Mai 1995

35 Kilometer hinter Trovelhue, 01.05.1995

Matsch und Dreck Matsch und Dreck

Heute schoben, zogen und trugen wir unsere Fahrräder laut Tachoanzeige 15 Kilometer weit. Die meiste Zeit waren unsere Reifen so dick mit Lehm verschmiert, daß sie blockierten. Nach einer kurzen Strecke, die geschottert war, wurde die Straße noch schlimmer, weil sie wohl gerade im Bau war und große Baumaschinen den Weg säumten, die den Schlamm tief aufgewühlt hatten und sich der Lehm ca. 50 cm türmte. Die Straße wurde sehr breit und alles sah so unwirklich aus, als ob wir uns auf einem fremden Planeten befänden: Große Schieferplatten ragten aus der "Fahrbahn" und an der Seite türmte sich der braune Schlamm jeweils 5 Meter hoch, ein Jeep mußte aufgeben und wieder umkehren, weil er es nicht schaffte, bergauf zu fahren und schleuderte unkontrolliert herum. Wir aber schoben zwangsweise weiter, weil es keine andere Möglichkeit gab, diesem Alptraum hier zu entkommen. Am Nachmittag begegneten uns zwei mit Apfelmost angetrunkene Einheimische. Einer von den beiden half mir, mein Fahrrad einen kleinen Hügel hochzuschieben. Er war neugierig und wollte alle technischen Einzelheiten über das Fahrrad wissen, auch wieviel es gekostet hatte. Vorsichtshalber log ich ihn an. Während er das Fahrrad schob, gab er laute Schreie von sich, die sich eigenartig anhörten. Micha meinte, er wolle damit seine Anstrengung ausdrücken. Zum Schluß boten uns die beiden noch einen Schluck aus der Flasche mit dem Apfelmost an, bevor sie sich verabschiedeten, um weiterzutrinken.

Wir kamen nicht mehr weit, die Sonne stand schon tief, als uns auf der steil bergauf führenden Schlammpiste ein munterer Bach entgegenplätscherte und als uns schließlich auch noch ein Ochsenkarren den Weg versperrte, machten wir Rast auf einem umgestürzten Baumstamm am Wegesrand. Wir hatten kein Trinkwasser mehr und der Hunger quälte mich schon seit Stunden, ich war müde. Aus dem Häuschen gegenüber drang eine kreischende Frauenstimme zu uns und Micha traute sich nicht, nach Wasser zu fragen. Nach und nach versammelten sich alle Söhne und Hunde des kleinen Anwesens um uns herum, um uns neugierig, aber vorsichtig zu beobachten.

Wir nahmen unseren Mut zusammen und fragten schließlich doch nach Wasser und einer Möglichkeit, unser Zelt auf dem Anwesen der Familie aufzuschlagen und bekamen die Erlaubnis, uns in ihrem "Vorgarten" niederzulassen. Als wir unser Abendessen zubereiteten, folgten uns die Augen der Kinder bei jedem Handgriff. Der Herr des Hauses kam zu uns, um sich mit uns zu unterhalten. Er war sehr interessiert und stellte viele Fragen. Nachdem wir ihn erzählten, daß wir nur noch diese Spaghettis zu essen haben, brachte er uns ein Stück frischgebackenes, warmes Brot mit knuspriger Rinde. Vom Zelt aus konnte man deutlich den Pazifik tosen hören und im farbenprächtigen Sonnenuntergang erkannten wir sogar die Insel "Mocha" am Horizont. Obwohl wir die ganze Zeit an der Küste entlang fuhren, hatten wir das Meer selbst noch nicht zu Gesicht bekommen. Wir fuhren zwar nach Karte, aber irgend etwas schien nicht zu stimmen. Es schien, als ob wir Zickzack zwischen den beiden eingezeichneten Straßen hin und her fuhren, laut Wegweiser waren wir nämlich am Tag zuvor näher an Tiruá als heute abend und ein Straßenarbeiter gab uns heute die Auskunft, das wir noch 25 Kilometer vor uns hätten. Wenn das so weiter ging mit der schlechten Straße und den steilen Hügeln, brauchten wir noch mindestens zwei Tage - soviel Proviant hatten wir aber nicht mehr, wir hatten heute unsere letzten Kekse aufgegessen.

Essen im Zelt  Essen im Zelt

Zumindest wurde man auf der Strecke durch die abwechslungsreiche und interessante Vegetation und Tierwelt belohnt: richtiger Urwald war zu sehen, es gab Mimosenbüsche, deren Blätter sich bei Berührung zusammenrollten, es gab Euklyptushaine, die einen angenehmen Geruch verbreiteten und stachelige Kakteen, dazwischen huschten kleine und größere Eidechsen hin und her und in der Ferne donnerte die Brandung des Pazifiks. Besonders lustig an den Einheimischen war, daß sie immer glaubten, wir wären mit Motorrädern unterwegs. Sie standen dann in Grüppchen am Wegesrand, beobachteten uns und hielten Streitgespräche darüber, ob sie nun einen Motor an unseren Fahrzeuge gesehen oder gehört hätten. "Nein, die haben keinen Motor!" "Doch, dort ist er doch!". Micha meinte, hier kommen nur noch Ochsenkarren oder Fahrräder durch, meiner Ansicht nach wäre ist es besser, zu Fuß unterwegs zu sein, weil man sowie die ganze Zeit schieben mußte.

Während der Nacht durchsuchten die Hunde unsere Mülltüten vor dem Zelt nach etwas Eßbarem und die Kinder spielten an den Fahrrädern herum, besonders an der Klingel. Ich hatte nichts dagegen, solange sie nichts kaputtmachten. Ich hoffte nur, daß die Hunde nicht zum Kläffen anfingen, weil uns dann eine schlaflose Nacht bevorstand, denn die Hunde schliefen direkt vor unserem Zelt.

Tiruá, 02.05.1995

Nachdem uns das Kläffen der vier Hunde sehr früh geweckt hatte, kamen wir zeitig am Morgen los. Die "Dame" des Hauses mit der enormen Stimme in ihrem enormen Klangkörper hackte gerade Holz und mühelos spaltete sie ganze Baumstämme, während ihr schmächtiger Mann nirgends zu sehen war. Es nieselte leicht und wir fragten sie, ob sie glaubte, daß das Wetter noch schlechter werden würde. Sie erzählte uns, daß wir Glück hätten, daß es nicht regnete (es regnete mittlerweile) und das Wetter so gut bleiben würde. Nun, hier wird Regen wohl in anderen Dimensionen wahrgenommen.

Noch mehr Matsch Noch mehr Matsch

Mit klatschnassen Haaren und Regenzeug ging es zunächst dort weiter, wo wir am Tag vorher aufgehört hatten: an einem steilen Schlammberg inmitten eines abgerodeten Regenwaldes. Die Baumstämme lagen kreuz und quer auf einem steilen Hang über der Straße und wirkten nicht sehr stabil. Sie schwebten bedrohlich über unseren Köpfen mit einer gewissen Absturzwahrscheinlichkeit, die mich motivierte, rasch voranzukommen. Aber der Weg war so unglaublich steil, daß es kaum noch überboten werden konnte. Micha hatte meine obere Packtasche als Rucksack auf den Rücken, um das Gewicht meines Gepäcks zu reduzieren; aber er mußte mir trotzdem beim schieben helfen. Und selbst die Fortbewegung zu Fuß wurde fast zur Unmöglichkeit. Aufgrund des ekeligen Sprühregens verwandelte sich der feuchte umgepflügte Lehm langsam in widerlich glitschigen Matsch, dann zu flüssigem Schlamm, auf dem man nur noch schlittern konnte.

Festgefahren Festgefahren

Im Gegensatz zu Michas Fahrrad "fraß" meines aus unerklärlichen Gründen diesen Schlamm und sammelte ihn zwischen Reifen und Schutzblech, wo er festgerieben wurden. Die Folge war, daß sowohl Vorder- als auch Hinterrad blockierten und ich selbst bergab nicht mehr schieben konnte. Der "Schlammbauer" hatte uns am Vorabend noch erzählt, daß wir noch 33 Kilometer mit Tiruá hätten, aber das war eine erfreuliche Fehlinformation, genauso wie die Straßenschilder am Wegesrand: es waren nur noch 25 Kilometer. Als wir am späten Nachmittag durch dichten Nebel hindurch endlich in Tiruá ankamen, glichen wir Moormonstern. Wir und unsere Fahrräder waren von oben bis unten voll Schlamm und wir waren nur so schnell angekommen, weil die letzten 15 Kilometer recht gut ausgebaut waren. Wir waren überglücklich über ein Packung Kekse und eine Flasche Cola und fotografierten uns gegenseitig in Siegerpose.

Moormonster Moormonster

Es gab sogar eine Herberge in dem todlangweiligen Ort im Wildwest-Stil und ich war überrascht, daß uns der Besitzer ohne weiteres mit dem ganzen Schlamm an den Stiefeln durch sein Haus laufen ließ und sogar meine schmutzigen Taschen ins Zimmer trug. Micha duschte sich gleich mit seinen Regensachen, damit sie sauber würden; ich rollte die schmutzige Gore- Tex-Hose zusammen, nachdem sie schon getrocknet war und wollte sie am anderen Morgen reinigen, denn der Dreck ging von meinen Sachen schwerer runter und ich hatte Hunger und wollte erst mal essen gehen. Als wir das Hotel verließen, traten wir in eine stockdunkle Nacht hinaus. Hier wurde die Straßenbeleuchtung schon recht früh am Abend abgeschalten. Auf der Suche nach einem guten Restaurant wurden wir zurück zu unserem Hotel geschickt und entdeckten überrascht den großen Speisesaal. Der Hotelbesitzer servierte uns stolz mit einem Getue, als ob er Kellner in einem feinen französischen Restaurant wäre, ein sehr gutes Fischgericht mit Salat. Die restlichen Gäste waren irgendwelche Landarbeiter mit entsprechenden Manieren und die Wände waren so dünn, daß man jedes kleine Husten hörte und natürlich auch das laute Schnarchen. Man hörte sogar, wenn sich jemand im Nebenzimmer in seinem Bett herumdrehte. Die Toilette war eine Zumutung. Das es in Chile zum Guten Ton gehört, die Spülung nicht zu benutzen, war mir bereits bekannt, aber hier war das ganze Klo und die Umgebung vollgepinkelt. Überhaupt sind die Toiletten sehr gewöhnungsbedürftig und jeder, der Chile bereisen will, sollte sich darauf einstellen: das benutzte Papier spült man nicht hinunter, sondern es wird in einem offenen Eimer gesammelt und zum Müll geworfen. Und mit der Betätigung der Toilettenspülung haben alle Chilenen Probleme, ob arm oder reich, ob männlich oder weiblich, ob alt oder jung. Und Klopapier muß man grundsätzlich immer selbst mitbringen, ist doch klar. So eine Rolle hat man doch immer bei sich, auch wenn man ins Restaurant oder ins Kino geht. Übrigens, daß Trinkwasser in der Gegend enthält Hepatitis A- Viren.

Tiruá, 03.05.1995

Zumindest waren die Betten sehr weich, so daß ich eine gute Nacht verbrachte. Wir schliefen uns richtig aus. Es dauerte einige Zeit, bevor ich meine Stiefel von dem hartnäckigen Schlamm befreien konnte und als sie endlich wieder zivilisiert aussahen, ging der Reißverschluß an meiner Jeans kaputt.

Strand von Tiruá  Strand von Tiruá

Als wir das Dorf erkundeten, fanden wir ein trostloses, dreckiges Kaff vor, in dem die eigenartigsten Dinge zum Verkauf angeboten wurden. In einem kleinen Kiosk besorgten wir uns Brötchen, Schinken, Marmelade, Butter und Schokoladenmilch und wollten damit am Strand frühstücken. Zuvor mußten wir einen Eingang in dem hohen Zaun finden, mit dem die Dünen geschützt waren, besser, die Kühe, die zwischen den Dünen weideten. Das erste Mal stand ich am chilenischen Pazifik und der Anblick war überwältigend. Das Meer dampfte, während die gewaltigen Wellen gegen das Land mit den steilen, schwarzen Klippen donnerten. Nebelschwaden trieben über den schwarzen Sand, die Bucht war nebelverhangen und es wirkte sehr gruselig. Bis auf zwei, drei Spaziergänger waren wir allein, ansonsten kommt hier wohl niemand auf die Idee, an den Strand zu gehen. Zugegeben, es war kühl und es zogen immer mehr dunkle Wolken auf und kündigten Regen an. Micha hatte sehr viel Spaß: Er baute kleine Sandburgen, Sprang in die hohen schwarzen Dünen, bewarf Strandläufer-Vögel mit Tannenzapfen und grub viele kleine Kanäle in den Strand.

Am meisten hat mich heute Michas Schmerzensschrei beeindruckt, als er seine nackten Füße in den vom Humboldt-Strom ausgekühlten Pazifik steckte; vielleicht wurde dieser Schrei noch im fernen Japan gehört...Komischerweise erzählt Micha der Dorfbevölkerung, daß wir verheiratet währen, denn am Abend zuvor ist er in einem Geschäft schmählich ausgelacht worden, als er erzählte, daß er noch solo sei. Aber irgendwie klappt es mit seiner Story immer noch nicht so gut "Seid wann bist Du verheiratet?" "Äähh...äähm, seid einem Jahr?"; "Hast Du Kinder?" "Nein" "Mit 26 Jahren noch keine Kinder? Ha, Ha, Ha, Ha!". Micha war richtig geknickt, daß er ausgelacht wurde, obwohl er doch wußte, daß die Leute hier doch eine ganz andere Weltanschauung wie wir haben. Aber wer will schon ausgelacht werden?

