußte ich. Natürlich mußte ich zugeben, daß ich belohnt wurde durch einzigartige Eindrücke, durch Landschaften, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. Diese Freiheit und die "Lagerfeuerromantik", die atemberaubenden Sonnenuntergänge, der rauchende Vulkan Villarica, eigentlich wollte ich nicht aufgeben, ich war glücklich hier zu sein, aber ich wollte Urlaub vom Urlaub. Ausruhen, schlafen, faulenzen.

Meine Befürchtungen mit dem Zimmer und den Sprachschwierigkeiten lösten sich in Luft aus, weil der junge Vermieter, der mit rotunterlaufenden Augen und Bierfahne am späten Vormittag aufgetaucht war, sehr gut englisch sprach. Nachdem alles geklärt war, packte ich mein Fahrrad, legte mich noch ein wenig hin und ging dann langsam zum Busbahnhof, um nach Temuco zu fahren. Es gab überraschenderweise keine Probleme dabei, das Fahrrad zu verstauen, nur war ich mir in Temuco nicht sicher, wo ich genau aussteigen soll und klärte diese irgendwie mit Händen und Füßen mit dem Schaffner. Nachdem ich ausgestiegen war und mein Fahrrad wieder zusammenbaute, stand Michael schon neben mir, obwohl ich bei der Kilometerzahl glaubte, ich müßte noch einige Zeit auf ihn warten. Er war aber schon eine Stunde früher in Temuco, als ich in Pucon abgefahren bin und das bedeutete, daß er mit einer guten Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein muß. In der Zwischenzeit hatte er schon eine sehr gemütliche Hospedaje gefunden, in der man sich wie daheim fühlte. Und es war dort ruhiger als in anderen Unterkünften. Obwohl sie mitten in der Stadt lag, hörte man keine kläffenden Hunde und keine schreienden Hähne.

Temuco kam mir vor wie eine Großstadt: Leuchtreklame, Einkaufspassagen, richtige Kaufhäuser und Kinos entdeckten wir während unseres Stadtbummels. Wir ließen es uns richtig gut gehen und speisten in einem China-Restaurant und gingen danach ins Kino, soweit ich mich erinnere war es der Film "Timecop" mit Jean- Claude van Damme. Die Stühle im Kino waren sehr hart, der Ton des Films war mies. Der Film selbst war in englischer Sprache und hatte lediglich einen spanischen Untertitel, aber aufgrund der schlechten Qualität der Lautsprecheranlage konnte man den englischen Text nicht verstehen.

Ich hatte mich noch immer nicht richtig erholt und hatte nachts starke Schmerzen in der Hüfte und litt unter Magenkrämpfen, aber Michael kommentierte - typisch Mann - mein Leid nur mit "Gejammer" und "du bist nur glücklich, wenn du meckern kannst" ab und das machte mich richtig erst richtig wütend.

Temuco, 26.04.1995

Ich hatte ganz herrlich in dem weichen Bett geschlafen und als ich aufwachte, war Michael in der Stadt, also schlief ich weiter. Als er gegen Nachmittag zurück kam, erklärte er mir, daß er Temuco langweilig findet, er antriebslos sei und weiter will, während ich mir ganz gut vorstellen konnte, noch ein wenig durch Temuco zu bummeln und ein paar neue T-Shirts zu kaufen oder was mir sonst noch fehlte. Michael suchte auch schon auf der Landkarte nach einem guten Weg weiter in den Norden und ich quengelte, wann wir endlich frühstücken gehen. Klar, er wäre am liebsten gleich jetzt losgeradelt, aber in mir sträubte sich alles bei dem Gedanken daran.

Wir bekamen uns noch tiefer in die Wolle, weil Michael nicht wollte, das ich meine stinkige Wäsche zu einer Wäscherei brachte und als ich dann bei einem Einkaufsbummel kein T-Shirt in einer passenden Größe fand, konnte ich seinen genervten Blick kaum mehr aushalten. Die Sachen waren viel zu eng geschnitten, weil chilenische Frauen sehr viel kleiner sind als deutsche Frauen; dazu war alles auch viel zu teuer.

Michael redete davon, daß er weiter will. Ich erklärte ihm, daß ich total demotiviert bin, daß ich dieses Regenwetter deprimierend finde und das ich mich einfach noch ein wenige ausruhen will. Michael verstand das so, das ich überhaupt keine Lust mehr hatte, weiterzumachen und schlug vor, daß ich nach Santiago fahre und von dort aus nach Hause fliege. Das wollte ich nicht, nein, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, daß ich heim wollte. Ich wollte auf keinen Fall heim, ich wußte überhaupt nicht, was ich dort sollte. Mir gefiel es doch in Chile und insgesamt war ich überrascht, daß wir erst nach 3 Wochen in einer solchen Krise steckten. Eigentlich hätte ich gedacht, daß wir uns schon innerhalb der ersten Woche zerfleischen.

