Der ehemalige Lesehof des Hochstiftes Passau in Klosterneuburg
Baugeschichte und Rekonstruktion


Gebäude A: "Chorhof"

img015.jpgDas Gebäude A bildet vermutlich die südwestliche Begrenzung des Gesamtkomplexes. Erschlossen wurde ein rechteckiger Baukörper von mindestens 18 m Länge und 7,3 m lichter Breite bei einer Mauerstärke von durchschnittlich 1,2 m. Im SO lief dieser Bau über die Grabungsgrenzen hinaus. Die Westecke des Außenbaus ist durch eine ca. 0,5 m vorspringende und 1, 5 m breite, um die Gebäudekante verlaufende Eckgliederung verstärkt. Strukturell ist diese Eckgliederung auch an der N-Ecke zu erkennen; sie wurde jedoch um eine zum Gebäude B (Kellergebäude) verlaufende Mauerzunge in Art eines über 3 m ausgreifenden Strebepfeilers ergänzt. Während im Grabungsbereich die südwestliche Längsmauer ungegliedert verläuft, wurden an der nordöstlichen Längsmauer ein senkrecht abzweigender Mauerblock von 1, 5 m Breite und ein weiterer strebepfeilerartiger Ansatz von etwa 0,8 m Breite angeschnitten. Der weitere Verlauf dieser beiden Fundamentblöcke ist durch den Einbau eines Kellers (Gebäude I) aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert verunklärt.

Der ergrabene Innenraum wird durch flache Wandvorlagen von 0,9 m Breite und 0,4 m Tiefe in zwei leicht längsrechteckige Joche unterteilt. Ansätze einer weiteren Wandvorlage konnten in der südlichen Ecke an der Grabungsgrenze angeschnitten werden. Eine gleichartige Wandvorlage ist sinngemäß in der Ostecke zu rekonstruieren. Hart an der Grenze dieser zu ergänzenden Wandvorlage verläuft eine dreistufige Treppe in den Innenraum. Dem Grabungsbefund nach ist sie ist allerdings erst nachträglich in die ältere Architektur eingestellt worden.

Die südliche Wandvorlage weist einen schwach ausgebildeten, gemauerten flachen Sockel auf und geht kapitellos in den Ansatz eines Gurtbogens über. Das gänzlich ergrabene Wandpfeilerpaar an der südwestlichen bzw. nordwestlichen Längswand ist nur in seinem untersten Bereich erhalten, bricht jedoch dann schräg ab, wobei die aufgehende innere Wandschale teilweise ausgerissen ist. Dieser Bauschaden läßt darauf schließen, daß sich hier ebenfalls ein Gurtbogen befand. Es ergibt sich daraus eine innere Dreiteilung des Gebäudes mit zwei symmetrisch gestalteten Jochen von durchschnittlich 8,3 mal 7,2 m lichter Weite. Die Lage des später im Stiegenbereich umgestalteten Zuganges läßt - zusammen mit der vermuteten ursprünglichen Parzellengröße - ein weiteres Joch von gleicher Grö&ße annehmen. Der somit dreijochig konstruierbare Bau hätte demnach eine innere Länge von rund 27 m lichter Weite besessen und wäre schon aus diesem Grunde als repräsentatives Hauptgebäude der Gesamtanlage zu interpretieren.

img023.jpgVom Obergeschoß des mittleren Joches stammen die figuralen Fliesen des 14. Jahrhunderts, welche im Schutt des um drei Stufen eingetieften Erdgeschosses gefunden wurden. Wichtig für die Rekonstruktion ist die Interpretation der Fundlage. Wie aus einer statistischen Analyse der Funddichte abzuleiten ist, häufen sich die Fliesen in annähernd vier "Quadranten" des mittleren Joches. Außerdem wurden im Schutt annähernd parallel zur Schmalseite des Gebäudes verkohlte Balkenreste einer Deckenkonstruktion gefunden. Bauschutt, der auf ein gewölbtes Erdgeschoß schließen ließe, fand sich nicht. Der Befund ließe sich wie folgt interpretieren:

Der dreijochige Erdgeschoßraum war mit einer Balkendecke versehen, welche durch einen mittleren Längs-Unterzug unterstützt war. Die Gurtbögen über den flachen Wandvorlagen bildeten Schwibbögen, die aufgrund des Befundes an der südlichen Wandvorlage als Halbkreis zu rekonstruieren sind.