Antiquina, 04.05.1995

Nach einer unruhigen Nacht wegen kläffender Hunde und betrunkener Landarbeiter erwachte ich sehr müde und blickte in das angenehme Sonnenlicht, das auf mein Bett schien. Während der Nacht wurde in der Toilette das Abwasser durch einen Abfluß hochgedrückt und es verteilten sich irgendwelche Tomatenreste und sonstiger Dreck gleichmäßig im ganzen Raum; das war nicht sehr schön. Das benutzte Toilettenpapier schwamm zwischen den Tomatenstückchen hin und her und ich war überrascht, daß ich mich bei dem Anblick nicht übergeben mußte. Wir frühstückten im Hotel und waren über die niedrige Rechnung überrascht - obwohl wir hier nicht wenig gegessen hatten mußten wir nicht mehr als 10 Mark zahlen. Wir gaben den Besitzer noch ein Trinkgeld vor allem dafür, daß er immer so stocksteif und vornehm wie ein englischer Butler herumgelaufen ist, so daß wir ihm den Kosenamen "James" gaben.

Schotterstraße  Schotterstraße

Die Straße, die aus dem Dorf hinausführte, war zunächst asphaltiert, dafür aber schrecklich steil. Mein Fahrrad hatte aufgrund der mittlerweile trockenen Schlammschicht ein enormes Gewicht und ich mußte erst mal schieben. Aber dann verlor das Fahrrad, vor allem die Reifen, immer mehr Schlamm und es wurde leichter. Die Sonne stach heiß vom Himmel und irgendwann hörte der Asphalt auf und wurde abgelöst von einer scheußlichen Schotterstraße, dafür wurde die Landschaft schöner. Die Sonne strahlte auf den Pazifik, der wie ein Spiegel strahlte, rechts sah man schon die Ortschaft Quidico in einer Bucht, den schönen Strand und wie sich die Wellen am Strand brachen. In Quidico machten wir Rast, setzten uns an den Strand, sonnten uns und aßen Brötchen mit Manjar.

Vor der Flutwelle  Achtung Flutwellen

Die Idylle wurde durch eine plötzliche Flutwellle gestört, die unsere Fahrräder unter Wasser setzte und meines sogar umwarf. Hinter Quidico wurde die Straße widerlich, eine Straßenbaumaschine war gerade damit beschäftigt, den Schotter umzupflügen, so daß die ganzen großen Steine in der Mitte lagen. An die zehnmal ist diese Baumaschine an uns vorbeigefahren und jedesmal hat der Fahrer fröhlich gewunken und ich wurde von mal zu mal wütender auf ihn.

Laut TURISTEL fuhren wir entlang des "Lago Lleulleu" und der Beschreibung nach soll es sich um einen sehr schönen See handeln, auf dem man an der Straße bei "Punto Lleulleu" einen wunderschönen Blick haben sollte, aber den gab es nicht. Den See habe ich kein einziges Mal gesehen. Die Straße bestand mittlerweile aus nassem Staub, daß bremste unwahrscheinlich, so daß ich auch auf gerader Strecke im größten Gang fahren mußte. Trotzdem und vor allem trotz unserer langen Pause am Strand kamen wir heute 43 Kilometer weit. Kurz vor Antiquina war die Straße wieder asphaltiert und mein Fahrrad fuhr die nächsten 5 Kilometer fast wie von alleine und selbst bergauf brummte es zufrieden mit seinen breiten Reifen. Nach Antiquina, daß kein Hotel besitzt, fragten wir bei einem Bauernhof, ob wir auf ihrer Weide zelten dürfte und es wurde uns erlaubt.

In der warmen Abendsonne brutzelten wir Pfannkuchen mit Pflaumenkompott und die Dame des Hauses kam neugierig mit ihrem kleinen Sohn herbei und fragte interessiert, was wir da kochten. Sie bekam den ersten Pfannkuchen und bestätigte uns, daß er wirklich ganz köstlich schmeckte. Sie sah aus wie eine Indianerin, stand mit ihrem langen Rock vor uns, während wir am Boden kochten, am türkisblauen Himmel zeichnete sich die Sichel des Halbmondes über ihrer Schulter ab, während sie uns neugierig ausfragte. Es wurde schnell dunkel und Sternbild des Orions war zu erkennen - ein sehr romantisches Candlelight- Dinner.

Als wir uns ins Zelt zurückgezogen hatten, hörten wir, wie die kleinen schwarzen Schweinchen, auf deren Wiese wir zelteten, draußen nach unserem Abfällen suchten und die ganze Zeit fröhlich dabei grunzten.

Cañete, 05.05.1995

Als wir am Morgen das Zelt öffneten, stand die ganze Schweinefamilie erwartungsvoll vor uns und schien zu betteln. Nützlich waren die Allesfresser allemal - so haben sie die Eierschalen, die Papierverpackung der Butter und die Manjarpackung vollständig aufgefuttert, so daß wir den Abfall nicht mehr aufräumen mußten.

Schlammschweine  Liebenswerte Schlammschweine

Wir hatten 33 Kilometer nach Cañete, das Wetter war schön, die Sonne schien warm, die Straße war asphaltiert und wenig befahren und es ging die meiste Zeit bergab. Teilweise war die Strecke von Alleebäumen eingesäumt. Wir fuhren vorbei an einem See mit dem Namen "Lago Lanalhue", von dem man nicht sehr viel sah, weil er vollständig eingezäunt war. In nur zwei Stunden waren wir in Cañete, doch bevor ich dort ankam, hatte mich fast ein mit Holz beladener Lkw überfahren, der links abbiegen wollte. Da ich auf der Hauptstraße geradeaus fuhr, dachte ich mir nichts dabei und hielt nicht an - ich dachte der Lkw würde mir Vorfahrt gewähren. Doch er bestand auf das in Chile gewohnheitsmäßig geltende Recht des Stärkeren und erst als wir beide merkten, daß hier irgend etwas falsch läuft, mußten wir beide eine Vollbremsung hinlegen und sein Anhänger schleuderte ein wenig herum. Am liebsten hätte ich den Fahrer meine Meinung gesagt, aber als ich neben meinem Fahrrad stand, hatte er sofort Vollgas gegeben und ist links abgebogen. Nachdem meine Wut verflogen war hatte ich eine Zeit lang ganz zittrige Knie und mußte erst mal eine kleine Pause machen.

Als wir in die Stadt rollten, setzten wir uns erst mal auf den Plaza de Armas und stellten die Fahrräder neben uns ab, um den TURISTEL zu studieren. Wie gewohnt wurden wir neugierig begafft, besonders von den vielen Schulkindern in ihren blau- weißen Schuluniformen. Unweit des Plazas fanden wir ein komfortables Hotel für wenig Geld, weil es gerade umgebaut wurde und als ich unter der Dusche stand, wurde mir bewußt, daß das wirklich nicht mein Tag sein könnte. Als ich das Wasser in der Sitzdusche andrehte, erschrak ich, weil es so schrecklich heiß war. Ich rutsche aus und schlug mit meinem Rücken und Kopf voll auf den Sitz der Wanne auf, die Beine nach oben, wie auch sonst in dieser engen Wanne. Das heiße Wasser prasselte auf meinen Körper und ich war total benommen, ich konnte überhaupt nicht reagieren. Ich hatte Angst, daß ich mir den Rücken gebrochen hätte, es tat alles so weh und ich konnte meinen Kopf kaum heben. Als ich nach geraumer Zeit wieder ins Zimmer zurückkam fragte mich Micha scherzhaft, was ich so lange unter der Dusche getrieben hätte, bevor ich mich jammernd vorsichtig aufs Bett legte. Meinen Kopf konnte ich nicht mehr richtig heben, wenn ich lag, ich konnte ihn im Stehen nicht nach hinten beugen, ich konnte meine Arme nicht nach vorne ausstrecken und wenn ich aufstehen. wollte, mußte ich zunächst einmal meinen Kopf hochheben, was ich aber kaum konnte. Ich hoffte, daß sich die Beschwerden zu bald wie möglich geben würden.

Die dreckige Wäsche voller Schlamm hatten wir in eine Wäscherei gebracht, jedoch den Abholtermin am Nachmittag verpaßt, so mußten wir bis zum nächsten Morgen warten. In der Stadt gab es einen tollen Supermarkt, in dem es fast alles zu kaufen gab, sogar Gummibärchen.

Cañete ist ein berühmte Stadt. Hier wurde der spanische Feldherr Valdivia von den Mapuche-Indiandern gelyncht, als er versuchte, weiter in den Süden vorzudringen. Diese Stadt hat auch eine Festung, die wir am Abend besuchten. Was davon übrig geblieben ist, ist ein mit Steinen gepflasterten Weg und 4 Kanonen, mehr nicht. Dort, wo sie mal stand, gab es nur noch einen Sportplatz mit Kastanienbäumen und eine Schule, auf deren Umzäunung betrunkene Halbstarke wie die Affen balancierten und auf spanisch bis fünf zählten und Blätter und Ästchen von den Kastanienbäumen abrissen, um damit bei den Mädchen Eindruck zu schinden.

In dem Ort genossen wir bereits eine gewisse Art von Berühmtheit. Als wir in einem Laden Salat einkauften, fragte uns der Gemüsehändler, ob wir nicht die beiden verrückten Fahrradfahrer wären, die am Morgen hier ankamen. Am Abend suchten wir nach einem Restaurant und wie schon so oft in der letzten Zeit gab es keines oder es hieß zwar so, aber es gab in Wirklichkeit nichts zu essen. Nach zwei Stunden Irren durch das kalten Cañete landeten wir in einer Lokalität, die sich "Club Social" nannte und nach Michas Meinung soetwas wie eine gewerkschaftlich organisierte Volksküche darstellte. Diesen "Club Social" gibt es auch in Paillaco, Villarica und Pucón. Nach anfänglichen Zögern gingen wir hinein und es stellte sich heraus, daß hier sehr gute Speisen zu einem fairen Preis angeboten wurden.

Curanilahue, 06.05.1995

Es war wohl ein großer Fehler von mir darauf zu bestehen, in diesen Ort in einer Pension zu übernachten und nicht auf dem harten Boden eines Zeltes. Der Tag endete wie ein Horrorstück, aber alles von Anfang an. Dabei hatte der Tag hatte eigentlich gut begonnen, auf geteerter Straße ging es fast ohne Verkehr und einem Seitstreifen los. Es gab zwar kleinere Anstiege, aber es gab Strecken, die einem "geschenkt" wurden, es ging dann an die zwei Kilometer bergab. Die Sonne schien, aber es war kühl bis kalt, bei Abfahrten fror ich jämmerlich, besonders wenn ich bei einem Anstieg vorher tüchtig geschwitzt hatte.

Wir fuhren durch ein "Endlos"-Dorf mit dem Namen Antihuala. Die Passanten auf der Straße schauten mit offenen Mündern hinter uns her. Die Halbstarken in der nächsten Ortschaft namens Tres Pinos pfiffen und schnalzte mit der Zunge, als ich an ihnen vorbeifuhr. Auf die Dauer nervte mich diese Art der Anmache ein wenig, bis ich schließlich den "Stinkefinger" zeigte, der mit einem gequälten Lachen beantwortet wurde.

Micha wollte unbedingt romantisch im Wald zelten und Pfannkuchen mit Pilzen und Mais braten, aber ich hatte mir dummerweise in den Kopf gesetzt, in das nächste Kaff zu fahren und eine Pension zu suchen. Mir schmerzte der Rücken immer noch von dem Vorfall in der Dusche und nicht nur das, auch meine Schultern, die Hüfte, die Arme und die Knie schmerzten höllisch. Eine Schotterstraße bog zu Ortschaft Curanilahue ab. Ein Reisender wartete an der Bushaltestelle und fragte uns auf Englisch, ob wir wirklich in die Ortschaft fahren wollten. Mir kam die Frage komisch vor, aber ich kannte den Ort schließlich noch nicht. Uns erwartete eine Art Bergarbeiter-Slum, dreckig und die Luft voller Rauch. Wir suchten so eine Art Stadtmitte und fanden schließlich einen Taxifahrer, den wir nach einem Hotel fragten. Der sagte uns, daß es zwei Hotels gäbe, die in sich in derselben Straße befänden.

Was sich zunächst toll anhörte, offenbarte sich als Alptraum. Das erste Hotel war zugeschlossen und die Angestellte, die wir durch die Fenster hindurch erkennen konnten, traute sich nicht, hinter der Theke hervorzukommen. Die Eingangstür war zur Hälfte mit einer Art Jalousie geschlossen aber Micha traute sich hineinzugehen und zu fragen, ob es ein freies Zimmer gebe. "Was, ein Zimmer, ähh", so ging es einige Zeit. "Ein Zimmer für die Nacht...ääh..", es schien fast so, als ob die Frau nicht wüßte, was ein Zimmer wäre, meinte Micha. Er versuchte alle Synonyme für Zimmer und Unterkunft, sprach die Wörter deutlich aus und gestikulierte mit Händen und Füßen, aber ohne Erfolg, die Frau verstand nicht, was wir wollten. Das gegenüberliegende Hotel sah zu schäbig aus, also suchten wir nach dem dritten Hotel, von dem uns der Taxifahrer erzählt hatte. Ein ekeliger Penner mit zerschlissener Kleidung und Sohlen, die beim Laufen von den Schuhen herunterhingen, bot sich an, uns bei der Suche behilflich zu sein. Die Unterkunft erwies sich als etwas, für das man separat für den Tag und für die Nacht bezahlen mußten. Wir lehnten dankend ab, Micha meinte, es müsse sich wohl um eine Art Stundenhotel handeln. Der Penner führte uns dann durch verwinkelte Gassen zu einer weiteren Unterkunft, was von außen schon wie ein dreckiger Verschlag aussah. Micha traute sich trotzdem hinein und kam nach einem kurzen Augenblick wieder heraus, um unter lautem Protest kundzutun, daß er keine Sekunde darin bleiben würde, auch wenn man ihm Geld dafür bieten würde. Es wurde ihm wohl so eine Art Kartoffelkeller mit zwei Strohsäcken als Matratze angeboten. Wir gingen also zu den Hotel zurück, daß dem mit der ahnungslosen Frau gegenüber gelegen war.

