Juni 1995

Santiago de Chile, 28.05.1995

 Santiago

Draußen die schreiende Musik, von nebenan das Schnarchen, so war es kein Wunder, daß wir um 9:00 Uhr wie gerädert durch lautes Kindergeschrei geweckt wurden. Es war Zeit, aufzubrechen. Ich köchelte mir noch einen Kaffee auf meinem Gaskocher, zog mich an und brachten unsere Fahrräder in eine Abstellkammer, die uns die drei netten alten Damen kostenlos zur Verfügung stellte. Immerhin wußten sie, daß wir noch mal zurückkommen müssen, um bei ihnen zu übernachten. Es tat mir ein wenig leid, mein Fahrrad zurückzulassen, andererseits freute ich mich auf die Großstadt. Schwer bepackt liefen wir bei wunderschönem Sonnenschein zum Busbahnhof und kauften Tickets für einen regelrechten Luxusbus nach Santiago. Es ging über Hügel und durch Tunnel Santiago entgegen, und in Santiago angekommen, fuhren wir mit der U-Bahn zur Station Los Heroes, liefen dann von dort aus die Straße "San Martin" in Richtung Busterminal Norte, weil es dort laut "schlechtem Führer" (wie wir unseren sehr unzuverlässigen deutschen Reiseführer nannten) viele billige Hotels geben sollte. Das erste Hotel, bei dem wir fragten, war ein Stundenhotel, das zweite war zu heruntergekommen, das dritte sehr sauber, aber zu teuer, aber dann fanden wir das perfekte Zimmer im Residencial Ovallino, in dem wir es schließlich einen Monat lang aushalten sollten. Sonnenbeschienen, warm, frisch renoviert und mit einem Blick auf den Cerro San Christobal, das einzig anständige Hotel mitten im Nuttenviertel.

 Plaza de Armas

Wir machten uns auf in Richtung Innenstadt und - plötzlich standen wir vor einem McDonalds! So etwas hätten wir nicht erwartet. Die Stadt war uns schon sympathisch. McDonalds, daß ist für mich eine weltweite Konstante: die Hamburger schmecken in jedem der Restaurants gleich, keine bösen überraschungen, ein Stück Heimat sozusagen. Wir eilten hinein, bestellten richtig andächtig einen Hamburger. Das Restaurant war von Zigeunern bevölkert, die versuchten, bei Touris Geld zu schnorren oder ihnen die Zukunft aus der Hand (und die Uhr vom Handgelenk) zu lesen. Wir beobachteten, wie ein naiver Touri sich von fünf Frauen unter den Vorwand, ihm aus der Hand lesen zu wollen, in eine dunkle Ecke hinter einem PKW gedrängt wurde. Nach einer Viertelstunde konnten wir die Frauen sehen, wie sie Geldscheine zählten. Wir liefen noch ein wenig durch die Gegend und fanden das Goethe-Institut. Micha hatte in Feuerland jemanden getroffen, der hier in Santiago im Goethe-Institut arbeitete und der ihm erzählte, daß man hier Spanisch-Kurse belegen könnte. Am nächsten Tag wollten wir hier vorbeischauen, um uns über die Kurse zu informieren.

Santiago de Chile, 29.05. - 01.07.1995

Die gestohlene Regenjacke

Am nächsten Tag sind wir ins Goethe-Institut gegangen, haben dort Zeitungen gelesen und uns in die Bibliothek gesetzt. Meinen Rucksack hatte ich mitgenommen, aber irgendwo in der Bibliothek abgestellt, ich dachte nichts dabei. Immerhin waren wir in einem alt-ehrwürdigen Institut. Als wir abends nach Hause gingen, war mein Rucksack nicht mehr da. War er gestohlen worden? In Panik fragte ich den Portier, ob er meinen Rucksack gesehen hätte. Mit warnenden Finger gab er mir den Rucksack, meinte, daß man in dieser Stadt nie etwas unbeaufsichtigt lassen sollte. Als ich den Inhalt überprüfte, stellte ich fest, daß meine Regenjacke fehlte. Sie tauchte auch nicht mehr auf, als wir das Goethe-Institut vollständig durchsucht hatten. Ich war so was von wütend, daß ich bestohlen worden war. Und gerade meine Regenjacke, die mir schon so gute Dienste geleistet hatte, war unersetzlich.