Eine Abschätzung der Höhenverhältnisse des Erdgeschoßraumes ergibt sich aus den ergrabenen Niveauvs bei der Stiegenanlage bzw. der Wandvorlage mit Sockel. Das Außenniveau bei der Stiegenanlage ist durch einen Estrich bei 200,56 m gesichert. Das mittlere Bodenniveau im Inneren von Gebäude A liegt bei der Wandvorlage mit Sockel bei ca. 200,42 m und der Gewölbeansatz bei 202 bis maximal 202,26 m. Bei einem äußeren Bogenradius von rund 3,6 m kann daher mit einer Gesamtraumhöhe des Erdgeschosses von ca. 5 bis 5, 2 m gerechnet werden.

img024.jpgDer Längs-Unterzug der Balkendecke ruhte im Scheitel der Schwibbögen auf. Die eigenartige Anhäufung der Schuttlagen des Fliesenbodens gegen die Raumecken zu spricht dafür, daß bei der Zerstörung des Gebäudes durch Brand zunächst die nicht unterstützten Teile der Decke eingebrochen sind und so das "Abrutschen" des darüberliegenden Fliesenbodens gegen die Außenmauern bewirkten.

Die beiden rekonstruierbaren Schwibbögen wären für eine Unterstützung des Längs-Unterzuges nicht unbedingt notwendig gewesen, hier hätte ein Quer-Unterzug über Stützen (mit Sattelholz?) genügt. Außerdem sind die Wandvorlagen leicht differenziert: Die südliche ist durch einen Sockel architektonisch betont. Es stellt sich daher die Frage nach der statischen Notwendigkeit der Schwibbögen. Zunächst ist festzuhalten, daß im Bereich des nordwestlichen Joches keine Fliesen gefunden wurden. Die Verteilung der Fliesen auf das mittlere Joch und das eindeutig sakral bestimmte ikonographische Programm der Fliesendarstellungen belegen im mittleren Joch des Obergeschosses einen Sakralraum, der sich nicht auf das nordwestliche Joch erstreckte. Eine Fortsetzung des sakralen Bereiches nach SO wäre im Sinne eines Altarraumes denkbar. Der nordwestliche Schwibbogen hätte somit eine Trennwand mit Türöffnung getragen, welche in eine zweijochige gerade geschlossene Kapelle mit figuralem Fliesenboden führte.

Wichtig in diesem Zusammenhang sind zwei im Abbruchschutt gefundene Architekturteile der Ausstattung. Es ist dies ein oktogonal geformtes Lavabo aus Leithakalk mit Ausgußkanal. Das Profil des Beckenrandes mit Schräge, Kehle und Wulst ist eindeutig gotisch und diente dazu, während der Meßhandlung anfallendes Wasser (liturgische Händewaschung) nach außen zu leiten. Teile dieses Becken wurden im mittleren Joch zwischen den Fliesen gefunden und wiesen eine starke Brandrötung auf, stammen daher aus dem Kapellenraum des Obergeschosses.

Weitere Bruchstücke aus Kalkstein gehören zu mindestens zwei verschiedenen Kämpferprofilen, wobei eines sicher als Kämpferkapitell der Wandvorlagen im Obergeschoß diente. Sie tragen einen mehrfachen und teilweise pastos aufgetragenen weißen Kalkanstrich. Die Fundlage zwischen dem Fliesenschutt entspricht dem des Lavabo.