Micha zog sofort eine Zeltplane über das Bett. Okay, es war nicht sehr sauber und es roch auch nicht besonders gut, die Fenster waren blind vor Staub, an einem Fenster fehlte gar das Glas und am Schrank hing ein Pin-up-Poster, aber schlimmer als eine Jugendherberge war es nun auch wieder nicht. Wir gingen in die Stadt, um etwas zum Essen zu kaufen, falls wir kein Restaurant fanden. Nach einiger Zeit glaubten wir ein Restaurant gefunden zu haben und kauften nichts ein. Micha wollte aber noch nicht rein gehen, weil sich für seinen Geschmack noch zu früh war. Wir setzten uns also auf eine Parkbank und warteten. Es war kalt, es fror mich und ich hatte Hunger. Als wir eine Stunde gewartet hatten, gingen wir hinein und eine freundliche Bedienung sagte, daß es nur Hühnersuppe gäbe, aber im Café im zweiten Stock gäbe es auch richtiges Essen. Und als wir davor standen, war es natürlich schon geschlossen - hätten wir bloß nicht so lange gewartet...Naja, der restliche Abend war unerfreulich, ich knabberte an ein paar Keksen. Manchmal scheint man überhaupt kein Glück zu haben.

Laraquete, 07.05.1995

Dicke Luft umgab uns. Ich fuhr mit dem Bus weiter nach Laraquete, wo ich mich am Nachmittag mit Micha treffen wollte. Ich war froh, ein paar Stunden allein am Strand zu verbringen und meinen Ärger ein wenig verrauchen zu lassen. Als wir am Morgen aufwachte, war ich schlecht gelaunt, das Wetter war neblig und es regnete und ich hatte keine Lust auf Fahrradfahren. Micha war gleich wieder beleidigt gewesen, weil er sich extra für mich geteerte Straßen suchte und ich sie dann noch nicht mal fahren will. Ja, heute wollte ich mich einfach mal in den Bus setzen und einfach an meinem Zielort wieder aussteigen, ohne Anstrengung, ohne Schlammpiste usw. Ich war dafür, das wir uns in Laraquete trafen, um dort an den Strand zu gehen, ein Hotel zu suchen, von den es laut TURISTEL dort nur so wimmelte, gut essen zu gehen und heiß zu duschen.

Die dicke Luft verflog erst gegen Abend, als Micha endlich aufhörte Sätze zu sagen, wie z.B. "ich richte mich da ganz nach Dir", "wie Du meinst", "würde ich Dir jemals widersprechen?". Unsere Laune wurde besser, als wir nach einem langen Spaziergang am Strand entlang essen gingen. Wir probierten erst mal eine Snackbar, in der es aber dann keine Snacks gab, das stünde nur so auf dem Schild. Die Geschichte kam mir bekannt vor. Der Kellner verwies auf die Bäckerei nebenan, dort gäbe es leckere Empanadas, die er dann in seiner Mikrowelle gerne für uns heiß machen würde. Also ging ich in die Bäckerei, deutete auf zwei Empanadas und sagte "Dos, por favor" und glaubte, damit wären die Dinger so gut wie gekauft. Die Frau hinter der Theke stand aber da und glotze mich verständnislos an. Also zählte ich die Finger an meiner Hand und deutete noch mal auf die Empanadas. Gut, ich konnte kein Spanisch, aber Zeichensprache mußte doch jeder verstehen, dachte ich. Die Verkäuferin wich aber erschrocken zurück, als ob ich etwas unsittliches von ihr verlangte. Nach einer Zeit, die angefüllt war mit vergeblichen Deuten und zählen, gab sie mir eine Tüte und ich nahm schließlich selbst zwei Empanadas aus dem Korb. Während der langen Minuten zwischen dem zweiten Mal Deuten und der Tüte versuchte ich so ruhig wie möglich zu bleiben, schaltete einfach meinen Kopf aus und vermied jeden Gedanken, der mich wütend machen könnte. "Entspanne dich...eins, zwei, drei...durchatmen..." Ich glaube, das sollte man immer tun. Als ich nach 10 Minuten wieder bei Micha war, hatte der schon sein Bier ausgetrunken und glaubte, das ich abgehauen wäre. Er amüsierte sich köstlich über mein Erlebnis und damit waren wir auch nicht mehr böse aufeinander und gingen fröhlich in ein Restaurant zum Essen. Wir bestellten etwas, was übersetzt soviel hieß wie "Kotelett für Arme" und es stellte sich als eine riesige Portion von Fleisch mit Spiegelei, gebratenen Zwiebeln und Tomaten heraus, dazu gab es einen großen Salat. So essen also die Armen in Chile.

Als wir zurück ins Hotel kamen, wollte ich duschen. Zuerst funktionierte die Dusche nicht, daß Wasser wollte nicht heiß werden, obwohl das Zimmermädchen daran herumbastelte. Schließlich durfte in der Privatdusche in einem leerstehenden Zimmer duschen und schaffte wohl meinen persönlichen Rekord von 99einhalb Grad. Dichte Dampfschwaden zogen durch das Badezimmer, so daß ich nichts mehr sehen konnte. Ich genoß die erste richtig heiße Dusche seitdem ich aus Deutschland hierher kam.

Concepción, 08.05.1995

An diesem Tag war ich ein Stück auf der Autobahn gefahren - mit dem Fahrrad! Zunächst sind wir bei eigenartigem nebligem schwül- heißem Wetter losgeradelt und das erste Stück aus Laraquete heraus war ein fast endlos erscheinender Anstieg. Ich schwitze zwar, aber weil es so schwül war, brachte es keine Kühlung. Die Umgebung war wunderschön, die Straße war von dichtem Wald umwuchert, Nebelwolken verfingen sich an den steilen Hügeln, die Feuchtigkeit sammelte sich an den Blättern der Bäume und Sträucher, und fiel in großen Tropfen zu Boden. Aber trotz der Schwüle konnte man seinen eigenen Atem sehen.

Bergab war ich schneller als so mancher Lkw , der mit Holz von dem abgeholzten Wald rund um Curanilahue beladen waren. Ich mußte bremsen oder die Lkws überholen, auf jeden Fall mußte ich zeitweise die guten Auspuffgase einatmen und bekam den von den Lkws aufgewirbelten Staub und Dreck in die Augen. Als wir nach 14 Kilometern endlich in Lota waren, machten wir eine kleine Rast in einer Snackbar mit Selbstbedienung und aßen Hamburger. Zu jeweils zwei Hamburgern gab es ein Bier gratis und als wir weiterfuhren war ich leicht angetrunken. Wir fuhren durch eine Art Vorstadtslum auf der Suche nach dem Busterminal, aber uns wurde erzählt, daß die großen Busse nur im Nachbarort Coronel hielten; hier würde sie nur oben an der Hauptstraße vorbeifahren. Um nach Coronel zu kommen, mußten wir ein Stück Autobahn fahren und das ist besonders lustig, wenn man einen leicht vernebelten Blick hat. Kurz vor Erreichen des Ortsrandes überholte und dann übrigens trotzdem ein Bus, der wohl gerade vom Dorfplatz kam...

Als wir in Coronel ankamen gab es zwar viele Menschen, viele Kleinbussen, einen langen Stau aufgrund einer Beerdigung, aber kein Busterminal. Wir organisierten schließlich einen Minibus, dessen Schaffner aus voller Lunge "Conce, Conce!" schrie, der mich mitnehmen wollte, obwohl es eigentlich keinen Platz für Fahrräder gab. Der Schaffner knörte mein voll bepacktes Fahrrad einfach in den Gang, so daß 6 Fahrgäste in ihren Sitzen gefangen waren. Dann rannte der Schaffner, während der Bus nur langsam im Stau vorwärts kam, auf der Straße herum und schrie immer wieder "Conce, Conce!" und wollte weitere Fahrgäste für seinen halbleeren Bus finden. Als wir endlich aus der Stadt heraus waren, hielt der Bus auf freier Strecke neben auf der Straße laufender Passanten und fragte sie, ob sie nicht vielleicht nach Concepción mitfahren wollten. Der Fahrstil des Busfahrers war unübertrefflich, so fuhr er grundsätzlich nur mit Vollgas, auch in den Kurven, so daß ich mein Fahrrad fest umklammern mußte, das es nicht herumschleuderte und auf die Leute fiel, und er bremste grundsätzlich nur, wenn eine Vollbremsung möglich war.

Als wir endlich am Terminal de Busses in Concepcion angekommen waren, mußte ich mit Hilfe der Karte den Weg zur Innenstadt finden, weil ich mich am Plaza de Armas mit Micha treffen wollte. Dazu mußte ich quer durch die Stadt radeln und das in der abendlichen Rush-hour. In der Fußgängerzone sprach mich ein Tourist an und fragte woher ich komme. Er kam auch aus Deutschland und wir unterhielten uns ein bißchen, er konnte mir aber nicht sagen, wo der Plaza de Armas war. Wir standen aber direkt davor, wie ich später herausstellte. Nachdem ich Micha gefunden hatte, gingen wir auf die lange Suche nach einer Unterkunft. Die Stadt war nicht sehr billig, aber wir fanden ein sauberes Zimmer im Hostal Casablanca, Frühstück inklusive.

Concepcion, 09.05.1995

Weil Concepcion die zweitgrößte Stadt Chiles war, dachten wir das es hier Sprachschulen für Ausländer geben müßte. Wir planten eigentlich länger in Concepcion zu bleiben und ein paar Tage Sprachunterricht zu nehmen, so daß ich mich ein bißchen besser verständlich machen konnte. Nach einem üppigen Frühstück gingen wir in die Stadt, zunächst einmal zur Touristeninformation. Die konnte uns jedoch keine Auskunft geben, sei es über preisgünstige Hospedajen oder über Sprachkurse. Sie kannte nur ein "Instituto Britanico", dessen Adresse sie jedoch nicht wußte.

Wir liefen die Stadt auf eigene Faust ab, bis zum Abend und fanden nichts von dem, was wir suchten. Wir fanden ein großes Stadion, eine Kaserne, viele Hochhäuser, den Terminal de Busses, ein Hotel ohne Namen, das aber wahrscheinlich doch mehr ein Stundenhotel war. Ich war richtig fertig von dem Suchen und fror, als wir zurück ins Hotel kamen. Ich freute mich auf eine heiße Dusche, aber irgendwie funktionierte das warme Wasser nicht und ich bekam erst mal eine Fuhre Eiswasser ab. Mit Händen und Füßen machte ich der Dame des Hauses klar, daß das Wasser eisig ist (trotz meines geringen schauspielerischen Geschicks verstand sie es), aber es dauerte noch mindestens eine Stunde, bis das Wasser warm aus der Dusche kam.

Tomé, 10.05.1995

Ich war am nächsten Morgen gut gelaunt und freute mich darauf, endlich weiterzufahren, denn in Concepcion gab es nichts von Interesse. Mittlerweile schmerzte mein Rücken auch nicht mehr und ich konnte meinen Kopf auch wieder richtig bewegen. Wir frühstückten und machten Scherze über dumme deutsche Werbesprüche. Wir brachen vor Lachen fast zusammen, als wir dann noch etwas Marmelade nachbestellten. "Un momentito, por favor". Mit unglaublicher Geschäftigkeit stürmte das Zimmermädchen, die Besitzerin und die Tochter hinter die Bedienungstheke und es sah so aus, als ob das alles wegen der Marmelade unternommen werden würde. Micha meinte, sie müßten diesbezüglich wohl unsere weitere Kreditfähigkeit prüfen.

Bevor wir aufbrachen besorgten wir in der Stadt eine neue, aber stabile Luftmatratze für mich, eine Schirmmütze, denn ich hatte meine irgendwo auf der Schlammpiste bei Tiruá verloren, und den TURISTEL für Santiago und Umgebung. Ich wollte den Bus nach Tomé nehmen und wir fuhren die 5 Kilometer bis zum Terminal de Busses durch dichten Straßenverkehr. Dort fuhren aber keine Busse zu den näheren Städten, man mußte sich an ein Autobahnkreuz stellen, so wie alle anderen Chilenen auch, und einen Bus anhalten, der an das gewünschte Ziel fuhr. Ein ganz kleiner Minibus nahm mich schließlich mit und befestigte mein Fahrrad oben auf dem Dach. Der Busfahrer fuhr ausnahmsweise wie ein vernünftigter Mensch, was mir inzwischen ziemlich eigenartig vorkam. Keine Vollbremsungen, keine übertriebenen Kurven, keine gewagten Überholmanöver, was war hier falsch? Der Fahrer mußte Ausländer sein. In Tomé ließ man mich am Plaza raus und wuchtete das Fahrrad vorsichtig vom Bus herunter. Ich setzte mich auf eine Parkbank und wartete auf Micha. Alles war ruhig, bis er schließlich auftauchte. Es brach ein kleiner Tumult aus, drei lästige Schnorrer wollten überhaupt keine Ruhe mehr geben und drohten sogar mit ihren Wasserbomben zu werfen, falls wir ihnen nichts gaben. Micha stellte klar, daß er schneller rennen könnte, wenn sich einer wagen sollte, eine Wasserbombe zu werfen oder unsere Fahrräder anfaßten. Genervt gingen wir schließlich los, um uns eine Unterkunft zu suchen, irrten aber ungefähr eine Stunde durch das kleine Dorf. Schließlich wollten wir zum Hotel Roxy, als wir das Schild "Hospedaje" sahen, was eine preiswerte Übernachtungsmöglichkeit versprach. Micha fragte aber erst mal im Hotel, wie dort so die Preislage war, als mich plötzlich ein junger Chilene ansprach, als ich auf die Fahrräder aufpaßte. Es stellte sich heraus, das er der Freund des Hospedaje-Besitzers war und er sprach recht gutes englisch und ich handelte gleich mal den Preis für die Übernachtung aus. Die Hospadaje war ein richtiges Steinhaus, daß aussah wie ein Schlößchen mit bunten Kirchenfenstern. Wir hatten zuerst gedacht, es handelte sich um das Rathaus oder so was ähnliches. Der junge Chilene führte uns hinein, holte seinen Freund, ein Halbstarker, der irgendwie auf Aristokrat machte und einen weißen, langen Seidenschal um seinen Hals gewickelt hatte. Die beiden halfen uns, unsere Taschen in das Gästehaus zu schleppen und erklärten uns, wie die Dusche funktionierte. Es handelte sich mal wieder um eine dieser dubiosen Elektro- Duschen, diesmal aber in einem besseren Zustand als bei der armen Familie in Panquipulli.