Temuco, 27.04.1995

Der heutige Tag gehörte zu einen der wenigen Tage, an die ich nicht gerne denke. Auf jeden Fall gab es einige größere Aussprachen und am Abend sah die Welt schon wieder anders aus, nachdem ich mich definitiv bereit erklärt hatte, weiterzufahren, wenn er respektiert, daß meine Erholungsphase wesentlich länger ist als seine.

Carahue, 28.04.1995

Am Morgen brachen wir mit vollbepackten Fahrradtaschen in Richtung Carahue auf. Stadtauswärts ging es teilweise auf einem Fahrradweg, der aber nach der Stadt so plötzlich endete, wie er gekommen war. Die Straße war geteert und die Gegend wurde von Kilometer zu Kilometer einsamer. In einem kleinen Wäldchen machten wir Rast und wir bereiteten einen chilenischen Mate-Tee zu. Dazu stopft man einen traditionellen Mate-Becher mit den Mate- Blättern voll und gießt kochendes Wasser hinein. Den starken Tee trinkt man dann mit einem Strohhalm aus Silber, wobei man aufpassen muß, daß man sich nicht die Lippen verbrennt. Nachdem ich zwei Tassen von diesem Tee getrunken hatte, war ich hellwach und fuhr mit einer ungeahnten Leichtigkeit Kilometer um Kilometer; ich fühlte mich richtig gedopt.

über Berg und Tal

Ich wurde erst wieder von der Küstenkordilliere mit ihren starken Steigungen ausgebremst und habe einige wilde Flüche in die Gegend gerufen, als mir zum tausendsten Mal eine Fliege ins Auge geriet und ich nichts mehr sah. Denn wo ein Berg stark ansteigt, da geht es auf der anderen Seite rasant wieder runter und man erwischt umso mehr Insekten. Nach immerhin 60 Kilometern erreichten wir Carahue, ein verschlafenes kleines Nest. Nachdem wir den Plaza Central erreicht hatten, setzten wir uns in das einladendste Restaurant, tranken erst mal ein Bier und fragten die Bedienung, ob es ein Hotel in diesem Ort gäbe. Sie gab zur Antwort:"Nein, nichts." Wir fragten die andere Bedienung und die sagte knapp"Ja.", drehte sich um, ohne noch etwas dazu zu sagen. Als sie merkte, daß Michael sie immer noch erwartungsvoll ansah und auf eine Wegbeschreibung wartete, sagte sie, sie wisse nicht, wo das Hotel sei. Wie es sich herausstellte, war es eine Straße weiter und nicht zu übersehen. Entweder reden die Leute hier ungern mit Fremden oder sie kommen niemals aus ihrer eigenen Straße heraus. Wir mieteten uns ein und mußten aus einer alten Zeitung ein provisorisches Schloß basteln, weil die Türe von allein nicht schließen wollte.

In einer sehr bescheidenen Kneipe probierte Michael zum ersten Mal eines der berühmtesten chilenischen Gerichte, daß Completo. Es stellte sich als ein Hot Dog heraus, daß zusätzlich noch mit Avokado-Creme, Tomaten, Majonese, Senf und Ketchup gefüllt war, so daß das Würstchen unten im Brötchen schon ganz kalt war. Es schmeckte schrecklich. Bei einem kleinen Dorfbummel entdeckten wir das Dorfkino: ein Fernseher, der auf einem Fensterbrett im Rathaus stand und auf eine Parkbank zeigte, auf der interessierte Dorfbewohner den Nachrichten folgten. Als es heftig zu regnen begann, setzten wir uns in den gemütlichen Aufenthaltsraum des Hotels und entdeckten im TURISTEL, daß dieser Ort doch nicht so langweilig sein konnte, wie er erschien, so sollte er gar eine Atmosphäre einer alten Hafenstadt haben und eine ganz tolle Uferpromenade besitzen. Als es draußen stürmte und der Wind durch die Giebel pfiff, entschlossen wir uns, am nächsten Tag an die Küste zu fahren und dann weiter am Meer entlang Richtung Norden nach Tiruá.

4 Kilometer hinter Trovelhue

Als wir nach einer sehr regenreichen und stürmischen Nacht, die einem den Schlaf raubte, am Morgen aufwachten, blickte uns ein düsterer und wolkenverhangener Himmel durch das Hotelzimmerfenster an. Dieses"Hotel" hatte seine Tücken: nicht nur, daß die Türen nicht schlossen und man Zeitungspapier dazwischen klemmen mußte, nachts wurde auch der Strom abgeschalten oder er war ausgefallen, jedenfalls mußte man im Stockdunklen die Toilette finden, die durch unendlichen verwinkelten Gängen zu erreichen war. Dann gab es natürlich kein Toilettenpapier.