Die Demonstration gegen Pinochet

Am nächsten Abend sind wir in die Innenstadt gegangen. In den Straßen waren viele Polizisten unterwegs, die den Verkehr regelten, obwohl die Ampeln funktionierten. Von weitem hörte man lautes Geschrei. Aus einer kleinen Seitenstraße kamen plötzlich an die 100 Menschen gelaufen, die Schilder in die Höhe hielten. Eine Demonstration also. Aber, anstatt die Autos von der Demonstration wegzuleiten, hat die Polizei die 6-spurige Hauptstraße gesperrt und zwang alle Autos mitten in den Demonstrationszug hineinzufahren. Anscheinend sollte der Zug aufgelöst werden. Die Demonstranten waren sehr ruhig und friedlich, trotzdem ließen alle Geschäfte in Windeseile ihre Gitter herunter und auch die Kundschaft ließ sich bereitwillig miteinschließen. Irgend etwas war hier falsch. Wir setzten unseren Weg unbeirrt zum Plaza de Armas, dem Zentrum der Stadt, fort, hielten uns aber vom Demonstrationszug fern.

Dort zeigte sich uns ein eigenartiges Bild: Ein ganzer Trupp ernst dreinblickender Polizisten stand aneinandergereiht mit Maschinenpistolen im Anschlag. Polizeigitter waren aufgestellt und in der Luft hing ein eigenartiger Geruch. Wie sonst auch waren viele Menschen auf dem Platz unterwegs, kamen vom Einkaufen oder von der Arbeit, waren mit Tüten bepackt. Plötzlich kam Bewegung in die Masse und viele der Leute fingen das Rennen an. Auf der einen Ecke des Platzes steht ein Pavillon, in dem sich immer die Schachspieler treffen, um Partien gegeneinander auszutragen. Wir konnten erkennen, wie plötzlich ein starker Wasserstrahl eines Wasserwerfers die Schachspieler auseinandertrieb. Wir gingen weiter und der Geruch des Tränengases wurde immer stärker. Die Chilenen hielten sich Taschentücher vors Gesicht und zwei geschäftstüchtige Leute standen in der Menge und verkauften lauthals"Mascaras!!", also Schutzmasken für Nase und Mund. Es flog eine gelbe Wolke mit Flugblätter vom Himmel, von denen ich einige aufsammelte. Ein gepanzerter Jeep der Polizei raste durch die Straßen und jagte Demonstranten und unbeteiligte Passanten über den Platz. Im Gefolge war ein Wasserwerfer und eine kleiner Panzer, der auch mit Vollgas auf dem Platz herumfuhr. Irgendwie hatte die Polizei den überblick verloren und jagte alle Leute auseinander, egal ob harmloser Passant oder Demonstrant. Auf den Flugzetteln war etwas von kommunistischer Partei zu lesen und das Pinochet und die anderen Generäle Mörder wären. Auch wir wurden von dem Jeep gejagt, flüchteten dann in eine Einkaufspassage. Dort stand ein Polizist, der mit einem Gummiknüppel in der Hand die Leute zum weitergehen aufforderte. Micha, engstirnig wie immer, wollte stehenbleiben. Der Polizist schubste ihn mit dem Gummiknüppel an und sagte, er solle weitergehen. Er blieb stehen, aber ich überredete ihn, lieber weiterzugehen, wer weiß, was passiert, wenn schon harmlose Schachspieler mit einem Wasserwerfer verjagt würden.