Wir waren noch mal durch's Dorf gelaufen, um einzukaufen und essen zu gehen, aber als wir zurückkamen, war die Tür zum Gästehaus zugeschlossen, so daß wir nicht in unser Zimmer kamen. Plötzlich tauchte wieder der Freund des Besitzers auf, trommelte an die Haustür und machte Lärm mit der Hupe des Autos, das im Hof abgestellt war. Wir glaubten, er versuchte, den Schlüssel für uns zu organisieren. Der junge Besitzer mit dem lässig übergeworfenen Schal ließ uns ins Schlößchen eintreten, eine alte Dame mit feiner Kleidung mühte sich mit einem Stock eine Wendeltreppe hinab und gab uns beiden die Hand und verschwand in einem Raum. Die beiden jungen Chilenen führten uns durch dunkle, verwinkelte Gänge in ein eingenartiges Büro, das voll mit verstaubten Büchern gestapelt war und am Fenster hing ein ausgegilbter Stoffetzen, der vor 30 Jahren schon bessere Zeiten als Gardine gesehen haben mußte. Hier standen wir nun ein bißchen steif herum, weil wir überhaupt nicht wußten, was jetzt abging. Um die Atmosphäre ein wenig aufzulockern, zeigte uns der junge Schalträger Bücher, die von Deutschen Verfassern geschrieben waren, las uns die Namen vor und meinte "Aleman". Wir schauten sie ein wenig ratlos an, nickten und blätterten höflichkeitshalber interessiert darin herum.

Plötzlich trat eine junge Frau mit einem grauen Nonnenkragen über ihrer Bluse und einem riesigen Holzkreuz um ihren Hals in den Raum, schüttelte uns die Hand, setzte sich überaus wichtig an den mit Büchern vollgestapelten Schreibtisch und bat uns, auch Platz zu nehmen. So saßen wir wie zwei kleine Sünder auf unseren Stühlen vor der eigenartig anmutenden Dame und fragten uns insgeheim das gleiche: "Wo sind wir bloß gelandet?". Waren wir in einem Kloster oder christlichen Verein, wurden wir jetzt über unsere Konfession befragt, mußten wir den kleinen Katechismus aufsagen oder die zehn Gebote, mußten wir beten oder gar Kirchenlieder singen? Das vorgezogene jüngste Gericht? Die Szene war so absurd und ich versuchte mich krampfhaft an irgendwelche Verse aus Kindertagen zu erinnern, als sie überaus wichtig in einem kleinen Büchlein blätterte, ohne ein Wort zu sagen und mir wurde Angst und Bange, zugeben zu müssen, das wir beide kirchenlos sind und dann mitten in der Nacht eine andere Herberge suchen zu müssen.

Als sie aber endlich das Schweigen brach, wollte sie nur unsere Paßnummern, die Namen, den Beruf und das Geld für die Übernachtung im voraus. Die typischen chilenischen Formalitäten. Außerdem hatte sie immer so einen lustigen Gesichtsausdruck, wenn sie nachdenken mußte. Nach dem Schrecken war ich froh, endlich ins Bett zu kommen.

Tomé, 11.05.1995

Ganz schön gruselig war es mir in der Nacht. Abgesehen davon, daß Micha ständig über meinen Schlaf wachte und unter einem fadenscheinigen Vorwand, wie, daß ich schnarchen würde, sich von hinten anschlich und mich knuffte und dann so tat, als ob ich das ganze nur geträumt hätte, nachdem er sich mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit wieder in sein Bett warf und ich nur noch das Knarren der Federn hörte, zweifelte ich an meiner Wahrnehmungsfähigkeit. Ab und zu hörte ich Schritte in den Gängen, obwohl wir ganz allein im Gästehaus waren. Dann hörte ich Schritte, die vom Dach zu kommen schienen, doch wer mag mitten in der Nacht oben auf dem Dach herumsteigen, fragte ich mich? Ich ging zur Toilette und traute mich kaum, über den dunklen Gang zurück ins Zimmer zu gehen, nachdem ich wieder einige eigenartige Geräusche gehört hatte. Mir gingen allerlei Dinge durch den Kopf, ob die ganzen Geschichten über Geister und Spukschlösser nicht doch wahr sein könnten. Aber irgendwann lag ich wieder friedlich schlafend in meinem Bett und Punkt 10:00 Uhr wurde das Frühstück aufs Zimmer gebracht.

Wir gingen später auf den Plaza, setzten uns auf eine Parkbank, lasen Zeitung, schrieben und sonnten uns so wie viele andere Bewohner dieser Stadt. Einer von ihnen war uns schon am Vortag aufgefallen: ein dickbäuchiger Mann um die dreißig mit schmuddliger Kleidung und kaputten Reisverschluß an der Hose. Gestern saß er vor der Imbiß-Bude und freute sich über eine Tüte mit Pommes, heute saß er auch auf dem Plaza. Ständig schöpfte er Wasser vom Springbrunnen in eine Plastiktüte, schleppte diese dann zu einem Busch und leerte das Wasser darüber aus, um sich daran zu erfreuen, wie die Wassertropfen in die sich unter dem Strauch bildende Pfütze fielen. Diese Handlung wiederholte er immer wieder, ohne müde zu werden und immer wieder freute er sich und war richtig fröhlich. Es schien eine äußerst wichtige Tätigkeit für ihn zu sein, anscheinend tat er zwar immer das gleiche, aber er verwendete stets unterschiedliche Plastiktüten, die in Farbe und Größe variierten.

Strand in Tomé Am Strand in Tomé

Als wir uns an dem skurilen Treiben auf dem Plaza sattgesehen hatten, gingen wir an den Strand. Es gab dort einige interessant geformte Felsen, an den Muscheln und Seegras wuchsen. Einige Felsen hatten kleine Tümpel in der Mitte, in denen viele kleine rote und grüne Krebse lebten und sich zwischen dem Seegras versteckten, je nach Farbe entweder im grünen oder roten Seegras. Die beiden Krebsarten waren sehr aggressiv und zwickten sich gegenseitig mit ihren Scheren, wenn einer zu nah kam. Micha fachte den Streit immer wieder an, indem er die Krebse mit einem Holzstecken ärgerte. Wir liefen weiter am Strand entlang; einige dünne Rinnsale flossen ins Meer, die hoch oben von den Felsen herunterplätscherten. Micha baute den ganzen Nachmittag über Kanäle und Dämme, um die Rinnsale aufzustauen oder in eine neue Bahn zu zwingen und wartete geduldig, bis die Dämme aus Sand und Steinchen wieder brachen, um alles wieder von neuem aufzuschütten und er hatte sichtlich Spaß dabei.

Raffael, 12.05.1995

Es herrschte ein unangenehm frostiges Klima in dem Zimmer der Hospedaje, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Trotzdem zog irgendwo kalte Luft hinein und erst gegen Morgen entdeckte ich, daß der Verschluß des Fensters kaputt war und es deshalb einen Spalt offen stand. Die dicken Steinmauern strahlten zusätzlichen noch Kälte ab und tagsüber wärmte sich das Zimmer kaum auf, obwohl die Sonne recht warm schien. Deshalb hatte ich mir wohl auch diese Erkältung zugezogen und den Umstand, daß ich ständig meine Nase putzen mußte.

Als wir mit unseren Fahrrädern aus Tomé hinausfuhren, wurden wir ständig für Amerikaner gehalten. Ein kleiner Junge, um die 11, 12Jahre alt und sehr dick, schrie mir irgendetwas in einem Pseudo-amerikanisch hinterher, was sehr lächerlich wirkte. Er verfolgte mich mit seiner nicht unbeträchtlichen schwabbelnden Leibesfülle ein Stück und wollte mich einholen, dabei hörte er nicht auf zu schreien. Ich war froh, die kleine Nervensäge endlich abgehängt zu haben, vor allem, weil es sehr steil bergauf ging und es wäre nicht auszudenken, wenn er stundenlang neben mir her traben würde.

Für Micha begann der "Pannentag", wie er ihn nannte, denn gleich bei der ersten Steigung riß ihm der Schaltungszug und während er ihn reparierte, konnte ich satte 5 Kilometer Vorsprung gewinnen - die meiste Zeit bergauf schiebend. Die Strecke war steil und kurvig, führte durch dichten Tannenwald und die Luft war sehr heiß, am Horziont konnte man die schneebedeckten Gipfel der Anden erkennen.

Ich schob sehr oft an diesem Tag und nach ca 12 Kilometern ununterbrochen bergauf ging es auch endlich mal wieder bergab - mit einer schönen Geschwindigkeit, die das Fahren auf der kurvigen, wenigbefahrenen Strecke zum Genuß werden ließ. Wir fuhren bis nach Raffael, einem verschlafenen kleinen Kaff mit Schotterpiste - auf der Micha ein kleines Teil an seinem Fahrrad abbrach, daß die vorderen Gepäcktaschen hielt. In dem kleinen Ort mußten wir nun einen Schlosser finden, der auch noch ein Schweißgerät besaß, was nicht selbstverständlich ist und so fragten wir uns durch. Der Schlosser, der Michas Fahrrad reparierte, wollte noch nicht mal Geld für seine Arbeit haben. Wir fuhren noch ein Stückchen aus Raffael heraus und suchten uns im Wald einen netten Platz zum Zelten, der von unzähligen Pilzen umwachsen war. Die Pilze sahen aus wie unsere einheimischen Maronen, sie rochen sehr gut, aber irgendwie hatten wir sehr große Bedenken, ein Pilzgericht daraus zu kochen und ließen lieber die Hände davon. Wer weiß schon, die die eßbaren Pilze Südamerikas aussahen? Stattdessen brutzelten wir uns Pfannkuchen mit Pflaumenmarmelade und ließen uns satt und zufrieden vom Mond bescheinen, es war eine schöne Nacht, nicht zu kalt und sehr ruhig. Vor allem die neue Luftmatratze leistete gute Dienste, auch wenn ich die optimale Füllmenge noch nicht herausgefunden hatte und während der Nacht entweder noch ein wenig Luft hineinblies oder abließ. Gegen Morgen hatte es mich doch ein wenig gefröstelt und in meinem unruhigen Schlaf träumte ich daß ich frischgeduscht und nur mit einem Handtuch um den Schultern durch das gute alte Schweinfurt lief. Komisch, ich hatte doch gar nichts von den Pilzen gegessen...

Quirihue, 13.05.1995

Man merkte kaum, daß die Uhr bereits 9:30 Uhr zeigte, als wir aufwachten, weil es so duster in dem Wald war. Der Himmel war jedoch tiefblau und die Sonne schien durch das Dickicht auf unser Zelt. Zum Frühstück gab es Spiegeleier und Kaffee und Micha warf genüßlich große Tannenzapfen an die Bäume und freute sich, wenn er sie so schnell warf, daß sie zischten und sie nach dem Aufprall wieder zurückgeflogen kamen. Eine andere Variante seines Frühsports bestand darin, morsche Äste gegen Baumstämme zu schleudern und darüber entzückt zu sein, wenn ein Teil des Astes abbrach und wie ein Geschoß wegflog.

Die Fahrt Richtung Quirihue ging zunächst bergab, dann wurde die Straße flach, dann ging es natürlich wieder bergauf, dann wieder flach nach Coelemu, einer netten Stadt in der Flußebene des Flußes Itata, mit sehr viel Flair und südlichem Temperament so um die Mittagszeit, als wir dort pünktlich zur Siesta ankamen. Der Plaza war wie ausgestorben und wir ließen die ruhige Atmosphäre auf uns wirken, ganz ohne lärmende Schulkinder oder nervende Schnorrer. In einer kleinen Bar aßen wir zu Mittag und guckten Zeichentrickfilme, die vom obligatorischen Fernsehgerät auf uns hinabflimmerten. Um 14:00 Uhr ging es weiter, wir überquerten den Rio Itata, einen enorm breiten Fluß mit vielen Sandbänken zwischendurch. Dann ging es natürlich wieder bergauf, klar, wenn die Straße vorher stundenlang in der Küstenkordielliere bergab führte. Mir wurde es schwindlig und ich mußte schieben - Micha half mir liebenswürdigerweise dabei und irgendwann kam ein netter LKW- Fahrer auf die Idee, mich mitzunehmen. Klar doch. Er war sehr nett und wollte sich unbedingt mit mir unterhalten - und mit Händen und Füßen gab ich ihn zu verstehen, daß ich von Puerto Montt bis nach Arica mit dem Fahrad unterwegs sein werde und er war sehr erstaunt. 15 Kilometer weiter ließ er mich dann in Quirihue am Plaza de Armas raus. Quirihue stellte sich als ein verstaubtes Dorf mit vielen Cowboys dar. Micha hatte unterwegs eine Tüte voller Weintrauben geklaut, die köstlich schmeckten. Wir waren bis jetzt nämlich durch das bekannte chilenische Weinanbaugebiet gefahren, die Straßen waren von Weinstauden eingesäumt, die auf flachen Boden wuchsen, nicht wie bei uns an Hängen. Wir schienen jetzt aber in eine andere Klimazone zu kommen - dieser Landstrich erscheint im Gegensatz zum Waldgebiet bei Raffael extrem trocken und Qurihue kommt mir vor wie ein windiges Wüstenkaff. Die Leute sind hier aber sehr nett und offen. Während ich auf Micha wartete, setzte sich eine Frau zu mir und wollte sich mit mir unterhalten. Als sie merkte, daß ich kein spansich spreche, rief sie ihren Mann herbei, der englisch dolmetschen mußte.