Nach dem Frühstück führte unser Weg zunächst auf einer schönen ebenen Straße entlang des Flusses "Imperial" dem Pazifik entgegen, was natürlich zur Folge hatte, das wir starken Gegenwind hatten. Der Weg nach Trovelhue schraubte sich bergauf, höher und wurde sehr steil, so daß wir insgesamt nur 25 Kilometer schafften. In Trovelhue, einem urigen Dorf, daß überflutet war, machten wir in einer kleinen Bar eine Rast, die mir vorkam wie eine miese Bar aus irgendeinem schlechten Terence-Hill-Western. Es kreisten tausende von Fliegen in der Holzhütte, neben uns lagen 4 lebenden Hühner, die mit den Pfoten zusammengebunden waren und manchmal in Panik gaggerten und aus der Ecke dudelte ein kleines Radio schreckliche Musik Die Menschen in diesem Dorf haben uns begafft wie Außerirdische und die Wirtin von dieser Bar dachte zunächst, wir wären mit Motorrädern unterwegs und sagte uns, daß wir in ca. 4 Stunden in Tiruá wären. Als sie nach näherer Betrachtung merkte ("Wo ist denn der Motor?"), daß es sich um Fahrräder handelt, brach sie in entsetztes Geschrei aus.

Wir fuhren noch einige Kilometer weiter und zelteten auf einem trockenen Stückchen Wiese inmitten eines kleinen Sumpfes unter einem dichten Weidenbaum.

20 Kilometer hinter Trovelhue, 30.04.1995

Während der Nacht hatte es stark geregnet und in einem Abstand von nur einem Meter floß nun ein lustiger kleiner Bach am Zelt vorbei, der munter vor sich hin gluckste. In der Nacht war ich schon in diesem Bach getreten. Bevor wir das Zelt abbauen konnten, mußten wir erst einmal warten, bis der Wolkenbruch vorüber war. Es schüttete wie aus Kübeln. Die Straße war zunächst noch einem relativ guten Zustand und es ging garstig bergauf. Das Klima war sehr wechselhaft. Windig, regnerisch, kühl, dann wolkenlos und sonnig, später schwül, so daß ich mich insgesamt fünf mal umgezogen habe. Und wenn ich gewußt hätte, wie schrecklich die Strecke noch wird, wäre ich vielleicht noch ganz glücklich über die steile Schotterpiste mit dem groben Geröll gewesen. Der Wind wurde immer heftiger und pustete mich beinahe in den Straßengraben. Irgendwann hörte die Schotterpiste auf und ich freute mich über die angenehme zu fahrende Erdpiste. Aber nur kurz. Durch den vielen Regen in der letzten Zeit hatte sich die Erdpiste zu einer Schlammpiste mit riesigen Pfützen verwandelt, die man kaum "umschiffen" konnte, da der Weg von beiden Seiten mit Zäunen begrenzt war. Manchmal stand ich bis zum Schafft meiner Stiefel im flüssigen Schlamm.

Auf der Schlammpiste

Der Schlamm wurde zäher und von Zeit zu Zeit grub sich der Vorderreifen meines Fahrrads so tief in den Schlamm, daß ich nicht mehr weiterkam und Michael mir zur Hilfe eilen mußte. Dann, wenn es mal bergab ging, glitschte der Vorderreifen gerne weg und das Fahrrad wollte hinstürzen und mich mit ihm reißen, aber ich war schneller und sprang ab. Gegen Abend wurde der Schlamm immer fester, lehmig und tonartig, meine Reifen"fraßen" den Schlamm und sammelten ihn im Schutzblech, es bremste immer mehr bis gar nichts mehr ging und der Reifen sich nicht mehr drehte und selbst schieben zwecklos war, weil die Räder völlig blockierten und da ging es auch schon wieder bergauf. Als dann auch noch bedrohliche Regenwolken vom nahen Pazifik aufzogen, gaben wir auf und suchten uns einen Schlafplatz. Wir zelteten in einem Eukalyptus-Hain auf einer kleinen Anhöhe in einiger Entfernung von der bösen Schlammpiste, auf der uns viele ponchobehangene Gauchos entgegengeritten kamen, stets von ihren treuen Hunden begleitet.

Die Menschen in dieser Gegend besitzen wegen der schlechten Straßen keine Autos, weil sie sie die Hälfte des Jahres nicht benutzen könnten, erzählte uns ein Einheimischer. Und im Mai, so sagte er, wird es noch schlimmer. Als wir im Zelt saßen und auf den Regenschauer warteten, hörten wir das bedrohliche Getose der Meeresbrandung, obwohl man das Meer überhaupt nicht sehen konnte. Laut TURISTEL gab es hier ein Seehundrudel am Strand, aber wegen der steilen Küstenkordilliere erschien uns ein Besuch unmöglich.

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© Marion Hetzelt. Das Kopieren von Inhalt und Bildern in irgendeiner Form ist nicht gestattet.

 

ein paar tausend Kilometer Abenteuer