Wir flüchteten uns in den Pavillon, wo einige Minuten vorher noch die Schachspieler gesessen hatten, und beobachteten von sicherer Stelle aus die Treibjagd auf dem Plaza und hörten zu, wie die Schreie nach Salvador Allende immer lauter wurden. Als sich die Lage beruhigt hatte, setzten wir unseren Weg weiter fort, um im McDonalds zu essen. Dort hatte man vom 1. Stock aus einen guten überblick auf die Geschehnisse unten. Es marschierten mittlerweile Polizisten mit Helmen und Schutzschilden auf und stellte sich vor einer Apotheke gegenüber des McDonalds auf. Wir gingen schließlich runter, um nachzuschauen, was die Polizei bewachte und fanden eine Baustelle, auf der Pflastersteine gelagert wurden und die von einer Unzahl von Polizisten bewacht wurde. Ein cleverer Demonstrant war jedoch auf das Baustellengerüst geklettert und hatte sich mit einer Vorrichtung Steine geangelt und bewarf damit die Polizei. Als wir gerade miteinander sprachen und ich Micha fragte, ob dieser Pinochet nicht schon längst gestorben sei, sprach uns ein Chilene auf deutsch an, besser: mit einem breiten Wiener Dialekt. Er fragte, ob wir deutsche seien und erzählte uns, daß seine Verwandten vor Jahrezehnten aus österreich eingewandert wären und er aus Concepción stamme. Er erklärte uns, daß sich die Demonstranten eigentlich freuten, weil an diesem Tag ein wichtiges Gerichtsurteil gegen zwei der Generäle Pinochets verhängt wurde und sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden, weil sie nachweislich in Morden an einem Politiker in Washington beteiligt waren. Pinochet sei immer noch in Amt und Würden und so mächtig wie noch nie und seinen Posten noch mindestens in den nächsten zwei Jahren inne hätte. Manuel, so hieß der junge Mann mit dem wiener Schmäh, erzählte uns, daß die Polizei wohl so brutal gegen die Demonstranten vorgehen würde, weil sie Pinochet als Mörder bezeichneten und immer wieder schrieen: "Morgen bist Du an der Reihe, Pinochet!".

Langsam wurden die Töne scharfer, es flogen Steine und Manuel meinte, es wäre jetzt wohl an der Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, weil die Polizei wohl gleich endgültig die Geduld verlieren würde. Als wir uns umdrehten, um schnell in eine Kneipe zu laufen, wurden schon die ersten Demonstranten brutal zusammengeschlagen und verhaftet. Wir luden Manuel auf ein Bier ein und er gab uns einen Schnellkurs in chilenischer Geschichte, das Pinochet von den Demonstranten auch als "Perrochet" betitelt wird. Manuel hatte ein kleinen CD-Laden in Concepción, und er wäre nach Santiago gefahren, um mit seinen Zulieferern geschäftliches zu regeln, vor allem um pünktlichere Liefertermine zu bitten, vor allem, weil er sie bezahlen sollte, bevor er sie verkaufen konnte.

Wir erfuhren auch, warum man in Chile immer so viele Zettelchen beim Einkaufen bekommt und bei mindestes 4 Leuten vorweisen muß und abstempeln lassen muß, bevor man die Ware bekommt: wenn der Vorgang nicht so oft kontrolliert werden würde, würden die Angestellten in ihre eigene Tasche wirtschaften, deshalb gibt es stets einen Verkäufer, einen Ausschreiber des Belegs, einen Kassierer und einen Kontrolleur, optional gibt es noch einen extra Einpacker.

Manuel war ganz froh, endlich wieder sein Wiener Schmäh pflegen zu dürfen, weil seine Oma schon vor 10 Jahren und seine Mutter vor zwei Jahren gestorben war und er seitdem keine Gelegenheit hatte, deutsch zu sprechen.

 Hoecker

Unterricht im Goethe-Institut

Die Nacht vor dem ersten Tag des Sprachkurses im Goethe-Institut war ich so aufgeregt, daß ich nicht schlafen konnte. Um genau 7:11 Uhr klingelte der Wecker und riß mich aus meinem oberflächlichen Schlaf. Die Sonne war noch nicht richtig aufgegangen, als ich müde und voll schlechter Vorahnung meinen Kaffee kochte. Das Bad war ständig besetzt, so daß wir schließlich rennen mußten, um rechtzeitig vor Unterrichtsbeginn ins Goethe-Institut zu kommen. Michael wurde in den Fortgeschrittenenkurs eingestuft, während ich in den Anfängerkurs geschickt wurde. Müde saß ich mit drei weiteren "Anfängern" im Kurs und mußte feststellen, daß zwei von ihnen, Tina und Masaaki, den Kurs wiederholten und der dritte im Bunde, Jens, schon ziemlich gut spanisch sprach. Ich war die einzige richtige Anfängerin. Der Kurs war so ausgelegt, daß er nur auf spanisch gehalten wurde, und das sehr konsequent. Alle plapperten drauf los, inklusive der Lehrerin, die alles auf spanisch erklärte und ich vestand rein gar nichts. Ständig sollte ich irgendwelche Fragen an meine Mitschüler stellen, doch ich hatte keine Vokabeln parat und wußte noch nicht mal die Fragewörter auf spanisch, so daß mir vor lauter Nachdenken sowieso keine tollen Fragen eingefallen waren.