Sandpiste bei Quirihue Sandpiste bei Quirihue

Es war jetzt schon später Nachmittag und es wurde kühler, so daß wir noch ein paar Kilometer aus dem Ort auf einer mit knietief mit Kieseln aufgefüllten Straße weiterfuhren. Widerlich. Es war es so trocken hier, daß jedes vorbeifahrende Auto eine schmerzende Staubwolke hinterließ - schmerzend für die Augen und die Lungen und ich "freute" mich schon, daß mir weitere 50 Kilometer auf dieser Piste bevorstehen würden. Abwechslung bescherrte uns ein Cowboy, dessen Pferd vor einer Straßenbaumaschine scheute und durchging und der es dann in Panik schreiend wieder beruhigen wollte. Wir schlugen unser Zelt auf einer Wiese zwischen ein paar hohen Büschen auf, in der Ferne waren Berge zu sehen, die stufenförmig aufgebaut waren und beim Sonnenuntergang je nach Stufe in verschiedenen Farben leuchteten. Dort ging auch der Vollmond auf, an diesem Tag erschien er unwahrscheinlich groß. Er schien so hell, daß man ohne weiteres während der Nacht im Freien lesen konnte. Zum Abendbrot im Mondlicht gab es Bratwürstchen auf Brötchen mit Ketchup - es schmeckte wie auf der Kirchweih.

Cauquenes, 14.05.1995

Der Tag begann, wie er am Abend geendet hatte: auf gleichmäßig großen Kieselsteinen, die knietief aufgeschüttet waren. Die Sonne stach nach der kühlen, fast taghellen Nacht heiß vom Himmel. Des Nachts war Nebel aufgezogen und irgendwelche Tiere krabbelten und knabberten vor unserem Zelt herum, Ratten oder Vögel, keine Ahnung, es war aber sehr gruselig. Unser TURISTEL gab uns die Auskunft, daß die Straße geschottert wurde, weil sie als Abkürzung für die Panamericana geplant war und in Kürze asphaltiert werden würde - nur ist die Zeitspanne "in Kürze" in Chile ein sehr dehnbarer Begriff.

Die Landschaft wurde immer trockener und staubiger, die Flußbetten waren ausgetrocknet und versandet und auch die Vegetation wurde immer karger. Irgendwann kamen wir an einer sehr lauten und sehr skurrilen Fabrik vorbei, die schon von weitem wie aus einer anderen Welt zu stammen schien. BELSACO - die Steinfabrik. Hier wurde Schotter in all den Größen hergestellt, die mir auch bis jetzt auf meiner Reise begegenet waren: Felsbrocken, grober Fels, großer Kies, feiner Kies, Steinchen, grober Sand, feiner Sand alles, was ich als Straßenbelag noch mehr haßte als Schlamm. Große Felsbrocken wurden frisch vom Berg "geerntet", gesammelt und anschließend je nach gewünschtem Endzustand auf diversen Förderbändern durch die verschiendensten Steinmühlen gejagt. Danach wurde das Endprodukt auf Lkw's geladen, die den Schotter dann auf Chiles Straßen verteilten.

Gemeine Schotterfabrik Belsaco, die gemeine Schotterfabrik

Nachdem wir das geschäftige Treiben einige Zeit beobachtet hatten stach die Mittagssonne unerträglich heiß vom Himmel herab und machte das Weiterkommen zur Qual. Erneut erbarmte sich ein chilenscher Autofahrer mit Pickup mich in die nächste Stadt - Cauquenes, mitzunehmen. Er sprach ein wenig englisch und so hatte ich erfahren, daß er Peter hieß und Ingenieur war. Irgendwann hielt er an und machte ein kleines Pläuschen mit einem Bauarbeiter, der die Straße mit Schotter von BELSACO schotterte. Später mußte er erneut halten, er erzählte mir etwas von "arbeiten" und ich dachte, er würde hier arbeiten und schmeißt mich jetzt raus. Es hatte ein wenig länger gedauert, bis ich kapierte, daß er einen Platten hatte und ich ihm dabei helfen sollte, den Wagenheber unter das Auto zu schieben. Da er anscheinend sehr viel Übung im Reifenwechseln hatte, was kaum verwunderlich war auf diesen Straßen und bei seinem Fahrstil, war er sehr schnell fertig damit. Nachdem ich mich mit Micha am Plaza getroffen hatte, nahmen wir uns ein Zimmer mit eigener Dusche und Fernsehen im "Casona de Hospedaje". Abends aßen wir wieder im Club Social, diesmal stellte es sich als ein preisgünstiges Feinschmecker- Restaurant heraus, jedoch wurde mein Genuß von einem plötzlichen und bösartigen Durchfall gestört, so daß ich auf der Suche nach einer Toilette am verständnislos dreinschauenden Kellner vorbeizischte und er mir den Weg hinterher rief, wofür ich sehr dankbar war. Die vermeintliche Chilenitis war aber nach ein paar Stunden bösen Magendrückens wieder verschwunden.

Las Campañas, 15.05.1995

Nachdem wir die Hospedaje in bar bezahlen mußten, hatten wir kein Bargeld mehr, es gab auch keine Geldwechselstube in Cauquenes und die ansässigen Banken wechselten erst ab 500 $ aufwärts. Es blieb uns nichts anderes übrig, als einen Supermarkt zu finden, der Kreditkarten annahm. In dem Supermarkt waren 4 Frauen beschäftigt, die alle zusammen jeweils einen Kunden abkassierten: eine las den Preis vom Produkt ab, die zweite tippte den Preis in die Kasse, die dritte Frau packte die Waren in Tüten und die Vierte überprüfte alles auf Ordnungsmäßigkeit. Aber alle vier Kassierinnen zusammen waren nicht in der Lage, Michas Kreditkartennummer in einem Kreditkartennummernverzeichnis zu finden. Sie wollten daraufhin Michas Karte nicht annehmen; ich hatte unterdessen jedoch schon alles in die Gepäcktaschen verstaut und wartete ungeduldig darauf, daß Micha endlich aus dem Supermarkt herauskam. Nur weil es ihnen als zu großen Umstand erschien, die Sachen wieder auspacken zu lassen, holten sie ihren Chef, der dann zunächst auch vergeblich in dem Buch suchte jedoch auf die Idee kam, bei der Kreditkartengesellschaft anzurufen.

Die Strecke nach Talca war sehr angenehm zu fahren, geteert und kaum Verkehr, mit breitem Seitensteifen und uriger Wildwest- Landschaft rund herum. Rechts am Horizont erkannte man die schneebedeckten 3000er Andengipfel. Auch die Busse erinnerten an den Wilden Westen, sie hießen hier nämlich "Bonanza" und immer, wenn uns einer dieser Busse überholte, trällerten wir die Bonanza-Melodie vor uns hin. Die Landschaft verwandelte sich in eine Art Savanne, es gab nur noch vereinzelt niedrige Büsche, dornige Bäumchen und ausgedörrten Boden und es hätte mich nicht weiter gewundert, wenn plötzlich ein Rudel Löwen aufgetaucht wäre. Cowboys mit Lassos ritten aus den riesigen Ranchen und - wie schon so oft - änderte sich das Landschaftsbild nach einem leichten Anstieg über einen Berg radikal: überall Weinfelder, wohin man auch sah, es sah plötzlich aus wie in der Toskana. Langsam war es an der Zeit, sich einen Platz zum Übernachten zu suchen, denn die Sonne ging bereits unter. Aber jede kleine Wiese war eingezäunt und die Leute, die wir fragten, trauten sich nicht uns zelten zu lassen, weil sie glaubten, der Besitzer, also ihr Brötchengeber, könnte etwas dagegen haben. Die Sonne war bereits untergegangen und es war sehr kalt, als wir noch einen Berg bis hinab ins Tal fahren mußten. Der Fahrtwind war eisig und zum Schluß waren meine Hände so kalt, daß ich sie kaum mehr fühlte, mein ganzer Körper war ausgekühlt. Aber wir hatten immer noch keine Wiese zum Zelten gefunden, es war schon dunkle Nacht. Also schlugen wir unser Zelt einfach bei einer Nebenstraße unter der Brücke eines ausgetrockneten Flusses auf. Vergeblich versuchte ich mich aufzuwärmen, die heißen Wiener Würstchen wärmten nur wenig von innen und fröstelnd und mit laufender Nase legte ich mich in meinen Schlafsack.

Talca, 16.05.1995

Der heute Tag war schön, obwohl wir beim Erwachen mit bedrohlich dunklen Wolken begrüßt wurden. Aber es klarte schon bald auf, die Sonne brach durch die Wolken, aber der starke Wind, der im Laufe der Nacht aufgefrischt war, ließ mich ein wenig auf dem Fahrrad frösteln. Ich konnte dem Wind auch etwas gutes abgewinnen, denn er blies von hinten und unterstützte mich beim Fahren. Wir kamen kurz vor der Panamericana durch einen Weinort mit dem Namen San Javier, der für jeden Fahrradfahrer ein Paradies in Chile war: der Weg führte für uns auf einem einwandfrei geteerten 2-3 spurigen Fahrradweg durch den Ort. Auch die einheimischen Fahrradfahrer waren sehr freundlich und grüßten uns gutgelaunt zurück.

Einziger Radweg auf der Reise Einziger Radweg auf der Reise

Nach dem Ort ging es dann gleich auf die Panamericana, aber auch die verfügte über einen fahrradfreundlichen breiten Seitenstreifen und hatte sogar an besonders gefährlichen Stellen eine eigene Brücke für Fahrradfahrer und Fußgänger. Dadurch wurde die Reise aber noch gefährlicher, weil man, um die Brücke zu überqueren, die Panamericana in der gesamten Breite überqueren mußte - und das ohne Ampel. Wir fuhren über riesige Autobahnkreuze auf dem Weg nach Talca und bei zwei Kreuzungen schob ich lieber. Nachdem wir im der abendlichen Rushhour in Talca ankamen und wir uns im Stop and go über die Ampeln quälten, fanden wir ein Zimmer mit südspanischen Flair: dicke Steinwände, ein hohes Zimmer ohne Fenster, das an einen Innenhof grenzte. Im Sommer muß es in dieser Gegend wohl sehr heiß werden. Am Abend kauften wir so viele Nahrungsmittel ein, daß sie eigentlich die nächsten zwei Wochen reichen müßten und kochten wie die Weltmeister in unserem Zimmer. Ich hatte soviel Hunger, daß ich fast nicht zum Esssen aufhören konnte. Trotzdem fühlte ich mich nicht wohl, denn die Symptome einer Erkältung quälte uns bereits mit Halsschmerzen und Kopfschmerzen. Wir beschlossen daher, Micha sogar freiwillig, noch einen weiteren Tag hier in Talca zu bleiben. Im Laufe des Abends bekamen wir beide Schüttelfrost.

Talca, 17.05.1995

Micha wachte mit bösartigen Kopfschmerzen auf, ich mit einer bleiernden Müdigkeit in den Knochen und beide hatten wir eine ständig laufende Nase. Schniefend schleppten wir uns dann zum Plaza de Armas, um uns dort auf einer Parkbank in die Sonne zu setzen, um uns zu wärmen. Außerdem hoffte ich, daß mich die Sonne schnell von meiner Erkältung heilen würde, das tat sie aber nicht. Die Sonne brannte auf uns herunter und meine Nase lief wie verrückt und wir verbrauchten eine ganze Rolle Klopapier. Zwei Zigeunerinnen setzten sich zu uns und wollten Geld von uns. Wir hielten unsere Sachen fest und erzählten ihnen, daß wir arbeitslos wären, keine Wohnung hätten und überhaupt nicht von hier kämen. Ohne zu zögern standen die beiden auf und gingen weiter. Langsam bekamen wir Hunger und wir schleppten uns in die nächste Cafeteria, wo wir ohne großen Appetit Hamburger und Sandwiches aßen. Da die Cafeteria "Madrid" hieß, bekamen wir nach Spanierart "Tapas" zu unserem Bier. Besonders empfehlenswert ist dieses Lokal auch, weil ich hier zum ersten mal eine Toilette fand, die sauber und gepflegt war, außerdem eine abschließbare Türe hatte und Klopapier. Auch das benutzte Toilettenpapier wurde nicht für alle einsehbar öffentlich ausgestellt, sondern es wurde heruntergespült. Diese Stadt besaß wirklich sehr viel europäisches Flair, sie wirkte spanisch mit den dekorativen Straßenlaternen, den langen Avenidas, den vielen hohen, weißen Türmchen.

Besonders eigenartig fand ich an dieser Stadt, daß man Nahrungsmittel und Gegenstände nur in bestimmten Blocks einkaufen konnte. Wenn man etwas bestimmtes brauchte, mußte man genau wissen, wo was verkauft wird. So gab es eine Straße, in der es ausschließlich Fotogeschäfte gab, eine Straße war mit Schuhgeschäften vollgestopft, dann sind wieder alle Banken und Versicherungen auf einem Haufen, gleich um die nächste Ecke begann das Automobilviertel, dann das Viertel mit den Fahrrädern und ein anderes, in dem es nur Eisenwaren gab. Alle Cafes drängen sich um einen Platz herum und auch die Supermärkte sind allesamt in einem Hauserblock angesiedelt. Am Abend voher hatten wir nämlich mindestens eine Stunde lang nach einem Gemüsehändler gesucht und sind dabei auf das Supermarktviertel gestoßen, in dem wir uns mit diesen Unmengen von Lebensmitteln eingedeckt hatten.