Das Profil dieser Kämpferstücke setzt sich aus zwei eng aneinandergereihte Wülsten mit relativ tiefer Unterschneidung zusammen. Leider fehlt der untere Abschluß des Profils, sodaß eine genaue Datierung offen bleiben muß. Die Profilierung mit einem Doppelwulst und die Abflachung des größeren Wulstes erinnert noch an spätromanisch-frühgotische Formen. Eine Datierung der Kämpferprofile in die Zeit ab der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts wäre denkbar.

Aufschluß über die Fassung des Obergeschosses geben einzelne Bruchstücke von Wandverputz. Der relativ dicke Kalkmörtelputz ist mit der gleichen weißen Kalktünche versehen wie die Kämpferprofile und zeigt Reste einer linearen roten Bemalung. Einzelne Bruchstücke stammen von der Laibung eines Portales oder eines Fensters und sind an den Kanten rot gefaßt. Wenngleich die Verputzreste keine nähere Rekonstruktion einer Architekturfassung zulassen, ist darauf hinzuweisen, daß weiße Flächen mit aufgemalten roten Architekturgliederungen im Sakralbau im späten 13. und 14. Jahrhundert nachzuweisen sind.

img027.jpgMit dem Nachweis eines relativ aufwendig gestalteten zweijochigen Sakralraumes im Obergeschoß stellt sich die Frage nach der Erschließung. Die beiden unterschiedlich dimensionierten Mauerzungen an der NO-Seite des Gebäudes stehen laut archäologischem Befund im Verband mit der Längsmauer. Die stärkere Mauerzunge liegt im Bereich der inneren Wandvorlage, ist jedoch mit 1, 5 m Breite wesentlich mächtiger als die Längsmauer dimensioniert, während die parallel dazu in 1 m Abstand ansetzende Mauerzunge mit 0,8 m Stärke eindeutig für ein den Langmauern entsprechendes Strebepfeilersystem unterdimensioniert ist. Es ist daher wenig wahrscheinlich, daß sich diese Mauern über die Störzone des Kellers aus dem 19. Jahrhundert weiter fortsetzten; sie können als Mauerblöcke interpretiert werden, welche als Unterbau für eine Außentreppe zum Obergeschoß dienten. Diese oft hypertroph wirkenden Substruktionen werden durch einen steigenden Unterzug für die Stufen verbunden. Die Treppenanlage hätte somit - an der Nordecke beginnend - entlang der Längsmauer ins Obergeschoß geführt, wobei der Zugang in das Joch vor der Kapelle zu lokalisieren wäre.

Im Bereich der ergrabenen Fundamente war der Außenbau bis auf die Eckverstärkungen ungegliedert. Diese Eckverstärkungen sind als umgeklappte Lisenen zu interpretieren. Es sind dies Vorformen des gotischen Strebepfeilersystems, mit dem Unterschied, daß die Breite des "Pfeilers" noch nicht den Tiefenquerschnitt übersteigt. Ähnliche Kantengliederungen mit flachen Lisenen finden sich im Wiener Sakralbau ab der Mitte des 13. Jahrhunderts (z. B. Michaelerkirche, Querschiff) und gehören dem spätromanisch-frühgotischen Übergangsstil an. Die wie ein überbreiter Strebepfeiler wirkende Mauerzunge zwischen Gebäude A und B gehört bautechnisch zu Gebäude A. Ihre statische Funktion und ihr Zweck kann heute nicht mehr eruiert werden, da bei der Grabung praktisch nur mehr der unterste Teil erfaßt wurde. Möglicherweise bildete die Mauerzunge zusammen mit einem Vorgängerbau von Gebäude B die Abtrennung zu dem dahinterliegenden Hofraum, der allerdings erst in einer zweiten Phase entstand.

Zusammenfassend ergibt sich aus den Befunden und der daraus ableitbaren Rekonstruktion ein dreijochiger, zweigeschossiger repräsentativer Hauptbau mit zweijochiger Kapelle im Obergeschoß und Außentreppe an der nordöstlichen Längsmauer. Eine Erbauung ab der Mitte des 13. Jahrhunderts und die Identifizierung mit dem in den Urkunden erwähnten "Chorhof" wäre möglich.

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