In den Pausen unterhielt ich mich sehr gut mit Jens, der aus der Nähe von Frankfurt stammte. Nach 5 Stunden Ratlosigkeit war der erste Tag vorüber und ich glaubte, auf diese Weise niemals ein Wort spanisch zu lernen. Aber man sollte ja nicht so schnell aufgeben. Nach zwei Wochen stellte sich auch schon der erste Erfolg ein und ich lernte langsam spanisch, konnte dann sogar schon Aufsätze schreiben. Es stießen im Laufe des Monats noch weitere Kursteilnehmer dazu, wir waren zum Schluß an die 10 Leute. Gewöhnlich gingen wir im Bankerviertel essen. Und Burger-King und McDonals passte sich anscheinend ihrer Umgebung an und servierte die Speisen, als ob man sich auf der Börse befände. Es war wohl weniger Marketing-Gag als chilenisches Chaos: Zunächst mußt man an einer Kasse seine Bestellung aufgeben und bezahlen. Dann bekam man ein Zettelchen mit einer Nummer drauf und mußte sich dort anstellen, wo sich schon viele andere drängelten. Der Kontrolleur hatte aber dummerweise mitten auf die Nummer einen Stempel aufgedrückt, so daß man die Zahl nicht mehr entziffern konnte. Wurde dann ein Tablett mit Burgern serviert, rissen alle Wartenden ihre Zettelchen in die Luft und schrien drauf los.

Ab und an gingen wir auch in einem billigen Kellerrestaurant namens "Big Ben" zum essen, in dem wir das köstliche "Pastel de Choclos" zu schätzen lernten, einem typisch chilenischen Gericht, das übrigens auch ganz gut im Frankfurter Restaurant "Tres Pablos" im Westend zu bekommen ist.

So gingen die Tage ein und aus, früh aufstehen, Unterricht, Hausaufgaben und ab und zu ein Bier am Abend. Am Wochenende mußte ich manchmal für Prüfungen lernen oder Aufsätze vorbereiten und ich wurde richtig strebsam, als man mir sagte, daß wir auch ein Zeugnis mit einer Note bekommen würden. Micha konnte es nicht sehen, wenn eine Ecke des Spannbetttuchs "gepfitzt" war und manchmal ärgerte ich ihn, indem ich alle vier Ecken pfitzen ließ. Dann konnte er stundenlang unter der Bettdecke liegen und schmollen und kam nicht darunter hervor, bevor ich die Ecken nicht wieder ordentlich gemacht hatte.

über die Anden nach Argentinien

Da Micha's Visum abzulaufen drohte sahen wir uns genötigt, dieses irgendwie verlängern zu lassen. Ilse aus dem Goethe Kurs hat letze Woche versucht, dies auf dem offiziellen Dienstweg zu erledigen, hat seitdem mehrere Nachmittage in diversen Amtsstuben verbracht und das heißersehnte Stempelchen immer noch nicht im Paß. Wir entschlossen uns, auf diese kaffkaesken Schikanen zu verzichten und statt dessen über die Grenze ins nahe Argentinien zu fahren.

An einem Samstagmorgen standen wir darum pünktlich zur Abfahrt in Busbahnhof vor unserem Hotel. Doch irgendwie ließen die lustlosen Blicke von Fahrern, Fahrkartenverkäufern, Fahrkartenkontrolleuren, Beifahrern und Schuhputzern nicht darauf schließen, das es bald losgehen würde. Auf Nachfrage wurde uns mitgeteilt, das es über Nacht in den Bergen geschneit hätte und nun die Straße gesperrt sei. Wir sollen es doch "despues" nochmal probieren. Mittlerweile kennen wir dieses chilenische "später" nur zu gut und checkten gleich wieder in unser Hotel ein.