An unserem ersten Krankheitstag sind wir auch in das Fotoladenviertel gegangen und holten unsere Bilder ab, die wir am Vortag zum Entwickeln gebracht hatten. So schlecht, wie ich dachte, waren sie nicht geworden. Nur erweckten fast alle den Eindruck, daß die Reise ein einziger Spaß gewesen sei muß...war sie ja auch.

Talca, 18.05.1995

Als ich heute morgen um 8:05 von Micha aus meinen Träumen gerissen wurde, dachte ich eigentlich, daß das nur ein Scherz sein konnte, doch es war keiner. Obwohl ich unter einer schlimmen Erkältung litte, war Micha fest entschlossen heute weiterzufahren. Er plante, 110 km auf der Panamericana bis nach San Fernando zurückzulegen. Ich fühlte mich so elend, daß mir selbst die Reise mit dem Bus als zu anstrengend erschien, denn die Erkältung steckte mir tief in den Glieder, so das ich am liebsten den ganzen Tag geschlafen hätte.

Schlafmütze Schlafmütze

Nachdem Micha losgeradelt war, schlurfte ich am Nachmittag müde zum Busterminal. Vor zwei Tagen hatte man mir hier gesagt, daß ich für mein Fahrrad 1000 Pesos extra bezahlen müßte, um es mitzunehmen. Das wäre der doppelte Fahrpreis und dann müßte mein Fahrrad eigentlich einen Sitzplatz bekommen. Ich diskutierte lange mit dem Busfahrer - mit Händen und Füßen, und er schüttelte lange mit dem Kopf, doch ließ ich mich von meinem Vorhaben nicht abbringen, mit dem Bus zu fahren und nicht den doppelten Fahrpreis zu bezahlen. Ich löste das Gepäck vom Fahrrad, entfernte das Vorderrad, stellte den Lenker quer, ließ den Sattel in den Rahmen und als der Busfahrer endlich erkannte, wie klein mein Fahrrad plötzlich war, nahm er es ohne weiteres Kopfschütteln doch mit.

Auf der Fahrt nach San Fernando drückte ich mir meine ständig laufende Nase an der Scheibe platt, um nicht zu verpassen, wenn der Bus an Micha vorbeidonnerte. Leider mußte ich so oft niesen und mir die Nase putzen, daß ich ihn nicht gesehen hatte. Der Bus fuhr nicht nach San Fernando, sondern hielt auf dem Seitenstreifen der Panamericana, um mich aussteigen zu lassen. Also mußte ich in meinem halbtoten Zustand mit Fieber in einer höllischen Hitze ca. 3 km nach San Fernando mit dem Fahrrad fahren. Auf dem Plaza angekommen, setzte ich mich erschöpft auf eine Parkbank in den Schatten und unterhielt mich mit einer sehr netten Frau namens Maria Judith, leider auf spanisch. Mittlerweile konnte ich mich schon ein wenig verständlich machen und sie gab mir die Adresse einer Pension, die von einer Bekannten von ihr geführt wird und empfahl mir für die weitere Reiseroute die "Ruta de las frutas", die Straße der Früchte, die ich unbedingt fahren sollte, um nach Valparaíso zu gelangen.

Ich mußte fast eine ganze Stunde auf Micha warten, der Probleme hatte, mich zu finden, weil es drei Plazas in San Fernando gab. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wollte uns die von Maria Judith empfohlene Pension nach längerem Frage- und Antwortspiel nicht aufnehmen, wir fanden jedoch ein nettes Hotel im Stile der 50iger Jahre, daß sehr preisgünstig war und ein cooles Badezimmer hatte: ganz in schwarz. Das Zimmer war sonnenbeschienenen und angenehm warm und während ich halbtot und jammernd mit Schüttelfrost im Bett lag, eilte Micha in die Apotheke und holte mir etwas gegen Grippe. Der Apotheker kannte uns schon, weil wir auf der Suche nach einem Hotel ein paar Mal an seinem Geschäft vorgekommen waren und meinte belustigt, daß es ja kein Wunder sei, daß wir uns erkälten, wenn wir immer mit dem Fahrrad in der Gegend rumfahren, jetzt im Winter. Er gab uns Tabletten ohne Verpackung und Beipackzettel mit der genauen Anweisen, wann ich wieviel davon nehmen sollte. Die Tabletten waren so stark, daß ich mich zwar nach kurzer Zeit viel wohler fühlte, dafür aber entsetzlich müde wurde.

San Fernando, 19.05.1995

Die Nacht hatte ich sehr unruhig verbracht. Trotz der Tabletten wachte ich ständig schweißgebadet auf und habe fast 2 Liter Limonade getrunken. Am Morgen bereitete ich das Frühstück im Hotel: Mit dem Gaskocher auf dem Tisch kochte ich Eier, schmierte Brote und ich fühlte mich ein wenig besser als am Tag zuvor.

Gegen drei Uhr am Nachmittag gingen wir in die Stadt und kauften uns eine chilenische Tageszeitung, den "El Mercurio", weil auf der Titelseite unser Kanzler Kohl prangerte und wir wissen wollten, was daheim so wichtiges los sei, daß er am anderen Ende der Welt Schlagzeilen machte. Wir waren überrascht, wieviele Artikel sich mit Deutschland beschäftigten: da war etwas über den Außenminister Kinkel zu lesen, über den Prozeß von Opel gegen Volkswagen und eine Geschichte über Ignacio Lopez. Außerdem war zu lesen, daß ein deutscher Bergsteiger in den Anden erfroren sei.

In richtiger Urlaubsstimmung wollten wir abends ausgehen. Wir suchten uns eine nette Kneipe, um ein Bier zu trinken. Dann versuchten wir ein chilenisches Chinarestaurant, in dem das Essen mehr chilenisch als chinesisch anmutete. Das Bier war billig, so daß wir nachts gut gelaunt unserem Hotel entgegenschwankten.

San Fernando, 20.05.1995

Am Morgen wachte ich mit dicken Kopf und verstopfter Nase, Schüttelfrost und sehr müde auf. Meine Erkältung war zurückgekommen und das gab natürlich Verstimmung bei Micha, weil er sich langweite und weiterfahren wollte und er war schrecklich enttäuscht, daß ich mich noch weiter auskurieren wollte. Zwar hatte er mir am Vorabend versprochen, wir könnten ohne weiteres einen weiteren Tag im Hotel bleiben, wenn es mir noch schlecht gehen würde, aber dann war er doch beleidigt.

Schmollend ist er am späten Nachmittag mit mir spazieren gegangen. Wir stapften mitten durch den Fluß 'Tiguirrica', der vollkommen ausgetrocknet war. Dort entlang des Flusses wohnten die armen Leute, ein richtiger Slum aus Holzverschlägen. Die Feriensiedlung nebenan hatte sich vor lauter Angst in meterhohen Betonmauern verschanzt.

Von unserem Hotelzimmer wurden wir Zeugen eines Umzugs anläßlich eines chilenischen Feiertags am 21. Mai. Es kam mir vor, als ob sämtliche Soldaten des Staates aufmarschierten, da gab es Bergsoldaten mit weißer Uniform und Skibrettern, Soldaten mit Schneeschuhen, Politessen, Bergminenpolizei, Feuerwehrmänner, berittene Polizei, alles defilierten in Formation an unserem Zimmer vorbei.

Abends ernteten wir böse Blicke von der Wirtin eines Restaurants, weil wir nicht zur chilenischen Essenszeit (zwischen 21:00, 22:00 Uhr), sondern schon um sieben Uhr erschienen waren. Vielleicht hatte sie ja auch nur Migräne.

El Manzano, 21.05.1995

Als ich aufwachte, fühlte ich mich richtig frisch und ausgeruht, kein Vergleich zum Vortag. Ich machte mich sofort daran, zu packen und mich anzuziehen, so daß wir sehr früh loskamen. Die Strecke führte ca. 2 km über die Panamericana, wo gerade ein Trupp amerikanischer Touris über eine Betonmauer geklettert kam. Wir mußten irgendwann links in eine Landstraße einbiegen und dabei die ganze Panamericana in ihrer Breite überqueren. Micha war schon auf der anderen Seite und radelte weiter, als ich vorsichtig wartete, bis die Fahrbahn frei wurde. Ein Stück neben mir überquerte ein Hund die Fahrbahn, der sich dann plötzlich in einem Seil verfangen hatte, sich aber von selbst davon befreien konnte. Abgelenkt setzte er seinen Weg fort und trotz meines Rufens, rannte er in einen LKW, der ihn mit sich riß. Er wurde durch die Luft geschleudert und flog in den Straßengraben, man hörte nur einen kurzen Schrei. Der LKW hätte ohne weiteres ein Stückchen ausweichen können, es waren nur ein paar Zentimeter und der arme Hund wäre mit seinem Leben davongekommen. Geschockt überquerte ich die Panamericana und mir liefen Tränen vor Mitleid und Wut über das Gesicht. Manchmal ist das Leben unfair.

Nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, ging die Fahrt auf der angenehm flachen "Ruta de las Frutas" weiter. Die Strecke führte leicht bergab und war mit dem zusätzlichen Rückenwind sehr gut zu fahren. Landschaftlich wurde man durch den Blick auf die schneebedeckten Anden und die hohe Küstenkordillieren verwöhnt. Die Straßen war eingesäumt von Obstbäumen aller Art, Zitronen- und Orangenbäume, Apfel- und Birnbäume, nicht zu vergessen die sehr dekorativen Tamarillobäume. Wir entdeckten riesige Kakteenhaine, Kakteen von der Art, die normalerweise in der Wüste wachsen. Die Straße führte mitten durch eine große Fundo namens "Rosaria", deren Besitzer für seine Landarbeiter eine eigene Schule und Sportplatz zur Verfügung stellte und am Straßenrand wuchsen sehr alte und mächtige Alleebäume.

Die Strecke war so gut zu fahren, daß ich fast ohne Anstrengung 80 Kilometer weit gekommen bin und hätte nicht die hereinbrechende Nacht schon mit der tiefstehenden Sonne gedroht (die Sonne ging irgendwann zwischen 6 und 7 schlagartig unter), wäre ich bestimmt an die 100 Kilometer weit gekommen. Langsam mußten wir uns einen Platz zum Zelten suchen, doch die ganze Straße war auf beiden Seiten vollkommen eingezäunt, so daß kein freies Stück Wald oder Wiese zu finden war. Wir fragten eine Bäuerin, die uns aber nicht auf ihrem Grundstück zelten lassen wollte. Ein junger Mann, der bei der Bäuerin beschäftigt war, wollte gerade mit dem Fahrrad nach Hause fahren und fragte uns, ob wir nicht bei ihm daheim vor dem Haus seiner Eltern zelten wollten. Weil es schon dunkel wurde, folgten wir ihm dankbar. Der Weg führte rechts von der Hauptstraße ab, wurde immer schmaler und endete in einem Trampelpfad.

Als wir endlich bei ihm zu Hause waren, blickten wir auf ein uriges Anwesen, auf dem zwei Lehmhäuser standen und ein sehr eigenartiges Iglu, daß auch aus Lehm bestand. Sofort versammelte sich seine vielköpfige Familie um uns, wir wurden warm und freundlich empfangen, die neugierigen Augen verfolgten jeder unserer Handgriffe. Sie bemühten sich, den besten Standort für unser Zelt auf dem harten Lehmboden ausfindig zu machen. Als wir uns unter tausenden von Ratschlägen für eine Stelle entschieden hatten, kamen sie sofort mit Schaufel und Besen angerannt, um die Pferdeäpfel wegzuschaffen. Micha baute das Zelt auf und er kam sich vor wie bei einer Theateraufführung. Wir setzten uns in daß Zelt, schlossen den Reißverschluß und atmeten erst mal tief durch. Ich wollte mich unbedingt umziehen und ein wenig frisch machen. Doch kaum saßen wir ein paar Minuten im Zelt, da wurden wir durch eine Abordnung der Familie ans Feuer in einer der Lehmhütten gebeten, um mit der Familie einen Kaffee zu trinken. Die eine Hütte diente als Küche, die nur aus drei Wänden bestand. Im Boden gab es eine Feuergrube, an der die Dame des Hause das Feuer schürte . Dort wärmten sich auch zwei kleine Kätzchen und ein winziger Hund mit weißem Fell und einem schwarzen Fleck am Auge, der kaum größer als eine Ratte war, so einer wie der von den kleinen Strolchen. Die andere Lehmhütte diente als Schlafraum für die Familie. Wir sollten uns zunächst auch ans Feuer setzten und einen Kaffee trinken. Über dem Feuer brutzelte das Abendessen der Familie und wir wurden zu knusprig gebratenem Schweinefleisch, Weißbrot und Wein eingeladen. Es gab keinen Strom, das Licht stammte von der Feuerstelle und von einer Kerze auf dem Tisch. Der Familienvater war etwas betrunken und redete mit einem unverständlichen Dialekt auf Micha ein, der verzweifelt versuchte, etwas zu verstehen. Wahrscheinlich waren die meisten Chilenen an diesem Tag mehr oder weniger betrunken, denn der 21.05. wurde von den stolzen Chilenen als so eine Art Nationalfeiertag gefeiert, an dem Tag, als sie im Krieg gegen Bolivien und Peru gewonnen hatten. Überall waren Chileflaggen gehißt, sogar die Supermarktkette "Las Brisas" schmückte sich mit Flaggen. Micha wollte, daß ich mich mit ihm unterhalte, damit er nicht mehr mit dem betrunkenen Hausherrn reden müßte. Mittlerweile stellten an die 15 Leute Fragen aus der Dunkelheit heraus, natürlich alle durcheinander. Müde kapitulierten wir und gingen früh zu Bett, von der Familie mit der Kerze zu unserem Zelt geleitet.

