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- Die kahle Sängerin -
La cantatrice chauve ist ein "Gegen-Stück" in 12 Szenen. Uraufgeführt wurde es in Paris am 11.05.1950 (Théâtre des Noctambules), die deutschsprachige Erstaufführung fand im Kleintheater in Bern am 21.06.1956 statt.
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Das englische Ehepaar Smith sitzt eines Abends im Wohnzimmer. Es beginnt eine banale Unterhaltung zwischen diesen wie einander entfremdet erscheinenden Ehepartnern. Die Dialoge, die sie führen, sind unsinnig. Plötzlich kommen Mr. und Mrs. Martin zu den Smiths zu Besuch. Während sie auf die Hausherrin warten, entspinnt sich ein sonderbares Gespräch zwischen ihnen: ihnen scheint, daß sie sich schon einmal begegnet sind, und nachdem sie nun herausfinden, daß sie so viel gemeinsam (erlebt) haben ("Comme c'est curieux!"), stellen sie fest, daß sie Mann und Frau sind und fallen sich aufgrund des Wiederfindens glücklich in die Arme. Nun folgt die schwierige Konversation zwischen den beiden Ehepaaren, die von peinlichem Schweigen durchsetzt ist sowie von völlig beliebigen, sich schnell erschöpfenden Konversationsthemen lebt. Da taucht ein Feuerwehrmann auf (Szene 8), der auf der Suche nach Feuer ist, aber bei den Smiths leider keins findet. Er versucht, die tödliche Langeweile durch stupide Witze und Fabeln aufzuheitern. Die anderen versuchen sich ebenfalls darin, doch die Unterhaltung schlägt in ungezügelte, nervöse Überspanntheit um, die sich letztendlich in einem wilden Durcheinander von Sprichwörtern, Sätzen und Wörtern mit gleichen Silben (z.B. ka, ca) und gleichem Klang, nur noch aus sinnlosen Wortassoziationen bestehend, entlädt. Zum Schluß endet alles in einem ekstatischen Chor, der den Satz "C'est pas par là, c'est par ici" wiederholt. Dies hört plötzlich auf, und nun befinden sich alle wieder am Anfang des Stückes. Es beginnt genau so, wie es angefangen hat, nur mit veränderten Rollen: die Martins sind nun anstelle der Smiths in der ersten Szene. Der Vorhang senkt sich langsam.
Der Titel weist auf keine Hauptperson hin. Die kahle Sängerin wird nur ein einziges Mal erwähnt (in Szene 10): Der Feuerwehrhauptmann fragt Mrs. Smith unvermittelt: "A propos, et la Cantatrice chauve?", woraufhin peinliches Schweigen eintritt. Mrs. Smith antwortet: "Elle se coiffe toujours de la même facon!". Die ganze Handlung besteht nur darin, daß die Martins aus Manchester die Smiths in der Nähe von London besuchen und daß gleichzeitig der Feuerwehrhauptmann vorbeikommt. Es gibt keine "Intrige", keine psychologischen Entwicklungen, keine Motive und auch kein sinnvolles Ende der Handlung. Erst nach der 100. Aufführung hatte Ionesco den Einfall, die Austauschbarkeit der Personen zu verdeutlichen, indem er das Stück von vorne beginnen ließ und die Rollen der Martins und Smiths tauschte. Ionesco wollte dieses Stück in Gegensatz zu den "comédies de salon" setzen.
Angeblich kam Ionesco nur dadurch zum Stückeschreiben, indem er selbst begann, Englisch zu lernen. Die Lehrbuchmonologe der Methode Assimil hätten ihn inspiriert mit ihren Wiederholungen, Gemeinplätzen, den unnatürlichen Sprachmustern zur Auseinandersetzung mit Alltagssituationen (dem sog. "pattern-practice"), den Klischees. Dies fand er zum Teil so absurd, daß er es zur Sprache bringen mußte, und sein erstes Stück, das zunächst den Titel "L'Anglais sans peine" tragen sollte, schrieb. Zum Titel kam er nur dadurch, daß ein Schauspieler sich versprach und anstatt "institutrice blonde" einmal "cantatrice chauve" sagte.