 Portillo

Am nächsten Morgen probierten wir es wieder und tatsächlich gab der Oberbusbahnhofsvorsteher nach einigem Zögern grünes Licht zur Abfahrt. Die Strecke führte über abenteuerliche Serpentinen immer höher in die Anden. Die ersten Schneefelder tauchten auf und irgendwann ging es an Portillo vorbei, einem der Orte, an dem die Profi-Skiwelt das (Nord-)Sommerloch zu überbrücken pflegt.

Ursprünglich wollten wir ja einen Tag in Mendoza verbringen, aber jetzt war ja schon Sonntag nachmittag. Wir ließen also die chilenischen Ausreise- und argentinischen Einreiseformalitäten über uns ergehen, nur um 5 Meter nach der argentinischen Station aus dem Bus auszusteigen und auf der anderen Straßenseite auf einen Bus zurück nach Chile zu warten.

 über den Anden...

Die Zöllner guckten etwas verwirrt und waren wohl auch etwas beleidigt, das sie jetzt den ganzen Papierkram nochmal erledigen müssen. Als wir ihnen allerdings erklären, das wir nur die chilenische Bürokratie umgehen wollten, hellten sich ihre Minen wieder auf und man bestätigte uns aufs heftigste, das drüben in Chile die Bürokratie ganz furchtbar sei, aber in Argentinien wäre natürlich alles viel besser organisiert... Wir durften uns dann sogar in ihrem Hüttchen aufwärmen, denn draußen pfiff ein eisigkalter Wind.

Es schien überhaupt kein Fahrzeug mehr zu kommen. Wie sich herausstellte war die Strecke wohl nur so halboffiziel geöffnet und jetzt am Nachmittag traute sich wohl keiner mehr herauf. Mittlerweile fing es auch wieder an zu schneien, aber die Zöllner versicherten uns, das es hier im Sommer sehr schön sei und man bei klarem Himmel sogar den Anconcagua, den höchsten Berg Amerikas, sehen könne.

Die Zeit verging und wir richteten uns geistig schon auf eine kalte Nacht in einer der Zollbaracken ein, als sich endlich doch noch ein Fahrzeug den Berg heraufquälte. Es handelte sich um einen uralten Ford Transit, der nur noch vom Rost zusammengehalten wurde, auf dem Beifahrersitz befand sich eine große Termoskanne mit Kaffee. Die Zöllner waren so nett, den Fahrer zu bitten, uns mitzunehmen. Dieser schien darüber sogar recht erfreut zu sein. Schon nach wenigen Metern stellte sich nämlich heraus, das er schon seit 24 Stunden am Steuer sitzt und um jede Abwechslung froh war, die ihm am einschlafen hinderte. Micha bot zwar an, das Steuer zu übernehmen, aber was ein echter Argentinier ist läßt natürlich nichts auf sich sitzen. An der chilenischen Zollstation bekamen wir unser Visum für weitere 3 Monate in den Paß gestempelt, dann manövrierte uns unser Fahrer im Halbschlaf am Abgrund entlang hinunter. Micha redete ununterbrochen auf ihn ein, um ihn am Einschlafen zu hindern und ich war heilfroh, als er uns unten in Los Andes, an der Abzweigung nach Santiago, aussteigen lies. Wir wünschten ihm noch viel Glück für seine bevorstehende 2.000 km Nonstop-Fahrt nach Antofagasta und bestiegen einen alten klapprigen Bus, der uns zurück nach Santiago brachte.

Skifahren im Juni

 Wintersport

Micha fährt gerne Ski und als im Juni die Skisaisson eröffnet wurde, leistete er sich den Luxus, an zwei Sonntagen eine Tour in die Berge zu buchen. Weil ich sozusagen "zwei linke Füße" habe und schon einige Male vergeblich versucht habe, skifahren zu lernen, blieb ich an diesen Tagen allein in Santiago, ging einkaufen oder lernte für Prüfungen.