San Pedro, 22.05.1995

Wir wurden von lauten Hahnengeschrei aus dem Schlaf gerissen. Die Nacht war kalt gewesen und es schien, als ob tausende von Hunden gebellt hätten. Unter dem Chor der Hunde hatte ein besonders lautes Vieh hervorgeglänzt, dem man am liebsten den Hals umgedreht hätte. Selbst dran schuld, wenn man mitten in einem Wohngebiet zeltet. Als es zum dämmern anfing, konnte man auch nicht mehr auf der Pferdekoppel auf die Toilette gehen, weil vor dem Zelt schon viele Leute unterwegs zur Arbeit waren.

Als wir aus dem Zelt krabbelten, wurden wir sofort in die Küche zum Frühstück eingeladen. Es waren nur noch der junge Mann mit dem Fahrrad, zwei Schwestern und seine Mutter da; der Rest der Familie war entweder in der Schule oder war arbeiten. Die Mutter kochte Kaffee über dem offenen Feuer und unterhielt sich mit uns. Die beiden Mädchen mußten erst nachmittags in die Schule gehen und genossen den freien Vormittag. Uns wurde erzählt, daß die Schulpflicht in Chile 9 Jahre dauert und das Mädchen, daß aussah wie 14 behauptete, in die 3. Klasse zu gehen, vorausgesetzt, wir hatten alles richtig verstanden. Die Mutter, die den ganzen Tag an der Feuerstelle zu sitzen schien, war auffallend intelligent. Sie sah sehr verbraucht aus, mager, abgearbeitet, obwohl sie noch nicht sehr alt war. Aus dem Radio mit Batteriebetrieb dudelte ein Verschnitt aus bayerischer Volksmusik und südamerikanischen Salsa und ab und zu hörte man ein paar Jodler. Wir bekamen Kaffee und Brötchen mit Manjar und eine Avocado zum Frühstück.

Danach packten wir unsere Sachen und bauten das Zelt ab und wurden wieder mit peinlicher Aufmerksam von den beiden Mädels dabei beobachtet. Micha schenkte ihnen zum Abschied eine Orange und ein Säckchen mit Piniones, die sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatten. Wir mußten ihnen erklären, wie man sie zubereitet und ißt und es war seltsam, Chilenen etwas typisch chilenisches zu erklären.

Lustige Frisur bergauf und Rückenwind Bergauf und Rückenwind

Wir befanden uns auf den Weg zur Küste und die Gegend erschien immer wüstenhafter zu werden. Es tauchten wieder diese Savannenbäume auf und die Hitze der Sonne quälte mich. An der "Cruce las Arañas", stand eine riesige Hühnerzuchtanlage, die einen erbärmlichen Gestank verbreitete und wir entschlossen uns hier, den Weg nach San Antonio einzuschlagen.

In San Pedro, einem mickrigen, kleinen Kaff, machten wir im Stadtpark unsere Mittagspause, saßen schwitzend im Schatten und aßen Chips und Käsbrötchen und beobachteten einen Gärtner bei seiner tagesfüllenden Tätigkeit, die darin bestand, auf einem klitzekleinen Stückchen Wiese durchlöcherte Colaflaschen, in denen ein Schlauch steckte, auf der Wiese hin und her zu schieben. Wir wurden von einem Passanten gefragt, warum wir ausgerechnet im Winter eine Fahrradtour durch Chile machen, wenn es doch so eisig kalt ist, gerade mal 20, 25 Grad...

Wir kamen in eine Gegend, in der Frutillas - also Erdbeeren - wuchsen und verkauft wurden. Erdbeeren im Spätherbst, das war auch für Chilenen etwas besonders. Sofort entschlossen wir uns, bei einem der Gärtner Erdbeeren zu kaufen. Man wollte uns gleich ein Kilo in einer riesigen, massiven Holzschachtel mitgeben und baten um kleinere Dimensionen. Also wurden wir in den Garten eingeladen, wo die Frau des Gärtners mit einem bunten Sommerkleidchen fleißig Erdbeeren pflückte und dabei zu bayrisch-chilenischer Musik pfiff. Wir aßen unser halbes Kilo Erdbeeren sofort auf und durften nicht weg gehen, ohne noch ein riesige Schüssel mit Äpfelchen mitzunehmen, natürlich gratis. Anstandsweise mußten wir das Mehrgepäck auf unseren Fahrrädern mitnehmen, was uns angesichts des bevorstehenden steilen Berges recht unangenehm war, aber was soll man denn bei solch einer Gastfreundschaft anderes tun?

Zeltaufbau in 2,5 Minuten Zeltaufbau in 2,5 Minuten

Nachdem wir diesen Anstieg erklommen hatten, suchten wir auch schon wieder ein Stück Wiese für den Abend. Es gab aber nur sehr offene Kuhweiden mit Dornengebüsch und Disteln, nicht sehr zelt- und fahrradfreundlich. Wir fuhren bis auf die Passhöhe und stiegen dort über einen Zaun, um weit weg von der Straße unser Zelt aufzubauen. Ein berittener Bauer passierte zwar unser Zelt, sagte aber nichts, so daß wir davon ausgegangen sind, daß er nichts gegen unsere Belagerung einzuwenden hatte.

Cartagena, 23.05.1995

Was ich doch nur für ein Pech hatte! Am morgen schoben wir unsere Fahrräder vorsichtig über die Wiese, damit wir nicht versehentlich mit den Reifen in eine Distel oder ein Dornengebüsch gerieten und als ich fast schon auf der Straße war - pfffffffffff - da lag doch mitten auf der Wiese, unentdeckbar, ein einsamer Dorn, der nur auf meinen Reifen gewartet hatte und sich tief hineinbohrte. Der Dorn war mindestens 2 cm lang und als ich ihn herauszog, war mein Reifen in kurzer Zeit platt.

Aber bei Micha geht Reifenwechseln mittlerweile fast so schnell wie bei Schumi...

Es ging zunächst wieder bergauf, aber dann ging es erfreulicherweise nur noch bergab bis San Antonio an der Küste. Vor der Stadt setzten wir uns erst mal in ein schattiges Bushäuschen, um im TURISTEL nach den Hoteladressen zu suchen. Währenddessen wurde auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Fahrradfahrer von einem Jeep von der Straße gekickt, und obwohl der Radler vom Fahrrad stürzte, machte der Autofahrer trotz vieler Zeugen überhaupt keine Anstalten, überhaupt stehen zu bleiben. Es rollte er langsam an Fahrrad und Radfahrer vorbei, gab dann Gas und raste davon. Beeindruckt von den Sitten dieses Landstriches schoben wir unsere Fahrräder in die Innenstadt. Die Innenstadt lag hoch oben auf einem. Dort in der Stadtmitte fanden wir auch die Hotels, die aber alle nicht in unserer Preisklasse lagen. Zwei Männer, die in einem der Hotels residierten, gaben uns den Tip, in der nächsten Ortschaft, Cartagena, nach einer Unterkunft zu suchen, weil es dort viel preisgünstiger sei. Sie gaben uns auch noch den Ratschlag, besser hier zu Abend zu essen, weil es in Cartagena keine Restaurants gäbe. Wir suchten uns eine nettes Restaurant, mit hauseigenem Auto- und Fahrrad-Wachdienst.

Pazifik bei San Antonio Pazifik bei San Antonio

Als wir später in Richtig Cartagena aufbrachen, riß Michas vorderer Bremszug, glücklicherweise an der schönsten Stelle auf der Strecke: schroffe Klippen und Wahnsinnswellen, die daran zerschellten. Mittendrin lag eine Seehund-Familie beim sonnenbaden auf einer Klippe.

Nach der Reparatur fuhren wir weiter nach Cartagena und der Fischgestank wurde Meter um Meter schrecklicher. Kurz hinter San Antonio fanden wir die Ursache: eine Fischfabrik, die einen Gestank verbreitete, für die es keine Beschreibung gibt und der einem fast den Atem nahm. In Cartagena gab es mindestens 100 Recidenciales und wir nahmen das erste hinter dem Plaza für 20.- Mark die Nacht. Irgendwo stand, daß für das warme Wasser zwei Mark extra zahlen sollten und das man schon um 8.00 Uhr am nächsten Morgen das Zimmer zu räumen hätte; der Konsum von alkoholischen Getränken und das Zubereiten von Speisen wäre auch verboten, drohte dieser Anschlag in unserem Zimmer. Nach einer kalten Dusche kauften wir Bier und Cornflakes und waren fest entschlossen, unser Zeitlimit erheblich zu überschreiten, ohne extra zu bezahlen.

Algarrobo/Casablanca, 24.05.1995

Ich wachte mit üblen Kopfschmerzen und schmerzenden Augen auf, so daß ich als allererstes zwei Aspirin nehmen mußte. Wir frühstückten Cornflakes mit Schokoladenmilch und Durazno-Joghurt, packten gemächlich alles zusammen und waren bereits um 10:45 Uhr fertig zum gehen. Die Dame des Hauses sagte aber überhaupt nichts wegen der Uhrzeit.

Am Strand bei San Antonio Am Strand bei San Antonio

Unterwegs machten wir auf einem nett angelegten Platz eine Rast und ich kochte mir einen Frühstückskaffee. Am Nachmittag fuhren wir an den Strand und dort, wo die Wellen am höchsten schlugen, setzten wir uns in den Sand und brutzelten Pfannkuchen. Es war ein großartiges Gefühl von Freiheit, alles bei sich auf den Fahrrädern zu haben, was man zum Leben braucht und sich einfach an eine schöne Stelle setzen zu können, um sich ein Mittagessen zuzubereiten. Im warmen Sand zu liegen, das Rauschen des Meeres zu hören und die Gewißheit zu haben, daß es keine wichtigen Termine oder Verpflichtungen oder Verpflichtungen gab, die man verpaßte, das war und ist ein großes Glücksgefühl. Hier konnte ich nicht erreicht werden, die Welt mußte warten, bis ich mit ihr Kontakt aufnehme. Und das war eine Art von Macht. Nebenan war gerade eine verwegen aussehende Gruppe chilenischer Taucher, die mich zunächst etwas beunruhigte. Es stellte sich aber bald heraus, daß sich die Chilenen wohl mehr Gedanken wegen unserer Anwesenheit machten, denn sie brachten unauffällig ihre Habseligkeiten in sichere Entfernung...

An einer Tankstelle, an der wir Benzin für Michas Kocher kaufen, fand ich in einem Karton neben dem Müll einen ganzen Wurf schwarzer Welpen, die ausgesetzt geworden waren. Die Kleinen zitterten und jaulten und ich wußte nicht, was ich machen sollte. Mitnehmen konnte ich sie nicht, ich wußte auch nicht, wohin ich sie bringen sollte - Tierheime gab es nicht. Also streichelte ich sie und mußte sie schweren Herzens zurücklassen, in der Hoffnung, das sie doch noch jemand mit nach Hause nehmen würde und versuchte, daß ganze so schnell wie möglich zu vergessen.

In Algarrobo versuchten wir ein Zimmer zu bekommen, damit ich am nächsten Morgen gleich einen Bus nach Valparaíso fahren konnte. Die Strecke nach Valparaíso war mir zu gefährlich, denn sie führte über eine mehrspurige Autobahn, außerdem mußte man die Küstenkordilliere überqueren und dazu hatte ich keine große Lust. Das Preis-Leistungsverhältnis stimmte bei den Hotelzimmern nicht überein, so daß wir beschlossen, noch ein Stück weiter zu radeln und irgendwo in der näheren Umgebung unser Zelt aufzuschlagen. Die Zeit drängte, die Sonne stand schon tief und die Strecke führte bergauf, vorbei an Villen für reiche Feriengäste aus Valparaíso und Santiago und natürlich war alles eingezäunt und das Betreten war wie immer strengstens verboten, obwohl es sich teilweise nur um einsamen Wald handelte. Ein riesiges Ferienarsenal reihte sich an das andere und ich dachte schon, wir müßten die ganze Nacht hindurch bis nach Valparaíso fahren. Micha schaffte mal wieder das unmögliche und fand in einem Eukalyptuswald eine nette und ruhige Stelle zum Zelten.

Valparaíso, 25.05.1995

Weil wir am Abend noch so weit fahren mußten, um eine Schlafstelle zu finden, waren es nur noch 25 Kilometer bis Casablanca. Der Tag begann kühl und nebelig, jedoch als ich aus dem Zelt kroch, fing die Sonne an zu scheinen. Trotzdem war der Fahrtwind unangenehm kalt und ich wußte nicht, wie ich mich anders aufwärmen konnte, als fest in die Pedalen zu treten. Micha meinte, es wäre richtig unheimlich, daß ich plötzlich so schnell wäre und er überhaupt nicht mehr auf mich warten müßte, obwohl es ständig bergauf ginge. Die Straße ging nur ganz flach bergauf, so daß es aussah, als ob sie bergab führte. Fahrradfahrer kennen dieses Phänomen: da freut man sich, daß man ein Stückchen rollen kann und dann muß man doch ständig treten.

In Casablanca nahm ich einen Bus nach Valparaíso, und es gab überhaupt keine Diskussionen mit den Schaffner, als ich einstieg. Dumm war nur, daß an der nächsten Haltestelle nach Casablanca ein Kontrolleur der Pullman-Verwaltung einstieg und dem Schaffner wie ein Fuchs auf die Finger schaute. Also gab mir der Schaffner einen Fahrschein mit dem üblichen Fahrpreis von 350 Pesos, schrieb aber auf die Rückseite etwas von 600 Pesos und meinte, daß er mir das Geld später rausgibt. Anscheinend müssen die Pullman-Schaffner für größeres Gepäck, wie z.B. Fahrräder, immer etwas extra verlangen. Als der Kontrolleur wieder ausstieg, gab mir der Schaffner 250 Pesos heraus, verlangte meinen Fahrschein und strich die 600 Pesos energisch durch. So nett können Schaffner sein...