Absurde Komik und Theatertechnik:
Welchen Einfluß haben nun diese seltsamen Lehrbuchmonologe auf das Stück? Wie sind sie eingebaut? 1. erscheinen die beiden Ehepaare wie die typischen, farblosen Lehrbuchfamilien, 2. ist ihre Charakterisierung bereits durch Ionesco vorweggenommen: er bezeichnet sie als "typisch englisch" (s. Regieanweisung zu Beginn), 3. sind auch ihr Verhalten und ihre Vorurteile "typisch englisch" (z.B. Zeitunglesen, Marine). 4. Wiederholungen oder "pattern practice" tauchen z.B. in Marys Gedicht auf (Szene 9: "prit feu") auf oder in Szene 4 (hohes komisches Niveau à la Molière): "Comme c'est curieux", "comme c'est bizarre", "c'est possible", Standarderklärungssätze wie "J'ai pris le train..." oder "Je voyageais en deuxième classe, Madame. Il n'y a pas de deuxième classe en Angleterre, mais je voyage quand même en deuxième classe." 5. Ionesco gibt in den Regieanweisungen an, daß z.B. ein Dialog mit monotoner Stimme gesprochen werden soll, wie die Schülerstimmen, die "trocken" etwas rezitieren müssen.
Welches sind die komischen Mittel, die Ionesco noch verwendet, und die die Absurdität verdeutlichen? 1. Der Gebrauch von Gegensätzen (z.B.: die Smiths sagen, sie wollen sich umziehen und tun es doch nicht), 2. das Motiv der verkehrten Welt (Bsp.: der Feuerwehrhautmann hofft, daß Brände entstehen, nicht daß sie gelöscht werden), 3. die absurden Fabeln (Szene 8; die elementaren Lebensweisheiten sind völlig sinnlos, die Fabeln sollen aber sogar wahr, naturgetreu und selbst erlebt sein), 4. die absurden Verwandtschaftsverhältnisse (Bobby Watson), 5. das Wecken von Spannung, die sich in nichts auflöst, 6. die Verstöße gegen die Logik, 7. die Verwechslungen, 8. die kurzen Nonsens-Sätze.
Die Schlußszene: sie enthält eine Steigerung, die sich vom Sprechen beziehungslos aufeinanderfolgender kurzer Nonsens-Sätze und Sprichwörter bis hin zu Sätzen, die sich um Silben und Laute wie ka und ou gruppieren, zu Namenfetzen und Buchstaben zieht, um in einem einzigen gemeinsamen stakkatoartigen Papperlapapp endet, gleichzeitig akzentuiert durch die Schläge der Pendeluhr. Die Sprache wird hier auf ihre akustische Dimension reduziert, sie ist zu keiner Kommunikation mehr zu gebrauchen. Sie tönt wie ein Musikstück, das sich vom Crescendo bis zum Fortissimo hinzieht und dann erstirbt.
In seinem ersten Stück hat Ionesco sein Anliegen noch mit einem gewissen Humor zu verdeutlichen versucht. Es ist noch nicht die Geschmacklosigkeit des "Nouveau locataire" erreicht. Auch die düstere Dimension in "La lecon" kommt hier noch nicht zum Vorschein (die Autorität und Terrorisierung des Lehrers mit anschließendem Mord der Schülerin). Ionescos Verwandtschaft mit den Existentialisten zeigt sich, wenn Ionesco davon spricht, daß er sich nie ganz an die Existenz hat gewöhnen können, weder an die der anderen noch an seine eigene, und daß er manchmal sein Leben wegwerfen könnte und er meint, daß nur ein Narr noch hoffen könne. Die Absurdität der Existenz, dieses lähmende Gefühl, hat er allerdings doch bekämpft: nämlich mit seinen Stücken, denn er sagt selber, daß die Absurdität, die Unwahrscheinlichkeit des Alltäglichen und der Sprache zu empfinden bereits hieße, sie überwunden zu haben. Er wollte die Absurdität des gesellschaftlichen Lebens dem Zuschauer bewußt machen und zu ihrer Überwindung im freien Gelächter beitragen. Das Stück ist also Darstellung und Mittel zugleich: nämlich Mittel, einer Existenz zu entrinnen, die automatenhaft, mechanisch und unpersönlich geworden ist. Ionesco weiß, daß das Mittel des Komischen in Form des überraschenden Ungewohntem und Banalem (das Alltagsgeschwätz) zu diesem Ziel hervorragend beiträgt. In der Karikatur kann der Zuschauer sich selbst erkennen.
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