 Mr. Bombastic

Ein Bus brachte ihn von den 3333m hohen Cerro Colorado, von dem aus man einen herrlichen Blick auf Santiago hatte, sofern man es sah. Micha erzählte, daß man von Santiago nur die Spitze des Cerro San Christobal erkannte und der Rest unter einer dichten, grünen Smogdecke versteckt lag.

Chilenische Skifahrer sollen sehr wehleidig sein, wurde mir berichtet. Wenn sie hinfallen, schreien sie demonstrativ, wälzen sich und lassen sich von der Pistenaufsicht wegtragen. Ja, ja; der Hang der Chilenen zur dramatischen Selbstdarstellung...

Glühwein im Barrio Bellavista

 Cerro San Christobal

Nach einem Besuch des Cerro San Christobal, auf den man entweder zu Fuß hochlaufen oder mit einem Funicular hochgebracht wurde, entdeckten wir das angrenzende Barrio Bellavista, in dem wir dann immer gerne ausgegangen sind. Auf dem Gipfel des Cerro San Christobal steht eine große, weiße Figur mit ausgestreckten Armen und wir dachten immer, es wäre dieser San Christobal. Um so verwunderter waren wir, als wir eine Marienstatue vorfanden.

Von dem Berg aus hatte man einen wundervollen Blick auf die Stadt und es ist ausgesprochen reizvoll, den Sonnenuntergang von dort oben aus zu genießen. Man erkennt ganz deutlich, wie Santiago in einem Schachbrettmuster angelegt ist, man erkennt die Hochhäuser und die Elendsviertel, sieht den Smog und bekommt einen Eindruck davon, wie riesig Santiago eigentlich ist. Beeindruckend ist auch die Wildnis, die auf diesem Berg wuchert, man kann auf einem Trampelpfad rund um den Berg wandern, vorausgesetzt man hat nicht so eine Höhenangst wie ich.

Neben Providencia war der Barrio Bellavista der zweite erwähnenswerte Stadtteil, an dem man abends ausgehen konnte, aber erst ab 23:00/24:00 Uhr. Während man in Providencia viele, auch teure Restaurants vorfindet (so auch ein deutsches Restaurant namens "Der Münchner"), gab es im Barrio Bellavista allerlei Unterhaltung für junge Leute. Da gab es einen Trödelmarkt am Eingang und fliegende Händler entlang der Straße bis zum Cerro San Christobal. Künstler traten in den Straßen auf, Feuerschlucker und Gaukler. Man fand Diskotheken und Salsa-Clubs, gemütliche Kneipen, neon-plastik-Clubs, romatische Cafés, für jeden Geschmack war etwas dabei.

Wer etwas auf sich hielt, rollte mit seinem Auto durch die von Menschen verstopften Straßen im Barrio Bellavista, nur um gesehen zu werden. Wir fanden eine Marktbude, in der "Tecito" verkauft wurde. Als wir davon probierten, stellten wir fest, daß es sich um Glühwein handelte. Klar, mitten im Winter sollte man sich mit Glühwein aufwärmen, auch wenn es in Santiago im Winter wärmer ist als bei uns in so manchem Sommer.

Theatervorstellung "Einstein"

In einem kleinen Theater wurde das Stück "Einstein" gegeben, eine Ein-Mann-Aufführung, die uns wärmstens empfohlen worden war. An einem Sonntag sind wir dorthin gegangen. Das Theater war so klein, daß höchstens 40 Leute darin Platz fanden. Die Wände waren zu Bücherregalen umgestaltet worden und auf einer Tafel stand die Ableitung der Relativitäts-Theorie gekritzelt. Die Bühne ging unmittelbar in den Besucherraum über, es gab keine eindeutige Abgrenzung, so daß das Publikum Teil der Theatervorstellung wurde. Während seines zweistündigen Monologs sprach "Einstein" immer wieder Leute aus dem Publikum an und beteiligte sie auch aktiv, z.B. als er beweisen wollte, daß die Gravitationstheorie Newtons falsch sei. Zu diesem Zweck nahm er ein großes Tuch, gab vier Leuten, darunter auch Michael, jeweils einen Zipfel in die Hand mit der Anweisung, das Tuch gleichmaßig zu spannen. Dann ließ Einstein eine Sonne in Form einer Orange in die Mitte des Tuches fallen, die das Tuch trichterförmig nach unten verformte. Als Planet mußte ein Radieschen herhalten und ließ es am Tuch entlang um die Sonne kreisen, um zu beweisen, daß der Planet von sich aus gesehen immer geradeaus fliegt, nur der Raum gekrümmt ist. Zum Schluß bekam Micha die Sonne geschenkt und Einstein sagte: "Und ich esse den Planeten auf" und steckte sich das Radieschen in den Mund.