Am Busterminal in Valparaíso baute ich mein Fahrrad zusammen und begab mich zum Treffpunkt, dem "Plaza O'Higgins", der genau gegenüber des Terminals lag und gleich neben dem Nationalkongreß, der aussah wie das Müllkraftwerk in Schweinfurt. Sogar der Farbton war dergleiche, häßlich rosa. Kurz nachdem ich mich auf dem Plaza auf eine Bank gesetzt hatte und sofort von bettelnden Tauben umringt war, gesellte sich ein älterer Herr, um die sechzig und einen etwas vergammelten Eindruck verbreitend, zu mir und fragte mich aus, woher ich komme und ob ich mit dem Fahrrad unterwegs sei. Dann machte er mich ganz besorgt darauf aufmerksam, daß es hier in Valparaíso sehr viele Diebe und Räuber gäbe und ich mein Geld nicht in die Außentaschen meiner Jacke stecken sollte und niemanden die Uhrzeit sagen sollte, wenn ich danach gefragt werde. Auf gar keinen Fall sollte ich nachts zum Busterminal oder auf diesen Plaza kommen, weil man mit einem Raubüberfall rechnen müßte. Wie ich das alles verstanden hatte? Mit Zeichensprache und einigen bereits erworbenen Spanischkenntnissen. Nach seinen Warnungen wollte ich eigentlich mein Fahrrad mit dem Bügelverschluß sichern, aber der Verschluß klemmte. So lange hatte ich den Sicherheitsbügel schon nicht mehr benutzt, daß er schon ein wenig eingerostet war.

Ein Banker, an die 30 Jahre alt, eilte mit einer Präsentationsmappe unterm Arm an mir vorbei, zwinkerte und rief mir irgend etwas zu, das ich nicht verstand. Ich langweilte mich und fütterte zum Zeitvertreib die Tauben mit alten Keksen, als nach ein paar Minuten dieser Banker schon wieder an mir vorbei lief, mir diesmal aber unbedingt die Hand geben wollte und mir einen Schmatzer auf die Backe gab, was mich wohl ziemlich überrascht gucken ließ, so verlumpt wie ich mittlerweile herumlaufe. Er fragte mich, woher ich komme, wohin ich gehe und ob ich ein Tourist bin (was für eine eigenartige Frage, wenn ich die Sprache nicht verstehe!!). Schließlich erzählte er mir, daß ich "lindo" sei und wunderschöne Augen hätte. Zum Abschied gab er mir noch mal die Hand.

Nach einer Weile bemerkte ich, daß sich auf der Bank neben mir mittlerweile ein Penner niedergelassen hatte und unbeeindruckt von den vorübereilenden Passanten tief und fest schlief. Micha kam wenig später und - fast im gleichen Augenblick kamen fünf Penner angerannt und bettelten ihn um Geld an.

Wir gingen los, um eine Unterkunft zu suchen. "Valparaíso", das paradiesische Tal, der Name versprach mehr, als einem geboten wurde. Vielleicht damals, als Charles Darwin an diesem Ort verweilte, war es ein Paradies, mittlerweile war es eine hektische, überaus lärmende und stinkige Stadt, voll von Abgasen, voll von Autos. Es war ein Horror, durch die engen Straßen voller Menschen und Autos die bepackten, schweren Fahrräder zu schieben und über die an die 30 Zentimeter hohen Bordsteine zu wuchten. Es stellte sich nach langem Suchen heraus, daß die erste Unterkunft auch die beste gewesen war. Etwas "abgefuckt" sah das Residencial Geminis II schon aus, das Bett bestand nur aus einem schlecht zusammengeschusterten Holzrahmen, die Auflage war ein hartes Holzbrett und die Matratze ein Stückchen Schaumstoff. Doch das größte Abenteuer waren die Duschen: nachdem unser Körper zuerst mit eiskalten Wasser in Berührung kam, manipulierten wir (unerlaubt) etwas an der Wärmeregelung herum und es kam nur heißes, fast kochendes Wasser aus der Dusche. Also drehte ich das kalte Wasser auch auf. Nach einigen Sekunden angenehmer Duschtemperatur bekam die Dusche "Schluckauf" und als ich vor Schreck das kalte Wasser abdrehte, kam nur noch Wasserdampf aus dem Duschkopf und bedampfte mich. Nach ein wenig Nachmanipulation bekamen wir die richtige Temperatur hin und die an den Wänden des Gemeinschaftswaschraums empfohlenen "5 minutos maximo" überschritt ich um fast eine halbe Stunde und niemand sagte etwas.

Micha starb fast vor Hunger und wollte unbedingt eine Pizza essen. Vom Hunger angetrieben rannte er völlig unberechenbar durch die Straßen auf der Suche nach der perfekten Pizzeria, die er am Nachmittag gesehen hatte. Die war natürlich geschlossen, er fand aber gleich eine andere, die mich persönlich zwar nicht überzeugte und deren Pizzas nicht größer waren als eine Untertasse. Ich zeigte ihm eine andere Pizzaria, in denen es größere Pizzas angeboten wurden, aber vom Hunger schon ganz benebelt war er auf diese Winzpizza versteift. Als dann endlich so eine Pizza vor ihm stand meinte er nur "Die sahen von draußen irgendwie größer aus". Teuer, klein und schlecht war sie und sie war noch nicht mal aus einem richtigen Pizzateig gemacht, sondern aus irgendeinem vorgefertigten Gebäck, lauwarm und zäh. Wir beschlossen, daß ein hungriger Micha unzurechnungsfähig ist und das es in solchen Situationen besser sei, wenn ich über die Nahrungsbeschaffung entscheide. Wir haben uns dann noch in eine Hamburgerbude gesetzt, um richtig satt zu werden. Die Nacht war angenehm ruhig, obwohl die Wände zwischen den Zimmern nur aus Pappe bestanden, konnte ich ohne weiteres tief und fest schlafen.

Valparaíso, 26.05.1995 - Los mejores grupos...

Valparaiso Valparaiso

Wir schliefen uns richtig aus und gingen erst am Nachmittag in die Stadt, um Geld zu wechseln, denn wir konnten uns nicht mal mehr ein Mittagessen leisten. Zunächst unternahmen wir eine kleine Wanderung auf die Hügel Valparaísos, die die Stadt einschlossen. An den steilen Hügeln drängten sich armselige Hütten, deren Farbe abblätterte. Viele dieser Hütten standen auf dünnen Stelzen, um die Packungsdichte zu erhöhen. Obwohl die Sonne vom Himmel stach, lief ich erstaunlich schnell und ausdauernd den Berg hoch, wochenlanges Training auf dem Fahrrad hatte meine Kondition beträchtlich verbessert. Die Straßen waren irrsinnig steil und führten in Serpentinen hinauf. Die Hütten waren so übereinandergestapelt, daß sie bei jedem Erdbeben unweigerlich zusammenbrechen und viele Hütten mit in die Tiefe reißen müßten und Erdbeben sind nicht selten in Chile. Als wir den Hügel wieder hinunter liefen und eine Frau, die selbst in einer sehr elenden Hütte hauste, warnte uns vor den Leute, die an der Ecke wohnten, weil es sehr böse Menschen seien, die alles klauen würden, was wir bei uns hatten. Vorsichtig gingen wir weiter, standen dann plötzlich auf einem sehr schönen italienischen Platz; wir gingen weiter hinunter bis zum Hafen und beobachteten die kleinen bunten Ausflugsboote, wie sie ganze Horden von Schulkindern im Hafen hin- und herfuhren.

Wir wanderten im Bankenviertel umher und entschieden uns für einen Geldwechsler mit dem besten Kurs. Vor seinem Büro gab es eine große Baustelle, auf der 5 Bauarbeiter mit Preßlufthämmern zusätzlich zum Straßenverkehr Lärm verbreiteten, so daß man sich nur schreiend in der Wechselstube unterhalten konnte. "Ja, klar, das ist hier eine Wechselstube!!! Natürlich kann man hier Geld tauschen!!! Aber wir haben kein Geld zum wechseln!!!!", sprachs und verwies uns auf den Geldwechsler nebenan . Uns wunderte nichts mehr in einem Land, in dem Restaurants nichts zum essen, Snackbars keine Snacks und Bars kein Bier hatten und in dem lauwarme Hotdogs unter einem Berg von künstlichen Senf, Ketchup und Avokadobrei zum Lieblingsgericht zählte. Wir wechselten Geld und gingen essen.

Nachdem wir den Abend in unserem Hotelzimmer verbracht hatten, gingen wir gegen 22:00 Uhr noch mal zum einkaufen zum Supermarkt. Kaum zürück im Zimmer war es vorbei mit der angenehme Stille - "plink, un, dos, tres....krächz...". Laute, schräge Musik drang von irgendwoher in unser Zimmer. Zuerst dachten wir, da würde wohl irgendeine Hobbygruppe üben, und nach der Qualität der Darbietung zu schließen spielen sie wohl noch nicht sehr lange zusammen... Sie schienen ständig das gleiche Stück zu proben, immer wieder wurde angezählt und ständig von neuen begonnen. Ich war der Meinung, daß der Spuk wohl spätestens nach ein, zwei Stunden zuende sein müßte. Aber, wie konnte ich mich irren! Es handelte sich tatsächlich um Lifemusik, bis gegen 5:00 Uhr in der früh wurden wir mit schnulzigster chilenischer Volksmusik von einer Qualität, die einen die Tränen die Augen trieb, vom Schlafen abgehalten und schraubte sich gegen Ende zu einer unglaublichen Lautstärke, Hartnäckigkeit und Schrillheit empor, die von den Schmerzen eines entzündeten Zahns kaum übertroffen werden konnten. Wir machten uns mit der Lage unseres Zimmers vertraut und stellten fest, daß es direkt zu einem Innenhof ausgerichtet war, in dem es am Abend vorher so paradiesisch still gewesen war. Und immer wieder wurde das gleiche Lied gespielt, immer wieder, was extrem an unseren Nerven zehrte.

Valparaíso, 27.05.1995

Natürlich schliefen wir bis zum Nachmittag, weil es erst gegen Morgen ruhig geworden ist. Ich fing an, einen langen Brief nach Hause zu schreiben, während Micha in die Stadt ging, um unsere Kleider von der Wäscherei abzuholen und noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Obwohl wir uns später in der Innenstadt treffen wollten, kam er nach kurzer Zeit wieder ins Hotel zurück, weil alle Geschäfte geschlossen hatten. Micha wollte auch einen langen Brief schreibenund quälte sich dann doch herum, ein paar Zeilen auf eine Postkarte zu bringen. Er war unruhig, studierte lange in der Landkarte von Südamerika, maß aus und erzählte mir, welche tollen Länder man hier noch alle durchfahren könnte, wie weit es von hier bis nach Alaska wäre undsoweiter. Ich wurde nachdenklich, denn eigentlich glaubte ich, wir würden nach der Durchquerung Chiles gemeinsam nach Hause fliegen. Mir wurde klar, daß er noch weiter in den Norden wollte.

All das gefiel mir nicht. Ich hatte mir noch nie vorgestellt, daß ich alleine wieder nach Hause fliegen müßte. Mir war klar, daß ich nicht über die gewaltigen Anden nach Bolivien kommen würde, nicht mit dem Rad. Und er wollte auf keinen Fall einen Zentimeter nicht mit dem Rad zurückgelegt haben. Ich fand es gemein, mich einfach zurückzulassen, bloß weil ich nicht stark genug war und wurde sehr traurig. Doch was hatte es für einen Sinn, sich mit Dingen zu belasten, die noch in ferner Zukunft liegen und wir beschlossen, mit dem Thema aufzuhören und lieber etwas essen zu gehen.

Gemesis II in Valparaiso Gemesis II in Valparaiso

Bei unserem Stadtbummel suchten wir zunächst die Ursache der nächtlichen Ruhestörung. Wir fanden den Eingang zum Innenhof, von dem in der Nacht der Krach gekommen war. Aber da war nichts zu sehen. Natürlich hofften wir inständig, daß es sich nur um eine einmalige Privatveranstaltung oder um ein Stadtteilfest gehandelt hatte. Als wir von unserem Bummel zurückkamen, wurden wir jedoch schon wieder von dem entsetzlichen Lärm empfangen. Weil es sowieso undenkbar war, Schlaf zu finden, gingen wir noch mal los, um die Ursache des Lärms ausfindig zu machen. Und tatsächlich, dort wo am Nachmittag nichts außergewöhnliches zu entdecken war, fanden wir eine hell erleuchtete Hinterhofkneipe, die mit bunten Plakaten für die "Mejores grupos" warb, die angeblich bei ihnen auftaten und das von 23:00 bis 5:00 Uhr am Wochenende "gute" Tanzmusik gespielt wurde. Und das alles für nur 7900 Pesos (= 36.- DM) incl. einer Flasche hochprozentigen Pisco, ohne den man solche Musik wahrscheinlich gar nicht ertragen konnte. Als wir so mit entsetztem Blick vor dem Lokal standen und nicht glauben wollten, was wir dort lasen, wollten uns eine grelle Blondine in Glitzerfummel und ein schleimiger Kellner einladen, doch in ihre tolle Kneipe zu kommen.

Zusätzlich zu dem Lärm vom Hinterhof kam noch, daß sich im Zimmer neben uns eine Familie mit einem kleinen Kind einquartiert hatte, das Kind schrieb und der Vater schnarchte und man konnte durch die papierdünnen Wände jedes kleinen Schnaufer hören. Völlig genervt packten wir unsere Sachen in einen Rucksack, weil wir am nächsten Tag lieber nach Santiago de Chile fahren wollten, als hier noch mal zu übernachten. Die Fahrräder wollten wir bei den drei alten Damen zurücklassen, die dieses Hotel betrieben.

Hier geht es weiter: Juni 1995

© Marion Hetzelt. Das Kopieren von Inhalt und Bildern in irgendeiner Form ist nicht gestattet.

 

ein paar tausend Kilometer Abenteuer