Obwohl der Schauspieler nur spanisch sprach, war der zweistündige Monolog für mich sehr einfach zu verstehen, denn der Schauspieler hatte einen extrem deutschen Dialekt und er sprach sehr langsam. Vor uns saß ein älteres deutschstämmiges Ehepaar, das wohl schon längere Zeit nach Chile ausgewandert war (aus welchen Gründen auch immer, vielleicht ehemalige DDR-Politiker...). Der Mann wandte sich glücklich zu seiner Frau und meinte: "Das erste mal, daß ich alles verstehe!".

Abschlußfeier im Goethe-Institut

Am Ende des Kurses gibt es immer eine Abschlußfeier. Jeder sollte etwas typisches aus seiner Heimat zubereiten und mitbringen. Wir entschlossen uns, etwas typisch fränkisches zuzubereiten und trugen in die Liste "Federweißen" und Gerupften ein, obwohl wir nicht sicher waren, daß wir beides hinbekommen würden.

Da der Federweiße - Traubenmost - einige Tage gären mußte, kauften wir die Trauben 5 Tage vorher ein, quetschten in unserem Hotelzimmer mit bloßen Händen den Saft in unser Campinggeschirr aus, füllten den Traubensaft in Flaschen, um ihn dort vergären zu lassen. Es war schon eine ziemliche Schweinerei, die wir veranstalteten und das Zimmer stand leicht unter Waser, bzw. unter Traubensaft, aber spaßig war es allemal.

Nach langem Suchen fand ich in einem Supermarkt auch richtigen Cambembert, der Voraussetzung für den Gerupften ist. Am Tag vor der Party machten wir Unmengen von Gerupften an und beobachteten mit Sorge unseren Federweißen, der nicht so recht gären wollte und irgendwie nur trüber Traubensaft voller Rückstände war.

Natürlich war unser Gerupfter der Renner auf der Party und jeder wollte das Rezept haben: Dänen, Frankfurter, Schwaben, "Ossis", Peruanerinnen, Australer, Japaner und Iraner. Auch der vermeintliche Federweißer wurde getrunken, obwohl ich lieber die Finger davon ließ.

Unser letzter Tag in Santiago, 01.07.1995

 Am Fluß

Wir hatten noch viel zu erledigen, bevor wir zurück zu unseren Fahrrädern nach Valparaíso fuhren. Ich hatte die Stadt liebgewonnen, die Stadt voller Autos, Hektik und Smog, ich hatte viele Leute kennengelernt und war einen Monat lang jeden Tag in die Schule gegangen und hatte jetzt ein Zeugnis vom Goethe-Insitut in der Tasche.

Ich brauchte unbedingt noch eine Regenjacke, denn meine war gestohlen geworden. Nach langem Suchen fanden wir so eine Art Regenjacke, die für den Trip durch die Atacama genügen würde. Regendicht mußte sie ja in der trockensten Wüste der Welt nicht sein, aber wohl winddicht. Wir mußten noch Postkarten schreiben und unsere Zeugnisse kopieren und die Originale nach Hause schicken.

Am Abend gingen wir ein letztes Mal nach Bellavista in unsere Lieblingsstraße mit den vielen Leuten, den großen und teuren Bieren, der lauten Musik und dem Glühwein, den vielen Staßenverkäufern und den Clowns.

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© Marion Hetzelt. Das Kopieren von Inhalt und Bildern in irgendeiner Form ist nicht gestattet.

 

ein paar tausend Kilometer Abenteuer